"Der Islam ist in der indonesischen Demokratie stark verankert"

In Indonesien herrscht zurzeit eine rege Debatte, wie islamische Normen mit demokratischen Werten verbunden werden können. Liberale und Fundamentalisten, Moderate und Reaktionäre liefern sich verbale Gefechte. Adelheid Feilcke hat den Südostasienexperten Fritz Schulze gefragt, was diese Debatte für das größte islamische Land der Welt bedeutet.

Von Adelheid Feilcke

Was zeichnet den Islam in Indonesien aus?

Fritz Schulze: Das sind gleich mehrere Faktoren. Einer besteht darin, dass der indonesische Islam sehr stark in den kulturellen Entwicklungen verwurzelt ist und daher nicht automatisch verglichen werden kann mit islamischen Formen der arabischen Welt oder auch im Iran oder der Türkei. Darauf basierend stellt sich der Islam in Indonesien heute etwas anders dar als in anderen islamischen Ländern. Vor allem ist der indonesische Islam heute stark in der demokratischen Staatsgesellschaft verankert und stellt diese nicht in Frage.

Der Islam in Indonesien ist geprägt vom Synkretismus, nimmt also verschiedene Elemente unterschiedlicher Religionen auf und formt sie zu etwas Neuem. Der größte Teil der Muslime gehört heute der sunnitischen Glaubensrichtung an. Was bedeutet das?

Schulze: Der Synkretismus war immer prägend im indonesischen Islam. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war indonesischer Islam im Wesentlichen synkretistischer Islam. Synkretismus heißt, dass der Islam sehr stark verwoben war mit traditionellen religiösen Vorstellungen. Heute ist es so, dass die sunnitische Orthodoxie vor allem in den urbanen Gesellschaften sehr stark an Einfluss gewonnen hat, aber in ländlichen Gebieten weiterhin synkretistische Elemente vorhanden sind.

Ist das auch der Grund, weshalb das Zusammenleben der verschiedenen Glaubensgemeinschaften so gut funktioniert?

Schulze: Traditionell ist der indonesische Islam sehr tolerant, das ist richtig. Aber ob der Synkretismus heute die Grundlage für religiöse Toleranz in Indonesien ist, lässt sich so nicht sagen. Dafür sind auch noch andere Faktoren ausschlaggebend. Ein wichtiger Faktor ist, dass der indonesische Islam in der Geschichte vor allem während der Kolonialherrschaft von der politischen Macht getrennt war und von daher parallel zu anderen Religionen in Indonesien oder niederländischen Gegenden existiert hat. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt dabei.

Betende Frauen in Indonesien (Foto: AP)
Indonesien ist mit rund 200 Millionen Muslimen das größte islamische Land der Welt und seit 1998 eine Demokratie. Fritz Schulze, emeritierter Professor für Südostasienwissenschaft, betont die "starke Verwurzelung des Islam in den kulturellen Entwicklungen Indonesiens".

Also ist die Trennung von Staat und Religion auch für Indonesien eine Basis, die aus kolonialer Tradition kommt und heute das Gesellschaftsmodell prägt, indem sie Demokratie und Islam verbindet?

Schulze: Ich denke schon. Natürlich hatte der Islam in der Kolonialzeit überhaupt keinen politischen Einfluss. Heute dagegen hat er politischen Einfluss. Der Staat ist unabhängig. 87 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Also gibt es auch einen klaren religiösen Einfluss. Das lässt sich überhaupt nicht abstreiten. In welche Richtung geht dieser Einfluss? Geht dieser Einfluss dahin, dass der islamische Staat angestrebt wird – oder geht der Einfluss da hin, dass eben eine Islamisierung des öffentlichen Raumes stattfindet? Ich denke, dass eher letzteres der Fall ist und nicht Ersteres.

Gleichzeitig beobachten wir, dass immer mehr Frauen ein Kopftuch tragen, dass junge Mädchen ab 16 heiraten dürfen. Man befürchtet auch wieder stärkere Tendenzen zu Zwangsehe. Das sind Entwicklungen, die wir auch mit religiösen Einflüssen in Verbindung bringen. Wie passt das mit dem Anspruch eines demokratischen Staats zusammen?

Eine Frau wählt in Indonesien (Foto: picture alliance / dpa)
Für die Indonesier ist Demokratie und Islam kein Widerspruch. "Der indonesische Islam ist heute in der demokratischen Staatsgesellschaft stark verankert und stellt diese nicht in Frage", sagt Fritz Schulze.

Schulze: Der Staat wird auf Ehegesetze und andere Gesetze, die in diese Richtung gehen immer einen Einfluss haben müssen. Aber ich denke, dass es hier eher um eine Regulierung geht. Wenn also Frauen mit 16 heiraten dürfen, mit Zustimmung ihrer Eltern und des religiösen Gerichtes, dann ist das eine Form der Regulierung. Man sollte vielleicht auf der anderen Seite sehen, dass gleichzeitig Bestrebungen unternommen werden, die nicht registrierten islamischen Ehen zu reduzieren oder abzuschaffen.

Außerdem muss man berücksichtigen, dass es auch darum geht, zurzeit nicht registrierte Ehen einzuschränken, was sehr problematisch war und immer noch ist. In Indonesien werden außerhalb der offiziellen Registrierung Ehen geschlossen, wo dann Mädchen von 13 oder 14 Jahren verheiratet wurden, die dann überhaupt keine rechtliche Sicherheit hatten, vor allem bei einer Trennung. Das soll jetzt abgeschafft werden. Es ist inzwischen illegal und soll verhindert werden. Das ist eine andere Tendenz, bei der es um mehr Rechtstaatlichkeit um mehr Rechte auch für Frauen geht. Ich denke, man muss immer beide Seiten berücksichtigen.

Werden die Religionsführer und auch die staatlichen Strukturen eine ausgleichende und eindämmende Wirkung gegenüber extremistische Tendenzen finden werden? Was ist Ihre Prognose für die nächsten Jahre?

Schulze: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich bin im Grunde genommen optimistisch, weil ich sehe, dass in der Hochzeit der Islamisierung – nämlich in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts – sämtliche Versuche gescheitert sind, den Islamischen Staat auf den Weg zu bringen und sich die maßgeblichen islamischen Kräfte dem widersetzt haben. Ich denke, dass das auch in Zukunft so sein wird.

Aber natürlich ist es wichtig, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen immer ein Auge darauf haben, auch die islamischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, und dass negative Tendenzen von vornherein eingedämmt. Ein Beispiel, das mich optimistisch macht, möchte ich erwähnen: Jakarta wird heute von einem chinesischen Christen regiert. Und den jüngsten Umfragen zufolge hat er auch bei den nächsten Wahlen die besten Aussichten, zum Gouverneur von Jakarta gewählt zu werden.

Das Interview führte Adelheid Feilcke.

© Qantara.de 2015

Fritz Schule ist Indonesien-Experte und emeritierter Professor für Südostasienwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt.