Das Ende der Unschuld

Izzet Celasins Roman "Schwarzer Himmel, Schwarzes Meer" rührt an ein Tabu der Türkei: die bürgerkriegsähnliche Zeit der 1970er Jahre. Celasin, der mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte, spricht mit Amin Farzanefar über sein Exil in Norwegen und die 68er Bewegung in der Türkei.

Izzet Celasins Roman "Schwarzer Himmel, Schwarzes Meer" rührt an ein Tabu der Türkei: die bürgerkriegsähnliche Zeit der 1970er Jahre. Celasin, der mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte, spricht mit Amin Farzanefar über sein Exil in Norwegen und die 68er Bewegung in der Türkei.

Bild Izzet Celasin; Foto: Christian Elgvin
"Gibt es überhaupt gute Gewalt?", fragt Izzet Celasin. Seine Romanfigur Baris zeigt eine Alternative: Rückzug, sich nicht involvieren, ohne Rachegefühle.

​​ Wie kamen Sie eigentlich nach Norwegen?

Izzet Celasin: Als politischer Quotenflüchtling. Ich war nach vielen Abenteuern von der Flüchtlingskommission in Belgrad akzeptiert worden, hatte dann anderthalb Jahre im Transit in Jugoslawien verbracht, und wurde im Dezember 1988 von Norwegen aufgenommen.

Ich kannte Ibsen, Hamsun und Amundsen, das war es im Wesentlichen. Vom ersten Tag an lernte ich die Sprache – in Jugoslawien hatte ich erfahren, dass man ohne die Landesprache aufgeschmissen ist. Ich meldete mich an einer Sprachschule für Flüchtlinge und Migranten an, lieh mir in der Osloer Bibliothek Bücher und Kassetten, und nach drei Monaten konnte ich halbwegs kommunizieren.

Hatten Sie Kontakt zu anderen Türken?

Celasin: In Norwegen leben insgesamt 12.000 bis 13.000 Türken, in Oslo sind es ungefähr 5.000, aber diese Kontakte waren für mich nicht wichtig. Wenn man ins Exil geht, muss man sich an das Gastgeberland anpassen, oder man bleibt in seinem Ghetto.

Gegenwärtig gibt es eine Debatte um das Erbe der 68er. Das ist auch der Hintergrund Ihrer Geschichte…

Celasin: Als ich mich entschied, über die Vergangenheit zu schreiben, rechnete ich mir keine großen Chancen in Norwegen aus, aber zu meiner Überraschung zeigte man sich sehr angetan und interessiert. Der Roman ist ein Tribut an meine Generation, die wir in der Türkei als "78er" bezeichnen – 1968 reichte ja bis in die Achtziger hinein, auch in Deutschland, wenn man die RAF dazu nimmt, oder die Roten Brigaden in Italien.

Ist das also mehr oder weniger Ihre eigene Geschichte?

Celasin: Das Buch beginnt mit der Mai-Demonstration, am Tag der Arbeit 1977, und einem jungen Mann, der sich mit der Menge zum Taksimplatz treiben lässt. Nach ungefähr zehn Seiten stoppte ich, und entschied, dass es keine Autobiografie sein sollte. Und unmittelbar nach der Schießerei auf dem Taksim, taucht also eine junge Frau auf, die Antagonistin des Helden, und damit wurde es ein Roman.

​​Der Roman behandelt die Auseinandersetzung zwischen Gewalt und Idealen. Die Gewalt traumatisiert ihre Protagonisten, lenkt ihre Biografien und verändert sie. Aber der Erzähler, der junge Mann, verweigert sich dieser Gewalt, seine Entwicklung ist eine innere Reifung, auf persönlichen Erfahrungen beruhend, keine erzwungene.

"Baris" bedeutet "Frieden", und er ist für Frieden. Aber ist das das Richtige? In diesem Land, zu dieser Zeit? Ich diskutiere das gemäß dem dialektischen Materialismus, nach dem alles mit allem zusammenhängt. Baris' Vater ist Fabrikarbeiter, aber er bekommt die Chance eine höhere Schule zu besuchen, etwas aus sich zu machen und die Klasse zu wechseln. Und er kann sich mit der Arbeiterklasse nicht identifizieren, kein Teil der Revolution werden, seine einzige Verbindung ist Zuhal, dieses Mädchen, dem er folgt, ohne zu wissen, warum, und die die Gabe hat, Menschen zu beeinflussen…

Er ist immer unter Einfluss. Zwar hält er sich für einen Dichter, aber die Mädchen seiner Umgebung können besser dichten, und überhaupt alles besser als er.

Celasin: Er ist kein sehr starker Charakter, aber loyal, liebesfähig, und er respektiert die Frauen, was sie sehr mögen. Er ist charmant, witzig und er kann erzählen. Und durch ihn erzähle ich über die Liebe, über ihre unterschiedlichen Spielarten: Bei seiner ersten Liebe ist er 17 und sie 15, Ayfer kommt aus einer Arbeiterfamilie, und er geht auf eine gute Schule.

Der Roman bezieht sich nicht nur auf Marx, sondern auch auf die alten türkischen Filme: Der reiche Junge und das arme Mädchen – oder umgekehrt. Zuhal ist seine Herausforderung, der er folgt, um mehr über sich herauszufinden. Diese unerfüllte Liebe deprimiert ihn ungemein, er weiß fast nichts über sie; sie hingegen kennt ihn, hat aber ihre Prioritäten geklärt.

Da ist also die Sphäre des Privaten und des Politischen, und nicht immer spiegelt das Individuum seinen sozioökonomischen Hintergrund. Das sind zwei Vektoren, die oft gegenläufig sind.

Celasin: Genau das zeige ich: Zuhal will den politischen Verlauf vorantreiben, und Baris liebt den Garten seiner Professorin. Aber im Garten hört er Bomben explodieren, und weiß, dass draußen etwas vor sich geht. Er besucht die Hochzeit seines Freundes, des Soldaten, betrinkt sich und hat Spaß, doch als er aufwacht, ist kein Schiff auf dem Bosporus, kein Auto auf den Straßen, erst dann begreift er, dass sich der Putsch ereignet hat – nach einer Hochzeit, von der er einen gewaltigen Kater davongetragen hat.

Ist Ihr Buch auf Türkisch erschienen?

Celasin: Es gibt keine Pläne und keine Anfragen von türkischen Verlagen; das wäre aber auch ein Übersetzungsproblem: Denn wenn ich es selber übersetzte, wäre das eine Neufassung. Aber es ist jetzt auf Englisch erschienen, und demnächst erscheint das Buch auch auf Spanisch. Die norwegischen Leser sagten: "Wir können uns mit den Charakteren identifizieren, in den Siebzigern war es bei uns ganz ähnlich".

Ich glaube, den Deutschen wird es genau so gehen. So belebt mein Roman auch die Diskussion um den politischen Roman, der lange Zeit vergessen war: Die Postmoderne hat das epische Schreiben verdrängt, aber jetzt kommen all diese Diskussionen zurück.

Viele, die sich jetzt dazu äußern, zeichnen ein falsches Bild: "Oh, wir waren so unschuldig, und diese Faschisten haben uns zerschlagen und gefoltert." Doch wenn du eine Revolution machen willst, dann lässt du deine Unschuld zu Hause, weil du an die Macht willst!

Und es gibt immer Leute, die zwischen guter und schlechter Gewalt unterscheiden: "Gute Gewalt ist unsere, schlechte ist die der anderen."

Celasin: Das wollte ich darlegen: Gibt es überhaupt gute Gewalt? Dafür habe ich Baris: Er zeigt eine Alternative – Rückzug, sich nicht involvieren. Du sitzt in der Tribüne und beobachtest das Spiel. Gewalt ist ein zentraler Punkt in meinem sonst sehr romantischen Buch.

Es geht um einen Helden, der sich für keine Seite entscheiden möchte, und eben damit entscheidet er schon..

Celasin: Vor allem wollte ich Gewalt nicht romantisieren. Rache ist sehr gefährlich: "Ermordest Du meinen Genossen, dann ermorde ich deinen Genossen" – es gab sehr viele dieser Gedanken in der Türkei. Baris wird angeschossen, aber er trachtet nicht nach Rache. Und das ist auch eine Option.

Interview: Amin Farzanefar

© Qantara.de 2009

Izzet Celasin, Schwarzer Himmel, schwarzes Meer, Kiwi, 2008

Izzet Celasin, geboren 1958 in Istanbul, war in seinem Heimatland linker Aktivist und saß nach dem Militärputsch 1980 mehrere Jahre im Gefängnis. 1988 kam er als politischer Flüchtling nach Norwegen und arbeitet als Dolmetscher in Oslo. Schwarzer Himmel, schwarzes Meer ist sein erster Roman.

Qantara.de

Izzet Celasin: "Schwarzer Himmel, schwarzes Meer"
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