Moderne Lebenswelten junger Türkinnen

In ihrem neuen Buch "Typisch Türkin. Porträt einer neuen Generation" hat die Journalistin Hilal Sezgin die Lebenswelten von 19 Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren aufgezeichnet. Petra Tabeling hat sich mit der Autorin unterhalten.

In ihrem neuen Buch "Typisch Türkin. Porträt einer neuen Generation" hat die Journalistin Hilal Sezgin die Lebenswelten von 19 Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren aufgezeichnet. Petra Tabeling hat sich mit der Autorin unterhalten

Hilal Sezgin, Foto: &copy Hoffmann & Campe Verlag
Deutsche und Türken wissen manchmal erschreckend wenig voneinander, meint die Publizisten Hilal Sezgin

​​Was hat Sie dazu motiviert, ein Buch über die Lebenswelten junger Türkinnen in Deutschland zu schreiben?

Hilal Sezgin: Eigentlich war es eine Idee des Verlages. In letzter Zeit sind viele Bücher zum Thema Türkinnen erschienen, aber eher in Richtung "Frauen als Opfer des Patriarchats". Da haben wir uns überlegt, auch mal etwas anders zu machen - über Frauen, die nicht sofort in die Opferecke gedrängt werden.

Wir hätten auch das andere Extrem, das heißt Erfolgsgeschichten von deutsch-türkischen Karrierefrauen, machen können, aber das wollten wir auch nicht. Uns lag vielmehr daran, die Vielfalt der Lebenswelten darzustellen. Und deshalb habe ich mich auch für die essayhafte Form entschieden und zu den verschiedenen Stichwörtern wie Religion, Pubertät oder Familie verschiedene Frauen zu Wort kommen lassen und sie dabei gerade nicht über einen Kamm zu scheren.

Gab es keinerlei Schwierigkeiten, mit den Frauen offen über Themen wie Religion, Sex oder Familie zu sprechen und dies zu veröffentlichen?

Sezgin: Ich habe nur in zwei Fällen erlebt, dass Frauen nicht mit mir sprechen wollten. Sie haben sich abwehrend verhalten – nach dem Motto: Nicht schon wieder diese Kopftuchdebatte! Dabei ging es mir gar nicht ums Kopftuch. Aber andere Frauen hatten damit keinerlei Probleme. Sie waren sehr offen.

Welche Rolle spielte das Kopftuch im Leben der Frauen, die Sie porträtiert haben?

Sezgin: Das waren ganz unterschiedliche Ansätze. Da ist z. B. eine Anwältin, eine sehr eloquente, gebildete Muslimin. Für sie gehört das Kopftuch einfach zu ihrem Leben dazu. Ich habe fast ein ganzes Kapitel über sie geschrieben, weil sie einfach sehr interessant ist. Sie hat mich selbst überrascht, z. B. sieht sie sich als überzeugte Feministin. Aber ich habe mich auch mit so genannten "Importbräuten" unterhalten, aus Anatolien. Diese Frauen trugen teilweise auch aus Sitte das Kopftuch.

Welchen Stellenwert nimmt die Religion im Leben der Musliminnen ein, die sie in dem Buch vorstellen?

Sezgin: Es gibt Frauen, denen die Religion völlig egal ist – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Entweder sind sie nicht damit aufgewachsen oder sie haben sich davon entfernt, wie man das auch von deutschen Christen oder Ex-Christen kennt. Es gibt aber sehr viele Frauen, die auf irgendeine Weise religiös waren.

Das hat mich selbst überrascht. Frauen, die zwar sehr religiös waren, aber die Mischformen pflegen, z. B. aus dem Sufismus oder aus der Meditation oder die Annemarie Schimmel lesen und daraus ihre Inspiration schöpfen. Es ist also keine ungetrübte Form von Religion, sondern eher eine zusammen gebastelte Religion und kein Dogma.

Inwiefern unterscheiden sich denn nun die Lebenswelten von türkischen und deutschen Frauen gleichen Alters? Und kann man so eine Frage überhaupt stellen?

Sezgin: Eigentlich mag ich solche Überlegungen nicht, denn dann muss ich Verallgemeinerungen treffen und ich scheue mich das zu tun. Ich habe das Buch geschrieben, um keine Verallgemeinerungen zu treffen. Nach dem Motto: "Ah, die sind so und so, während wir das aber ganz anders handhaben". Ich hoffe, dass man bei der Lektüre des Buchs erkennt, dass es sich um Individuen handelt. Dass man bei Ihnen Ähnlichkeiten erkennt oder in ihnen etwas sieht und findet, was man noch nicht kannte.

Warum erfahren diese unterschiedlichen Lebenswelten nicht die erwünschte Resonanz bei den Medien, wieso werden sie nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Sezgin: Das ist wirklich ein Problem. Medien haben ja ein Interesse an schlechten Nachrichten, an dem funktionellen Alltag allerdings weniger. Das ist nichts Berichtenswertes. Deswegen stürzen sich Medien automatisch auf die negativen Schlagzeilen. Es gibt zwar Sendeplätze, wo man auch etwas anderes sieht, aber die sind rar. Das ist das eine. Aber auch Medienbilder verfestigen sich. Man braucht das Kopftuch, den Unterschied, in den Bildern.

Es ist aber nicht eine Frage der Medien, sondern der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Ich glaube, dass Deutsche und Türken manchmal erschreckend wenig voneinander wissen. Und das kommt nicht von den Medien, sondern davon, dass sie das Zusammenleben noch nicht ganz hinbekommen haben.

Ein "Kampf der Kulturen" spiegelt sich in Ihren deutsch-türkischen Lebensgeschichten aber nicht wider...

Sezgin: Aus irgendeinem Grund werden in diesem Jahr 2006 unglaublich viele Themen wie der Afghane, der zum Christentum konvertiert ist und dem nun in Afghanistan der Tod droht, oder der Schulhofstreit in eine Schublade eingesteckt, die mit dem Etikett "Kulturkampf" versehen wird. Es wird ja auch alles unter dem Überbegriff "Islam" gefasst. Ich finde, dass es in den letzten Monaten extremer geworden ist. Politiker streiten sich über Integration und mir ist noch nicht klar, warum. Doch was wird da wirklich debattiert und verhandelt?

Klischees, die in Ihrem Buch nicht zum Tragen kommen...

Sezgin: Das stimmt. Natürlich geht es auch darum, wie man sich fühlt und wie man betrachtet wird - als Türkin oder als Muslimin. Aber es ist ein Thema unter vielen. Das Buch hat keinen Thesenartigen Anspruch. Ich habe einfach die Hoffnung, dass es ein paar Frauen berührt, dass man das Gefühl hat, ein gutes Buch zu lesen und das was hängen bleibt.

Was halten Sie von den Lebenswelten türkischer Musliminnen, wie sie beispielsweise Necla Kelek in ihren Veröffentlichungen darstellt?

Sezgin: Genau so etwas wollte ich eben nicht machen. Das ist ungerecht gegenüber Individuen, und es führt auch nirgendwo hin. Es geht dort ja um patriarchale und sexuelle Gewalt und natürlich ist es wichtig, dass man darüber spricht und publiziert. Aber Kelek operiert sehr stark auf den Vorurteilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegen die Einwanderer. Und ich finde es nicht gut, wenn man auf diesen Zug aufspringt. Ich hoffe, dass mein Buch da etwas entgegen setzt.

Interview: Petra Tabeling

© Qantara.de 2006

Hilal Sezgin, geboren 1970 in Frankfurt, hat die deutsche und türkische Staatsangehörigkeit. Sie studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik
und arbeitet heute als Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". "Der Tod des Maßschneiders" ist ihr erster Roman. Im Juni 2005 erhielt sie den Nachwuchspreis des Journalistinnenbundes.

​​Hilal Sezgin: "Typisch Türkin. Porträt einer neuen Generation". Herder Verlag 2006. 12,90 Euro. ISBN 3-451-28875-3

Qantara.de

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