"Ich weiß nicht, wie man Mohammed beleidigen kann"

Der muslimische Religionspädagoge Harry Harun Behr wirbt für Offenheit in der Theologie. Er lehrt aber nicht nur, sondern engagiert sich auch in der Salafismus-Prävention. Mohammed-Karikaturen lassen ihn kalt. Mit Harry Harun Behr sprach Stefan Toepfer.

Von Stefan Toepfer

Ist es im Islam leichter, Gewalt zu legitimieren als in anderen Religionen?

Harry Harun Behr: Im Gegenteil: Es ist schwerer.

Manche Passagen im Koran lesen sich aber wie ein Aufruf zu Gewalt.

Behr: Wenn man sie isoliert betrachtet, ja. Zum Beispiel Sure 5,33 und folgende, die jenen Gewalt androht, die gegen Gott und seinen Propheten in den Krieg ziehen. Was dort steht, ist brutal. Aber jede Koran-Hermeneutik verbietet es, Stellen aus ihrem Kontext herauszugreifen.

Aber selbst wenn man den Kontext berücksichtigt, bleibt die Brutalität doch.

Behr: Oder das Gegenteil. Der Vers 5,32 unterstreicht die Zweischneidigkeit der Rechtfertigung von Gewalt mit Verweis auf das mosaische Gesetz. Und in Vers 5,28 verzichtet Abel auf Gegenwehr, als Kain die Hand gegen ihn erhebt. Zusammengenommen ist das alles eher eine Weisung, darüber nachzudenken, was man tut. Außerdem geißelt Mohammed den Krieg. Schon er hatte mit jungen Leuten zu tun, die ihren Kampfesmut gerne unter Beweis gestellt hätten.

Koranausgaben foto dapd
Harry Harun Behr: „Sehr viele Muslime verstehen unter islamischer Theologie die Deutung der gegenwärtigen Situation aus der Tradition, aus Koran und Sunna. Theologie dient jedoch auch dazu, die Tradition aus dem Blickwinkel der Situation zu betrachten und umzuformulieren. Der Koran gibt uns weniger Regeln vor, sondern vielmehr Richtungen. Man muss den Koran weiterlesen“.

Im vergangenen Herbst hat der syrische Gelehrte Jawdat Said auf der Grundlage des Koran erneut die Idee aufgeworfen, eine Theologie der Gewaltlosigkeit zu formulieren. Vor allem in den Gewalt-Passagen zeigt der Koran seine historische Signatur, und man muss ihn als Diskursdokument der Spätantike lesen, auch wenn man daran glaubt, dass es das Wort Gottes ist. Das haut nicht so gut hin bei jungen muslimischen Zielgruppen. Und das muss man theologisch bearbeiten.

Wie?

Behr: Sehr viele Muslime verstehen unter islamischer Theologie die Deutung der gegenwärtigen Situation aus der Tradition, aus Koran und Sunna. Ich meine, Theologie dient auch dazu, die Tradition aus dem Blickwinkel der Situation zu betrachten und umzuformulieren. Der Koran gibt uns weniger Regeln vor, sondern vielmehr Richtungen. Man muss den Koran weiterlesen.

Was sagen denn Ihre Studenten dazu?

Behr: Es gibt solche, die diese Sichtweise dankbar annehmen. Andere nehmen mich als Konvertiten anfangs nicht ernst. Denen sage ich: Entschuldigung, Mohammed war auch Konvertit. Und dann gibt es welche, die nicht zuhören und das Seminar absitzen. Aber es kommt durchaus zu spannenden Debatten, wenn die "härtere Fraktion" sieht, dass ich nicht nur scheinbar progressive Thesen vertrete, sondern mit ihnen bete oder faste. Die meisten unserer Studenten haben weniger ein akademisches Erkenntnisinteresse, sondern ein religiöses Orientierungsinteresse.

Wofür eine Uni der falsche Ort ist.

Behr: Ich sehe das auch sehr kritisch. Natürlich darf und soll man spirituelle Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung in einem theologischen Studiengang reflektieren - gerade mit Blick auf Religionslehrer. Aber die Studenten dürfen sich nicht an mir „festsaugen“. Viele junge Muslime haben ein wahnsinniges Bedürfnis, einer religiösen Lehrmeinung zu folgen, statt sich selbst eine zu bilden. Wie sollen die später Religionsunterricht gemäß den Curricula erteilen, in denen es heißt, jener Unterricht solle nicht Glauben vermitteln, sondern zum Glauben befähigen? Das ist ein großer Unterschied.

Wird der Kampf um die Deutungshoheit über den Koran an Schärfe zunehmen?

Behr: Ja. Ein Indiz dafür sind die wiederkehrenden Angriffe etwa gegen das Schulbuch "Saphir" oder gegen muslimische Hochschullehrer, die es wagen, einmal in eine andere Richtung zu denken. Mir wurde einmal von einem muslimischen Verbandsfunktionär zugerufen, islamische Religionslehrer sollten nicht debattieren, sondern funktionieren. Hier wird versucht, jungen Muslimen zu befehlen, was sie unterrichten dürfen. Das ist sehr bedenklich. Wir können als Wissenschaftler mit Blick auf Schule und Sozialarbeit alles Mögliche gebrauchen, nur keine negative Bevormundung von religiösen Pressure-Groups.

Wie ist es in Hessen?

Behr: Zum Glück anders. Die Leute im Ditib-Landesverband und der Ahmadiyya-Gemeinde sind sehr vernünftig. Das war auch einer der Gründe für mich, hierherzukommen.

Sehen Sie also eine Chance für Ihre Art, an den Koran heranzugehen?

Behr: Sonst wäre ich nicht hier. Gerade mit Blick auf die Schule. Mir ist aber auch wichtig, stärker in die sozialen Milieus von jungen Muslimen zu gehen. Gemeinsam mit Bekim Agai, dem Direktor des Instituts für Islamische Studien, und einem freien Träger für Präventionsarbeit haben wir ein Projekt zur Vorbeugung von Radikalisierung an Land gezogen. Es beginnt im März, wird vom Bundesfamilienministerium für fünf Jahre mit insgesamt 800.000 Euro gefördert. Wir wollen mit Hilfe der Moscheegemeinden junge Muslime gewinnen und ausbilden, die dann in Jugendmilieus gehen oder zu Auftritten salafistischer Prediger wie Pierre Vogel. Denn wir wollen uns den Koran von Männern wie ihm nicht aus der Hand nehmen lassen. Meine Aufgabe ist es, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten, um eine Pädagogik für dieses Feld zu entwickeln. Man muss unterscheiden: Salafismus als reine Jugendkultur gefährdet junge Leute noch nicht direkt, sehr wohl aber der politische Salafismus, in dem Ideologisierung stattfindet.

Aber ist nicht schon jene Jugendkultur ein möglicher Beginn einer Radikalisierung?

Behr: Deswegen wollen wir ja in diese Milieus gehen. Es gibt einen bestimmten Punkt, an dem Eltern, Gemeinden und Schule verhindern können, dass junge Menschen völlig aus dem Ruder laufen. Dafür müssen sie unter anderem in einem echten Sinn religiös angesprochen werden, nicht mit einem scheinbar religiös aufgeladenen Vokabular à la Vogel. Hier ist der Islam nicht Problemursache, sondern Teil der Lösung. Das wird gegenwärtig kaum verstanden, wo der Islam ständig als Problemursache dämonisiert wird. Ich habe große Angst, dass eine Spirale in Gang gesetzt ist, in der wir weder mit Pädagogen noch mit Sozialarbeitern etwas ausrichten können.

Haben Sie sich von den Mohammed-Karikaturen in "Charlie Hebdo" verletzt gefühlt?

Behr: Nein. Mein Vater ist Feuilletonist, ich bin mit Karikaturen, Theater und Kino aufgewachsen. Ich weiß nicht, wie man Mohammed beleidigen kann. Und kann man Gott beleidigen? Ich finde, diese Unterstellung ist eine Beleidigung! Aber ich kann auch verstehen, wenn Muslime sich in ihrem Innersten verletzt fühlen.

Müssen Gläubige Spott nicht hinnehmen?

Behr: Ja, aber vielleicht gehört zur Freiheit der Meinungsäußerung, der Kunst, der Presse auch ein Blick auf das Grundrecht der Freiheit des religiösen Bekenntnisses. Dann gäbe es weniger Konflikte. Und in Sure 6, Vers 108 steht: "Schmäht nicht das, woran die anderen glauben, damit sie nicht aus Unwissenheit Gott und euch schmähen." Muslime sollen also ordentlich über Religion reden oder es lassen. Darin sehe ich ein Ethos, das allgemein gelten sollte.

Interview: Stefan Toepfer

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015

Harry Harun Behr, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Islam an der Goethe-Universität in Frankfurt.