Eine Distanzierung von den Dschihadisten ist nicht genug

Die Mehrheit der Muslime wehrt sich zu Recht gegen eine Vereinnahmung ihrer Religion durch Dschihadisten. Doch zugleich fällt es schwer, den Islam klar vom radikalen Islamismus abzugrenzen. Ulrich von Schwerin sprach mit der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer über das ambivalente Verhältnis des Islam zur Gewalt und die Notwendigkeit einer liberalen Auslegung der Religion.

Von Ulrich von Schwerin

Nach den Anschlägen von Paris haben viele Muslime und islamische Geistliche gesagt, derartige Gewalttaten hätten nichts mit "dem Islam" zu tun. Kann man das so pauschal sagen?

Gudrun Krämer: Es ist ein verständliches Abwehrargument, das aber zu kurz greift, denn dass eine Gruppe oder Persönlichkeit auf eine Religion zurückgreift, hat sehr wohl etwas mit dieser Religion zu tun. Ich sehe zwar nicht, warum ganz normale Muslime wieder und wieder betonen sollten, dass sie mit Mordtaten nichts zu schaffen haben. Aber sie müssen ihr Verhältnis zu den problematischen Aussagen im Koran und in der Propheten-Tradition klären. Dabei kann es nicht darum gehen, den einzig wahren Islam zu finden, sondern anzuerkennen, dass in den Quellen unterschiedliche Aussagen enthalten sind, die sie ordnen und gewichten müssen. Die Behauptung, "das" habe alles mit dem Islam nichts zu tun, befriedigt mich nicht.

Es gibt ja durchaus Distanzierungen bis hin zur traditionellen Geistlichkeit, die auf Grundlage der Schriften detailliert darlegen, warum die Taten der Dschihadisten gegen den Islam verstoßen.

Krämer: Ja, es gibt zahlreiche Distanzierungen, und die Mordtaten in Paris wurden von Muslimen auch in der islamischen Welt so gut wie einhellig verurteilt. Diese Stimmen werden hier gelegentlich zur Kenntnis genommen, vielfach aber nicht. Das liegt zum Teil daran, dass sie häufig in nicht-europäischen Sprachen wie Arabisch, Persisch oder Türkisch erfolgen und daher in der hiesigen Mehrheitsöffentlichkeit nicht ankommen.

Zugleich liegt meines Erachtens ein Problem darin, dass die eine wie die andere Seite versucht, eine komplizierte, vielstimmige Tradition, die nicht immer ganz eindeutig ist, zu bereinigen und entweder zu sagen, der Islam sei die Religion des Friedens und sonst nichts – oder aber, der Islam sei eine Religion, die den Dschihad selbst als bewaffneten Kampf für die Wahrheit, für Gott und den Islam erfordere. Beide argumentieren mit Koran und Propheten-Tradition. Die Geschichte beachten sie nicht.

Viele Dschihadisten haben ja eine simple Lesart des Koran und greifen einzelne Stellen heraus, ohne sie in Beziehung zum Gesamttext zu setzen und in ihrem historischen Kontext zu lesen.

Krämer: Es ist richtig, dass militante Islamisten einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang reißen und absolut setzen. Aber umgekehrt tun dies auch jene, die behaupten, der Islam sei ausschließlich eine Religion des Friedens. Im Koran stehen ja viele Dinge, die für den heutigen Leser problematisch sind: Dazu gehören Aussagen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zwischen Gläubigen und Ungläubigen und zu Gewalt.

Koranausgabe; Foto: Getty Images/D. Kitwood
Islamexpertin Krämer: "Der Koran ist Offenbarung, Rechtleitung, aber kein Handbuch des Zivil- und Völkerrechts. Wenn man den Koran in diesem weiten Sinne versteht, kommt man davon ab, obsessiv danach zu suchen, ob ein Nebensatz diese oder jene Handlung vorschreibt, dieses oder jenes Gesetz erfordert, diese oder jene Strafe festschreibt."

Nun ist der Koran nach muslimischer Überzeugung das Wort Gottes und daher im Wortlaut nicht zu ändern. Der Koran ist Offenbarung, Rechtleitung, aber doch kein Handbuch des Zivil- und Völkerrechts, der Ethik oder detaillierter Verhaltens- und Speiseregeln. Wenn man den Koran in diesem weiten Sinne versteht, kommt man davon ab, obsessiv danach zu suchen, ob ein Nebensatz diese oder jene Handlung vorschreibt, dieses oder jenes Gesetz erfordert, diese oder jene Strafe festschreibt.

Nun wird oft gefordert, dass die Muslime eine moderne Auslegung entwickeln. Aber ist der Islamismus nicht selbst ein dezidiert modernes Phänomen?

Krämer: Ja, das ist er. Mit "modern" wird heute meist verkürzt eine liberale, pluralistische, offene Gesellschaft beschrieben, die Zweifel, Kritik und Satire zulässt, ohne sich gleich im Innersten getroffen zu fühlen. ‚Modern‘ waren bekanntlich aber auch Faschismus, Nationalsozialismus und Totalitarismus. Um sich in einer pluralistischen, offenen Gesellschaft heimisch zu fühlen, müssen die Muslime einen Zugang zum Islam finden, der Zweifel, Kritik und Satire zulässt. Je exklusiver sie dabei auf den Koran als einzig bindende Grundlage blicken, desto schwieriger wird das. Ein Blick auf die islamische Geschichte, in der häufig Pragmatismus den Ton angab, wäre hilfreich.

Wenn man, wie von den liberalen Reformern gefordert, die Pluralität der Deutung anerkennt und akzeptiert, dass es nicht den einen wahren Islam gibt, führt das nicht zu Verunsicherung?

Krämer: Doch, gewiss, aber da gibt es keinen Ausweg. Entweder man sagt, es gibt eine Botschaft, die von einer zentralen Autorität verbindlich vermittelt wird - das wäre die einfache Lösung. Oder man lässt Vieldeutigkeit und Zweifel zu und setzt auf die Offenheit der Auslegung. In der direkten Konfrontation mit einem gewaltbereiten Überzeugungstäter ist letztere Position sicher die schwächere. Nun zeigt aber gerade die europäische Geschichte, dass der flexible, offene Ansatz langfristig tragfähiger war und ist. Ohne ihn kann es auf jeden Fall keine freiheitliche Gesellschaft geben.

Da man ja nun nicht grundsätzlich bestreiten kann, dass auch der Dschihadismus eine Form des Islam ist - wenngleich eine ideologisch zugespitzte Form - wie soll man konkret damit umgehen?

Großmufti Scheich Ahmed el-Tayeb; Foto: Reuters
Von den Dschihadisten verachtete islamische Gelehrte: Ägyptens höchste muslimische Autorität, die von Sunniten weltweit verehrte 1.000 Jahre alte Al-Azhar-Universität in Kairo, verurteilte die Gewalttaten des IS. Ihr Großmufti Scheich Ahmed al-Tayeb bezeichnete die Miliz als teuflische und terroristische Gruppe.

Krämer: Da sehe ich zwei Möglichkeiten. Zum einen stellt die islamische Tradition eine gelassene, sich selbst nicht absolut setzende Position bereit, die für die Gegenwart sehr hilfreich sein könnte. Von großen, noch heute verehrten Gelehrten ist die Aussage überliefert: "Vielleicht habe ich Recht, vielleicht hat der Andere Recht, nur Gott weiß es." Man kann durchaus überzeugt sein, dass es die eine Wahrheit gibt, solange man denn anerkennt, dass man auf sie kein Monopol hat.

Zum anderen müssen sich die Moderaten kritisch mit denjenigen Aussagen im Koran auseinandersetzen, auf die sich die Befürworter der Gewalt berufen. Sie müssen die Absage an Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige islamisch begründen. Auf koranischer Grundlage lässt sich sehr wohl argumentieren, dass man sich um die Wahrheit bemüht, ohne Anderen die eigene Meinung aufzuzwingen, geschweige denn das Schwert gegen sie zu erheben. Bei einzelnen Aussagen muss meines Erachtens aber der Schluss lauten, dass sie zwar im Koran stehen, für unsere Zeit aber nicht leitend sind.

Es gibt ja, wie bereits erwähnt, Bemühungen, die problematischen Stellen im Koran zu relativieren. Doch lassen sich Dschihadisten von solchen theologischen Argumenten beeinflussen?

Krämer: Ich würde denken, dass sich ein hartgesottener Gewalttäter, zumal wenn er sich als Mann bewähren will, durch solche Argumente nicht beeinflussen lässt. Ich würde mir keinen Erfolg versprechen, damit einem Kämpfer des "Islamischen Staats" entgegenzutreten, und zwar selbst dann nicht, wenn die Argumente von etablierten religiösen Autoritäten wie der Al-Azhar in Kairo kommen. Diese halten die meisten Dschihadisten für vom Regime gekaufte, dem Westen hörige alte Männer, von denen sie sich nicht beeindrucken lassen.

Ich glaube aber, dass es eine Wirkung hätte, wenn auf Schulen frühzeitig vermittelt würde, dass der Koran eine für Auslegungen offene Offenbarungsschrift ist und kein Gesetzbuch, das Muslimen ein starres Korsett des Alltagslebens auferlegt. Das könnten Rechtsgelehrte tun, aber auch charismatische Personen, die unter Jugendlichen als Vorbilder anerkannt werden. Allerdings wird das kaum in einer autoritären Umgebung geschehen. Wie sollte man in einem autoritär regierten Land ausgerechnet in religiösen Fragen einen offenen, zweifelnden, Widerspruch ermutigenden Geist fördern?

Hat das Phänomen des Dschihadismus überhaupt so viel mit Religion zu tun oder hat es nicht vielmehr soziale und politische Ursachen?

Koranschule in Burdus (Türkei); Foto: picture-alliance/dpa
"Ich glaube, dass es eine Wirkung hätte, wenn auf Schulen frühzeitig vermittelt würde, dass der Koran eine für Auslegungen offene Offenbarungsschrift ist und kein Gesetzbuch, das Muslimen ein starres Korsett des Alltagslebens auferlegt", so Krämer.

Krämer: Es ist doch immer ein Gemisch. Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass es nicht nur in islamischen, sondern auch in westlichen Ländern soziale Probleme gibt, die junge Menschen zu dem Schluss führen, dass sie hier nicht gewollt sind, und sie sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen suchen, der ihnen verweigert wird. Dass es Diskriminierung gibt, ist ja kein Geheimnis. Den Dschihadisten schließen sich allerdings nicht nur Männer und Frauen aus marginalisierten Milieus an, sondern auch Kinder aus bürgerlichen Familien, die man für intakt hält. Insofern würde ich nicht ausschließlich auf soziale und ökonomische Faktoren blicken.

Sind die Muslime über die Karikaturen eigentlich erbost, weil der Prophet verhöhnt wird? Oder sind sie erzürnt, weil ihre religiösen Gefühle nicht respektiert werden?

Krämer: Die meisten Muslime sind überzeugt, dass es nicht zulässig ist, einen Propheten zu schmähen und in den Schmutz zu ziehen – wobei das auch für die anderen vom Islam anerkannten Propheten wie Jesus gilt. Zugleich sehen sie die Absicht, dass über den Propheten sie selbst verletzt werden sollen. Die Pressefreiheit muss geschützt werden, das schließt Karikatur und Satire mit ein. Wir ziehen allerdings an anderer Stelle durchaus Grenzen. So würde es in Deutschland aus guten und bekannten Gründen keinem in den Sinn kommen, Juden oder die Judenvernichtung zu karikieren.

Meines Erachtens ist Muslimen gegenüber eine vergleichbare Sensibilität und Klugheit gefragt. Muss ich wirklich wieder und wieder Menschen an der Stelle verletzen, an der sie besonders empfindlich sind? Kann es nicht sein, dass Angehörige anderer Religionsgemeinschaften anders empfinden als der durchschnittliche Christ – wobei sich bekanntlich auch viele gläubige Christen schwer tun mit Jesus-Karikaturen. Immer wieder heißt es, die Muslime müssten lernen, auch eine verletzende Satire auszuhalten. Das müssen sie wohl. Aber was soll sie bewirken? Ich denke, wenn ich Muslime dafür gewinnen will, sich kritisch mit der eigenen Religion und dem eigenen Erbe zu befassen, bin ich gut beraten, nicht immer wieder auf die wunden Stellen zu zielen.

Interview: Ulrich von Schwerin

Prof. Dr. Gudrun Krämer ist Orientalistin und Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin.

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