Mit zweierlei Maß

Solange der Westen moralische Standards und internationale Gesetze in der islamischen Welt nicht einheitlich anwende, seien Dialogversuche nicht ernst zu nehmen, sagt Georges Corm. Mona Sarkis sprach mit dem Sozialwissenschaftler und früheren libanesischen Finanzminister.

Von Mona Sarkis

Georges Corm; Foto: Mona Sarkis
"Der einzige Weg zu einem Dialog auf Augenhöhe liegt darin, die Tabus des Westens auszusprechen", so George Corm.

​​Herr Corm, in Ihrem jüngsten Buch, "Histoire du Moyen Orient", widmen Sie sehr viel Raum den – wie Sie es nennen – geographischen "Arabesken", die den Mittleren Osten traditionell charakterisieren, womit Sie die heutigen arabischen Gebiete, den Maschrek, die Türkei und den Iran meinen. Warum diese Ausführlichkeit?

Georges Corm: Weil die Rede von der muslimischen Gesellschaft, als ob sie ein vereinigtes ethnisches oder nationales Gebilde wäre, realitätsfremd ist und ich ihre seit der Antike existierende Vielfalt geographisch aufzeigen wollte. Perser, Türken und Araber bilden keine durch die Religion zusammengehaltene Homogenität. Es ist absurd, die Gesellschaft Marokkos mit der Irans in eins setzen zu wollen. Das setzt die unsinnige Annahme voraus, dass der Islam ein lebendiges, vereinigtes Wesen in einem präzise umrissenen Territorium wäre. Autoren wie Bernard Lewis und Samuel Huntington gaben sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Mühe, die Welt an die Existenz von "Mega-Identitätsblöcken" wie den Islam oder den Westen glauben zu lassen – und sie waren in ihren Bemühungen leider erfolgreich. Doch gerade deshalb muss die Realität immer wieder herbeizitiert werden. Tatsächlich ist der Islam, wie Islamwissenschaftler vom Kaliber eines Michael Hogdson, Jacques Berque, Maxime Rodinson oder Ernest Gellner darlegen, nur ein Teilaspekt, um die Entwicklung in den so genannten muslimischen Gesellschaften zu verstehen. Dass ihn zahlreiche Potentaten zum Zweck ihres Machterhalts instrumentalisieren, ist der Religion nicht anzulasten. Zu diesen Potentaten zähle ich keineswegs nur die muslimischen Diktatoren oder emblematische Fundamentalistenführer, sondern auch die Regierungen in den USA. In der Endphase des Kalten Krieges kam eine junge Generation radikaler arabischer Marxisten auf, die die USA in Angst und Schrecken versetzten, die ressourcenreiche Region könnte unter sowjetische Kontrolle fallen. Infolge dessen ermutigten sie die Islamisten und setzten eine Dynamik in Gang, die heute nicht mehr zu stoppen ist.

Mit dem Begriff der "Reislamisierung" sind Sie dennoch nicht einverstanden.

Corm: Weil er das Verständnis vom Islam als einem monolithischen Block reflektiert. Irak, Ägypten und Syrien haben bis in die 1960er Jahre einen säkularen Nationalismus verfochten, aber mit dem Zusammenbruch des Pan-Arabismus scheiterten auch sie. Als Ersatz keimten Pan-Islamismen auf, die keineswegs gleich sind, sondern schiitisch oder sunnitisch geprägt waren und sind. Die Differenz zwischen beiden Strömungen war verantwortlich für den verheerenden achtjährigen Krieg zwischen dem Irak und dem Iran in den 1980er Jahren – was zugleich die Beschränktheit von Huntingtons Konzept von einer "Zivilisation" als kohärente politische und militärische Einheit offenbart. Dennoch adressiert der Westen weiterhin mit diesem Konzept die "muslimische Region". So reihen die USA den Irak, Iran, Syrien und Nordkorea in die "Achse des Bösen" ein – ungeachtet der deutlichen Differenzen zwischen diesen sehr unterschiedlichen Ländern, ihren politischen Regimes und Kulturen.

Zugleich betonen Sie, dass die Einmischung des Westens in die Region nicht nur politisch, sondern auch religiös motiviert war bzw. ist.

Corm: Der Ausdruck "Reislamisierung" missfällt mir auch insofern, weil sie voraussetzt, dass die Religion verschwunden war. Das war sie nie, weder im Orient noch im Okzident. Hier sollte sich der Westen an die eigene Nase fassen. In den USA wird die Bibel bzw. das Alte Testament bis heute von fundamentalistischen Kirchen in einer buchstäblichen und nicht symbolischen oder moralischen Weise gelesen. Gott verspricht den Juden den palästinensischen Boden, ergo leiten die Amerikaner daraus den Anspruch auf einen Judenstaat in Palästina ab. Ein Anspruch, der im Alten Testament zudem mit dem Befehl Gottes verknüpft ist, die Einwohner Palästinas bzw. Kanaans zu vernichten oder zumindest zu vertreiben. Wir begegnen in der westlichen Unterstützung für Israel den Konsequenzen des Triumphes der angelsächsischen Weltsicht und Kultur, die zutiefst protestantisch und somit vom Alten Testament geprägt ist.

Selbst wenn die Gründer der zionistischen Bewegung säkular und nicht religiös motiviert waren, sahen die Briten und Amerikaner ihre Initiative als Möglichkeit zu einer Rückkehr in die biblische Prophetie. Hinzukommen die kolonialen Interessen der Briten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die strategischen Interessen der USA heute. Der enorme politische Aufbau legitimer Emotionen und politischer Konsequenzen um den Holocaust so viele Jahre nach dem Ende der Nürnberger Prozesse, ging gleichfalls vom angelsächsischen Raum aus.

Es war der Baptist Jimmy Carter, der 1978 eine Präsidentenkommission berief, um die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Anhand dieser Beispiele, die aktuell George W. Bush und Tony Blair fortsetzen, wird klar, wie religiös die angeblich säkulare westliche Politik geprägt ist, wenn es sich um internationale Angelegenheiten handelt.

Wie kann dieses Blockdenken, das Sie beschreiben, überwunden werden?

Angela Merkel und König Abdullah von Saudi-Arabien; Foto: AP
Doppelte Maßstäbe: Solange der Westen internationale Gesetze und moralische Standards nicht einheitlich anwendet, nehmen sich seine Dialogversuche lächerlich und höhnisch aus, so Corm.

​​Corm: Keinesfalls durch diese endlosen Zivilisationsdialoge, die derzeit so in Mode sind und die implizit die Huntingtonsche These von den unterschiedlichen anthropologischen Charakteristika und religiösen, kulturellen und politischen Werten als Auslöser für Gewalt und Krieg untermauern. Der einzige Weg zu einem Dialog auf Augenhöhe liegt darin, die Tabus des Westens auszusprechen: die Invasion und die Besatzung arabischer Territorien, die israelischen Siedlungen in der palästinensischen Westbank, die im Widerspruch zur Genfer Konvention stehen, die Anwendung doppelter Maßstäbe bei der Implementierung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, der Sonderstatus des Staates Israel in der Region.

Weshalb wurde der Irak nach seiner Invasion in den Kuwait 1991 brutal bestraft, während Israel mit seiner Besatzung von ägyptischen, libanesischen, syrischen und palästinensischen Territorien in den Jahren 1967, 1978, 1982 und 2006 davon kam? Weshalb dürfen Israel, Indien und Pakistan ohne Embargos und Sanktionen atomare Energien und die Atombombe entwickeln, nicht aber der Iran? Selbst mit der nordkoreanischen Diktatur wird behutsamer umgegangen als mit dem Irak oder dem Iran. Weshalb überschlägt sich die öffentliche Meinung im Westen angesichts palästinensischer Selbstmordattentäter, bleibt aber ungerührt angesichts der Selbstmordattentäter der "Tamil Tiger"-Guerilla in Sri Lanka, die erstmals 1987 aktiv wurden, oder angesichts des blutigen tschetschenischen Widerstandes gegen Russland? Solange der Westen nicht internationale Gesetze und moralische Standards einheitlich anwendet, sondern sich einmal auf ein Gesetz für den Judaismus und einmal auf eines für den Islam, das Christentum oder den Buddhismus besinnt, nehmen sich seine Dialogversuche lächerlich und höhnisch aus.

Das Interview führte Mona Sarkis.

© Qantara.de 2008