Gespaltene Gesellschaft, gespaltene Seelen

Samar Yazbek ist eine Rebellin. Schon früh begehrte sie gegen die gesellschaftlichen Konventionen auf und forderte ihr Recht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben als Frau ein. Als 2011 in Syrien die Revolution ausbrach, war sie an vorderster Front dabei, musste jedoch wegen Morddrohungen ihre Heimat verlassen. Mit ihr sprach Claudia Kramatschek.

Von Claudia Kramatschek

Frau Yazbek, der Roman "Die Fremde im Spiegel" erschien im arabischen Original bereits 2008. Das Syrien, das Sie darin schildern, ist wahrlich keine heile Welt. Und doch scheinen die Schrecken der Gegenwart noch weit weg. Blicken Sie auf diesen Roman selbst wie eine Fremde im Spiegel?

Samar Yazbek: Obwohl der Roman einige Jahre vor der Revolution erschien, habe ich nicht den Eindruck, dass er mir inzwischen fremd ist. Ich beschreibe darin ja die Gründe, die zum Ausbruch der Revolution geführt haben, nämlich die Unterschiede in der Klassengesellschaft: hier die Reichen, dort die Armen. Den Titel der deutschen Ausgabe finde ich übrigens sehr passend. Denn die Fremde, die sich da im Spiegel erblickt, verkörpert jene Fremdheit, die Teil auch unserer Realität ist. Tatsächlich leiden Menschen, die in einer Willkürherrschaft leben, immer unter einer Spaltung der Seele, einer Spaltung des Selbst.

Buchcover "Die Fremde im Spiegel" von Samar Yazbek
Aus dem tiefsten Inneren der syrischen Gesellschaft: Samar Yazbeks Roman basiert auf einem realen Skandal und handelt von Gewalt, Abhängigkeit und Herrschaft, wie sie das Leben vieler Frauen im modernen Syrien bestimmen.

Eine vordergründige Lesart des Romans würde lauten, der Roman handelt von einer unerhörten Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen. Musste er demnach nicht wie eine "Bombe" in Syrien einschlagen?

Yazbek: Wenn man das so sagt, geht man davon aus, dass es ein kritisches Bewusstsein in der Gesellschaft gibt, dass wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, in der gelesen wird, in der die Menschen sich mit Literatur auseinandersetzen. Aber das ist ja eigentlich nicht der Fall. Ich kann also nicht behaupten, dass es zu einer "Explosion" gekommen wäre. Aber es gibt zwei Möglichkeiten, mit solch einem Roman umzugehen. Die erste Möglichkeit: Man beleidigt den Autor. Die zweite Möglichkeit: Man ignoriert ihn.

Eine zweite, metaphorische Lesart wäre: Da sind zwei Frauen aus zwei sehr gegensätzlichen Gesellschaftsschichten vermeintlich durch Liebe verbunden. Aber letztlich handelt es sich um einen umfassenden Missbrauch sexueller, körperlicher und seelischer Art. Gemäß dieser Lesart lebt die reiche Oberschicht auf Kosten der ausgebeuteten Unterschicht. Sie erwähnten es selbst: Darin liegt für Sie einer der Gründe für den Ausbruch der Revolution.

Yazbek: Im Westen, aber auch im Orient, schaut man immer gerne vordergründig auf den Körper und auf alles, was körperlich verboten ist. Und wie Sie gesagt haben: Dies ist zwar ein Roman, der von der Beziehung zwischen zwei Frauen handelt. Aber Beziehungen in von Diktaturen regierten Gesellschaften sind immer gestört. Insofern ist auch die Beziehung zwischen diesen beiden Frauen gestört. Im Falle meines Buches handelt es sich ja um ein zwölfjähriges Kind, das letztlich vergewaltigt, missbraucht wird. Und das sich dann im Laufe der Beziehung selbst in eine solche "Bestie" in Anführungszeichen verwandelt, aggressiv wird und Macht ausübt.

Mit Alia, diesem Mädchen, erhalten wir Einblicke in den Bodensatz der Gesellschaft – und in die sich schon damals abzeichnenden sozialen Veränderungen: die Elendsviertel, die stetig wachsen; die Menschen, die in die Stadt flüchten, verarmen und sich aus der Armut heraus als illegale Handlanger, Schergen und Söldner verdingen. Schildert Ihr Roman demnach die Vorgeschichte der Revolution?

Yazbek: Was nun passiert, überrascht mich nicht. Denn ich beschreibe die Lage in den Außenbezirken der großen Städte – in den ländlichen Regionen ist die Situation übrigens noch schlechter – und die unterdrückte Schicht, die im Laufe der Herrschaft von Hafiz und Baschar al-Assad, aufgrund der Wirtschaftspolitik, immer ärmer geworden ist. Und genau diese Menschen haben die Revolution in Gang gebracht.

Auch die religiösen Fundamentalisten zeigen sich bereits. Eine Moschee wird in Alias Viertel gebaut, die Frauen beginnen sich zu verhüllen. Hätten Sie sich je vorstellen können, dass eine Terrorgruppe wie der IS Syrien heimsuchen würde?

Yazbek: Im Falle Syriens ist die Lage sehr komplex. Ich habe tatsächlich gesehen, dass die Islamisten sich ausbreiten und mehr werden. Aber das hat damit zu tun, dass es keine Bürgerrechte gibt. Sprich: Das ist eine direkte Folge dieser diktatorischen Gesellschaft, in der sich die Menschen nicht sicher fühlen und sich dann der Religion zuwenden.

Teilnehmerinnen einer Demonstration gegen das Assad-Regime in Aleppo am 06.10.2012; Foto: Rawan Issa
"Die Syrer als solche sind nicht radikal. Im Gegenteil: Sie haben immer weiter versucht, die Revolution friedlich aufrecht zu erhalten", berichtet die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek.

Der IS, über den jetzt immer alle sprechen, sind von außerhalb gekommen und haben syrischen Boden besetzt. Das festzuhalten, ist sehr wichtig, denn die Syrer als solche sind nicht radikal. Im Gegenteil: Sie haben immer weiter versucht, die Revolution friedlich aufrecht zu erhalten. Trotz des Mordens, des täglichen Tötens durch das Regime haben sie sich zu keinen Massakern verleiten lassen. Die Massaker gehen auf das Konto der Radikalen  – und diese sind ein Resultat der Politik von Baschar al-Assad. Deswegen sage ich immer: Man kann gegen die Dschihadisten der IS nichts ausrichten, wenn man nicht zugleich auch etwas gegen Assad unternimmt.

Viele Syrer sind enttäuscht vom Westen, da er nicht wirklich durchgreift gegen die Machenschaften von Baschar al-Assad. Teilen Sie diese Enttäuschung?

Yazbek: Ich bin nicht nur enttäuscht. Ich sehe vielmehr, dass der Westen sich überhaupt nicht um das syrische Volk und das Land gekümmert hat. Wir werden daher jetzt mit dem größten moralischen Problem bzw. der größten moralischen Schande konfrontiert: Man lässt das Volk einfach sterben, kümmert sich nicht darum und greift nicht ein. Assad hat das halbe Volk umgebracht, man hat ihn tun und machen lassen, was er wollte. Dann kam der IS-Terror hinzu – wobei der "Islamische Staat" und Assad für mich eins sind – noch immer unternimmt man nichts!

Um jetzt noch etwas für das Land zu erreichen, braucht es sehr, sehr viel Zeit und man muss sich fragen: Will das überhaupt jemand? Die Situation in Syrien ist schlichtweg katastrophal und tragisch. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Millionen Kinder sind ohne Schulbildung. Millionen Frauen wurden vergewaltigt.

Ich habe trotzdem noch Hoffnung. Ich darf mir keine Verzweiflung erlauben. Die Geschichte ist immer so gewesen. Es gab immer schon Gewalt, brutale Menschen und Mörder. Und die Menschheit hat sich immer dagegen gestellt, um Gerechtigkeit und Frieden einzufordern. Das müssen wir auch weiterhin tun.

Das Interview führte Claudia Kramatschek.

Aus dem Arabischen übersetzte das Gespräch Larissa Bender.

© Qantara.de 2014

2012 erschien Samar Yazbeks Band "Schrei nach Freiheit. Stimmen aus dem Inneren der syrischen Revolution". Nun liegt in deutscher Übersetzung ihr Roman "Die Fremde im Spiegel" vor.