Abkehr von einer Strategie der Konfrontation

Gilbert Achcar, Professor für internationale Beziehungen an der "School of Oriental and African Studies" der Universität London, über die Auswirkungen des Gaza-Krieges und die Chancen für eine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Nahen Osten unter der Obama-Administration

Gilbert Achcar; Foto: privat
Gilbert Achcar: "Es ist im Interesse der USA, die gescheiterte Strategie der Konfrontation aufzugeben, die von der Bush-Regierung verfolgt wurde, und stattdessen die Rolle eines Schiedsrichters einzunehmen."

​​Der 22-tägige Angriff Israels auf den Gazastreifen wurde mit der Absicht geführt, die Hamas zu zerschlagen. Doch die Angriffe trafen vor allem die palästinensische Zivilbevölkerung, die am meisten unter dem Konflikt zu leiden hatte. Wie beurteilen Sie den Ausgang des Krieges?

Gilbert Achcar: Wie einige Beobachter bereits festgestellt haben, hatte Israel im Vorfeld gar keine erreichbaren Kriegziele formuliert. Und es konnte auch gar keine geben, sofern man nicht den Gazastreifen nahezu komplett zerstören wollte. Der Zweck der Angriffe bestand darin, "den Palästinensern eine Lektion zu erteilen" und dies geschah einem Prinzip folgend, das als "Einhundert Augen für ein Auge" beschrieben werden kann. Nur so lässt sich das extreme Ausmaß der Brutalität und der begangenen Kriegsverbrechen erklären.

Trotz dieser neuen Stufe, die von Israel im fortdauernden Kampf gegen die palästinensische Bevölkerung erreicht wurde, gab es auf Seiten der Hamas nicht das geringste Anzeichen, dass sie sich der Übermacht beugen würde – eher war das Gegenteil der Fall. Hierin liegt mit ein Grund dafür, warum der Ausgang des Krieges auch in Israel so kontrovers diskutiert wird.

Die meisten arabischen Nachbarn schwiegen während des bewaffneten Konflikts und selbst Ägypten, das bevölkerungsreichste arabische Land, kooperierte mit Israel, indem es die Blockade der Westgrenze des Gazastreifens durchsetzte. Gleichzeitig kam lautstarke Kritik aus dem Iran. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Mächtekonstellation in der Region?

Achcar: Die israelischen Angriffe auf die Hamas und die libanesische Hisbollah werden als Teil der großen Konfrontation gesehen zwischen den USA, Israel und den so genannten "moderaten arabischen Regimes" (den von den USA abhängigen Ländern) auf der einen Seite, und dem Iran mit seinen arabischen Alliierten (wie Syrien, der Hisbollah, der Hamas und einiger Kräfte im Irak) auf der anderen Seite.

Doch angesichts des Machtwechsels in den USA und einiger Anzeichen für eine Abkehr von der sehr aggressiven Haltung der Bush-Regierung gegenüber dem Iran, gibt es nun einen Trend zu einer generellen "Versöhnung" im arabischen Lager. Hierfür spricht etwa die ägyptische Vermittlungsinitiative zwischen der Hamas und der palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas genauso wie das jüngste Gipfeltreffen des saudischen Königs mit dem ägyptischen und dem syrischen Präsidenten.

Rafah, Grenzübergang zum Gazastreifen im Januar 2009; Foto: AP
"Einhundert Augen für ein Auge" - die Zerstörungen der Infrastruktur als Folge der israelischen Angriffe im Gazastreifen sind bis heute immens.

​​Die israelischen Parlamentswahlen, die bald nach Ende des Krieges stattfanden, führten zu einer deutlichen Stärkung der rechten Kräfte. Wie verändert das die Perspektive für die Verhandlungen mit der Hamas?

Achcar: Israel setzt damit den unaufhaltsamen Rechtsschwenk fort, der bereits nach dem Krieg von 1973 begonnen hatte und seinen vorläufigen Höhepunkt mit dem Wahlsieg des Likud 1977 erreichte. Die nächste Stufe in diesem Rechtsrutsch war der Sieg Ariel Sharons im Jahr 2001. Nun wird die neue Regierung gebildet von einer Likudpartei, die nach der von Sharon initiierten Abspaltung und der Gründung der Kadima auf seinen rechten Flügel reduziert wurde.

Dies bedeutet, dass die beiden größten Gruppen in der Knesset zwei Flügel der vormaligen Likud sind, die wiederum in der Tradition des "Revisionismus" Wladimir Jabotinskys steht, der äußersten rechten Strömung des Zionismus, die von David Ben-Gurion als "faschistisch" bezeichnet wurde! Nicht zu vergessen natürlich ist die dritte Gruppe, Avigdor Liebermans Partei, die offen ein "araberfreies" Israel verlangt. Die Arbeiterpartei, Gründungsbewegung des Staates Israel, ist nunmehr nur noch die vierte Kraft in der Knesset. Schon dies zeigt, wie gefährlich und beunruhigend die gegenwärtige Situation ist.

Netanjahu hat die Regierung Olmert dafür kritisiert, die Angriffe auf den Gazastreifen gestoppt zu haben, obwohl doch der endgültige Sieg zum Greifen nah gewesen sei. Er befürwortet die Auslöschung der Hamas, ein Ziel, das all das mit sich bringen würde, was ich bereits beschrieben habe. Aus diesem Grund ist es notwendig, alle Kräfte zu mobilisieren, um ein neues Massaker zu verhindern. Dies kann nur durch einen erhöhten Druck auf Israel geschehen, damit das Land seine gegenwärtige politische Ausrichtung grundlegend ändert. Eine aufrichtige Verpflichtung zum Frieden ist das, was von Israel jetzt gefordert werden sollte.

Die Hamas stand seit ihrem Wahlsieg vor drei Jahren im Zentrum zahlreicher Debatten. Wie schätzen Sie den Zustand und die Zukunft der politischen Vertretung des palästinensischen Volkes ein? Und wie könnte die Rolle der Europäischen Union aussehen, um eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden?

​​Achcar: Das palästinensische Volk, so glaube ich, sehnt sich nach nationaler Einheit. Die jüngsten Kämpfe führten paradoxerweise zu einer größeren Popularität der Hamas – und das mehr in der West Bank als im Gazastreifen, glaubt man zumindest palästinensischen Umfragen. Der Grund hierfür dürfte meiner Meinung nach darin liegen, dass die Menschen in Gaza die Hauptlast des Krieges getragen haben, während die Bevölkerung der West Bank den Widerstand im Gazastreifen wohl vor allem mit der Haltung Mahmud Abbas verglich, die von vielen als geheimes Einverständnis mit den israelischen Angriffen gedeutet wurde.

Letztlich aber denke ich, dass keine der beiden Führungen sich eines großen Rückhalts beim palästinensischen Volk gewiss sein kann. Dies ist das Ergebnis der Führungskrise, die die innerpalästinensischen Streitigkeiten seit Jahren begleiten. Was die Rolle der EU im palästinensischen Versöhnungsprozess betrifft, ist zuallererst zu sagen, dass sie sich aus den internen Angelegenheiten des palästinensischen Volkes heraushalten und jedwede demokratisch gewählte Regierung anerkennen sollte, unabhängig von eigenen Sympathien oder Abneigungen.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass US-Präsident Obama seine Zusicherung wahr macht, "sich aktiv für einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt einzusetzen"? Was hat in diesem Zusammenhang die jüngste Mission seines Sondergesandten George Mitchell für diesen Friedensprozess gebracht?

Achcar: Ich glaube, dass die neue US-Administration, wie auch der Präsident selbst, sich wirklich verpflichtet fühlen, einen Weg aus diesem schrecklichen Teufelskreis zu finden, in dem der ganze Nahe Osten – und die USA mit ihm — gefangen ist. Ihre "Exit-Strategie" für den Irak ist Teil dieser Verpflichtung. Es ist im ureigenen Interesse des hegemonialen Anspruchs der USA, die gescheiterte Strategie der Konfrontation aufzugeben, die von der Bush-Regierung für einige Jahre verfolgt wurde, und stattdessen die Rolle eines Schiedsrichters einzunehmen, der zwischen den rivalisierenden Kräften in der Region vermittelt.

Eben dieser Funktion als Vermittler entspricht schließlich genau jenem Prinzip des imperialen "Teile und herrsche!", das, in Kombination mit der Rolle als "Lordprotektor" der ölfördernden Golfmonarchien, die beste Strategie für die USA darstellt. Die Weltwirtschaftskrise ist ein weiterer Anreiz, den Nahen Osten zu stabilisieren, da jedes neue Aufflackern der dortigen Krisenherde sehr negative Konsequenzen haben würde.

Interview: Ali Fathollah-Nejad

© Qantara.de 2009

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Der französisch-libanesische Wissenschaftler und Publizist Gilbert Achcar ist derzeit als Professor an der "School of Oriental and African Studies" (SOAS) der Universität London tätig. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. "Der 33-Tage-Krieg: Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen" (Mitherausgeber: Michael Warschawski) sowie "Perilous Power: The Middle East and US Foreign Policy", das er gemeinsam mit Noam Chomsky verfasst hat. Im Herbst 2009 erscheint sein neues Buch "The Arabs and the Holocaust".

Qantara.de

Gilbert Achcar / Michael Warschawski: "Der 33-Tage-Krieg"
Globale Dimension
Am 12. Juli 2006 griffen israelische Streitkräfte den Libanon an. Den folgenden "Julikrieg" oder "33-Tage-Krieg" untersucht das libanesisch-israelische Autorenpaar Gilbert Achcar und Michael Warschawski in seinem Buch "Der 33-Tage-Krieg" und warnt bereits vor einer Fortsetzung. Beate Hinrichs stellt das Buch vor.

Dan Bar-On über den Krieg im Nahen Osten
Die Rechtmäßigkeit des Opfers
Seit der Entführung ihrer Soldaten fühlen sich die Israelis wieder als Opfer der Situation. Sie übersehen, dass ihre Regierung nicht zu Verhandlungen und Kompromissen bereit ist. Ein Beitrag des israelischen Psychologen Dan Bar-On

Kommentar: Konflikt im Gaza-Streifen
Ignoranz auf beiden Seiten
In der gegenwärtigen Krise gefährde Israel seinen demokratischen Charakter, meint der israelische Autor Assaf Gavron. Gleichzeitig verleugne ein Teil der westlichen Presse die Gefahr, die von der Hamas ausgeht.