Trend zum "persönlichen Dschihad"

Im Gespräch mit Paul Hockenos berichtet der Terrorismusexperte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik über den jüngsten Strategiewandel von Al-Qaida und die gegenwärtigen Aktivitäten deutscher Dschihadisten.

Von Paul Hockenos

Herr Steinberg, Ihr neues Buch ist die erste umfassende Monographie zum Thema islamistischer Terrorismus in Deutschland. Seit wann kann man von einer Dschihadisten-Szene in Deutschland sprechen?

Guido Steinberg: Die deutsche Dschihadisten-Szene hat sich erst seit 2006 entwickelt. Natürlich gab es zuvor die Hamburger Zelle, der auch der Drahtzieher und die Piloten der Anschläge vom 11. September entstammten, aber das waren Ausländer, die zum Studium nach Deutschland gekommen waren. Sie wurden in ihren Heimatländern sozialisiert, darunter in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und im Libanon. Das Aufkommen einer originär deutschen Dschihadisten- Szene setzte erst ab 2005 ein, als in Deutschland lebende Kurden, Türken und deutsche Konvertiten sich dem Islamismus zuwandten.

Nun ließe sich die Behauptung aufstellen, dass Deutschland zu den wenigen westlichen Ländern zählt, die bislang  von islamistischen Terroranschlägen verschont wurden. Teilen Sie diese Auffassung?

Steinberg: Nun, es erfolgte bislang tatsächlich nur einen Angriff, verübt von einem Einzeltäter. 2011 erschoss er zwei US-amerikanische Militärangehörige am Flughafen Frankfurt am Main. Allerdings existierten Pläne für weitaus größere Anschläge, nur wurden diese alle rechtzeitig vereitelt.

Zudem spielten deutsche Dschihadisten eine bedeutende Rolle innerhalb internationaler Netzwerke und bei Anschlägen, wie eben auch die vom 11. September. Auch an der Entwicklung neuer Strategien von Al-Qaida, wie etwa Europlot aus dem Jahr 2010, an dem sie maßgeblich beteiligt waren. Damals wurden europäischstämmige Rekruten wieder zurück nach Europa geschickt, um neue Strukturen aufzubauen und Anschläge in Deutschland und anderen Ländern zu verüben. Möglicherweise war das seinerzeit der letzte Versuch der Zentrale Al-Qaidas, als effektive Terrororganisation zu überleben. Alles in allem denke ich, dass die deutschen Dschihadisten noch bis vor kurzer Zeit unterschätzt wurden.

Guido Steinberg; Foto: DW
Guido Steinberg: "die deutsche Öffentlichkeit neigt dazu, die Wichtigkeit der deutsch-amerikanischen Kooperation in der Geheimdienstarbeit zu unterschätzen. Es gibt mehr als nur den einen Fall der Sauerland-Gruppe, in dem es die Erkenntnisse des US-amerikanischen Geheimdienstes waren, die es den deutschen Sicherheitsbehörden ermöglichten, bestimmte Anschläge zu vereiteln."

Und doch passierte in Deutschland nichts Vergleichbares zu den Anschlägen vom 11. September oder zu denen Attentaten von London und Madrid. Liegt das daran, dass der deutsche Geheimdienst und die Terrorismusabwehr so gut arbeiten?

Steinberg: Im Gegenteil! Auch wenn der deutsche Geheimdienst nicht so schlecht ist, wie einige es glauben machen wollen, spielt er doch nicht in der gleichen Liga wie etwa der französische, britische oder US-amerikanische Geheimdienst.

Zu der Zeit der Angriffe auf das World Trade Center waren nur die USA und ihre Verbündeten im Nahen Osten mögliche Angriffsziele. Nach 2003 wurde Deutschland nur kurze Zeit verschont, weil es nicht am Irakkrieg teilnahm, der damals als entscheidender Faktor für die Radikalisierung war und eine herausragende Rolle bei den Anschlägen in London 2005 und Madrid 2004 spielte.

Die Deutschen dachten damals schon, dass sie nie ins Fadenkreuz der Terroristen rücken würden, doch im Jahr 2006 wurde die militärische Präsenz der Deutschen in Afghanistan auch für die Dschihadisten immer deutlicher, da auch der Aufstand der Taliban an Intensität zunahm. Mit diesen verstärkten Bemühungen, ihren Einfluss in Afghanistan wieder zu deutlich zu machen, zwangen die Taliban die Deutschen zur Gegenwehr, was ihre militärische Präsenz zu einem immer wichtigeren Thema machte. Eine wachsende Zahl von deutschen Rekruten schloss sich dschihadistischen Organisationen in Pakistan und Afghanistan an, was das Augenmerk wiederum auf die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan lenkte und Al-Qaida und ihre verbündeten Gruppierungen schließlich dazu veranlasste, auch Deutschland als Anschlagsziel ins Auge zu fassen.

In ihrem Buch berichten Sie davon, wie die amerikanische National Security Agency (NSA) dem deutschen Geheimdienst die Informationen lieferte, die 2007 zur Aufdeckung der potentiell gefährlichsten Bombenanschläge führten, die damals in Deutschland geplant wurden, nämlich die der sogenannten Sauerland-Gruppe. Kamen diese Erkenntnisse auch mithilfe des US-Spionageprogramms "Prism" zustande, das in Europa und weltweit für Schlagzeilen sorgte?

Mitglieder der Sauerland-Gruppe vor Gericht; Foto: AP
Überwacht von der CIA: Als Sauerland-Gruppe waren drei Islamisten bekanntgeworden, die im Herbst 2007 bei dem Versuch aufflogen, den Sprengstoff für Anschläge in Deutschland zu mischen. Der Düsseldorfer Zelle werden vier Männer zugerechnet, die 2011 in Düsseldorf und Bochum festgenommen worden waren.

Steinberg: Dazu kann ich nichts sagen, da ich bis zu den Enthüllungen durch Edward Snowden von "Prism" noch nichts gehört hatte. Geheimdienstmitarbeiter haben mir allerdings berichtet, dass die Informationen, die zur Ergreifung der Sauerland-Gruppe führten, unserem Auslandsgeheimdienst in der Tat von der NSA geliefert worden waren. Dieses Detail hat in Deutschland nun eine neue Bedeutung gewonnen, ist es doch ein wichtiger Beleg dafür, dass vom amerikanischen Geheimdienst, also möglicherweise auch durch die Operation "Prism", gesammelte Informationen deutsche Leben gerettet haben.

Ich denke, die deutsche Öffentlichkeit neigt dazu, die Wichtigkeit der deutsch-amerikanischen Kooperation in der Geheimdienstarbeit zu unterschätzen. Es gibt mehr als nur diesen einen Fall, in dem es die Erkenntnisse des US-amerikanischen Geheimdienstes waren, die es den deutschen Sicherheitsbehörden ermöglichten, bestimmte Anschläge zu vereiteln.

Ähnlich wie das Überwachungsprogramm der USA sind auch die von Regierungen Bush und Obama verantworteten Drohnenangriffe hier in Europa sehr umstritten. Glauben Sie, dass auch die Drohnenangriffe eine Radikalisierung der Dschihadisten-Szene in Deutschland und Europa zur Folge haben könnten?

Steinberg: Die Drohnenangriffe spielen hier in der Tat eine wichtige Rolle. Die meisten deutschen Rekruten kamen in die pakistanischen Stammesgebiete im Jahr 2009, als der Drohnenkrieg unter dem damals gerade neu gewählten Präsidenten Obama einen Höhepunkt erreichte. In der Folge beschloss Al-Qaida, einen Großteil seiner Kämpfer noch im Jahr 2010 aus Pakistan abzuziehen und schickte einige der europäischen Dschihadisten nach Europa zurück, um hier neue Strukturen aufzubauen und Anschläge vorzubereiten.

Diesen Plan nannte man Europlot. Mit einer Ausnahme – dem Fall des Franzosen Mohammed Merah – konnten alle in diesem Rahmen geplanten Anschläge aufgedeckt und verhindert werden. Viele der deutschen Dschihadisten landeten im Gefängnis.

Der größte terroristische Angriff, den es gab, seitdem Sie Ihr Buch fertiggestellt haben, geschah in den USA, das war der Bombenanschlag von Boston. Inwiefern ist dieser relevant für die Europäer und mit welcher Art von terroristischen Anschlägen muss man womöglich rechnen?

Steinberg: Seit 2011 beobachten wir im Westen einen Trend zu einem "individuellen Dschihad". Als Europlot im Jahr 2011 fehlschlug, entschied sich Al-Qaida dafür, sich verstärkt auf Einzeltäter zu stützen. In einem langen Video, in dem alle prominenten Al-Qaida-Führungsfiguren zu jener Zeit zu sehen waren, forderte die Organisation ihre Anhänger dazu auf, Anschläge auf eigene Faust durchzuführen, ohne sich dafür zuvor in Pakistan ausbilden zu lassen.

Dies war ein ganz entscheidender Strategiewechsel von Al-Qaida, ausgelöst durch die Schwächung der Organisation als Folge der Drohnenangriffe. Wie wir im Frühjahr 2011 beobachten konnten, befolgten einige der westlichen Anhänger diese Anweisung und schlugen zu: in Boston, London und Paris.

Ihr Buch ist  den getöteten deutschen Soldaten in Afghanistan gewidmet. Weshalb?

Steinberg: Insgesamt wurden in Afghanistan zwischen 2001 und heute 54 deutsche Soldaten getötet. Ich wollte mit der Widmung zum Ausdruck bringen, dass ich ihren Einsatz zur Sicherung unseres Heimatlandes zu würdigen weiß, was, wie ich meine, bisher in Deutschland noch nicht genügend geschehen ist.

Außerdem glaube ich, dass viele dieser Gefallenen Opfer einer fehlgeleiteten Strategie der Terrorabwehr wurden. In einem Kapitel meines Buches untersuche ich die Situation in der Region Kunduz und beschreibe darin den Aufstieg der Islamischen Bewegung Usbekistan (IMU).

Ich denke, es ist sehr tragisch, dass so viele dort ihr Leben ließen, ohne dass die Regierung auch nur ansatzweise das Ziel erreicht hätte, dass Land künftig davor zu bewahren, dass es wieder zu einem sicheren Zufluchtsort für dschihadistische Gruppen wird.

Das Interview führte Paul Hockenos.

© Qantara.de 2013

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de