Die narzisstische Angst überwinden

Martha Nussbaum zählt zu den bekanntesten amerikanischen Philosophinnen unserer Zeit. Kürzlich erschien ihr Buch "Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst" auch auf Deutsch. Ceyda Nurtsch hat sich mit ihr unterhalten.

Von Ceyda Nurtsch

Frau Nussbaum, Ihr neues Buch trägt den Titel "Die neue religiöse Intoleranz". Was ist "das Neue" an dieser Intoleranz gegen Menschen einer anderen Religion? Oder bezieht sich "das Neue" insbesondere auf die USA, weniger auf Europa?

Martha Nussbaum: In meinem Buch argumentiere ich, dass diese Intoleranz auf gewisse Weise gar nicht neu ist. Sie hat viel gemeinsam mit der seit langer Zeit bestehenden Intoleranz gegenüber Juden und anderen Minderheiten. Im Falle der USA denke ich, dass sehr wenig neu ist: wir hatten schon immer Einwanderungswellen von Menschen, die anders aussahen und eine andere Religion praktizierten, und in vielerlei Hinsicht ist gegenwärtig weniger Intoleranz zu beobachten im Vergleich zu früher, als Massen von katholischen Migranten aus Süd- und Osteuropa ins Land kamen. In Europa dagegen haben wir es mit einer neuen Situation zu tun. Angesichts der abnehmenden Bevölkerungszahlen haben die Staaten Arbeiter aus dem Ausland angeworben und sind weder emotional noch politisch auf diese "Konfrontation mit der Unterschiedlichkeit" vorbereitet, die solche Einladungen mit sich bringen. Die Situation ist vergleichbar mit einer Gastgeberin, die viele Gäste zum Abendessen einlädt und dann völlig unvorbereitet ist, als sie feststellen muss, mit welchen Gästen sie es wirklich zu tun hat.

Sie vergleichen die Erfahrungen im Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den USA mit der in Europa. Dabei schneiden die Vereinigten Staaten besser ab – sie sprechen von der "amerikanischen Lösung". Der Grund dafür liegt Ihrer Ansicht nach in der "romantischen Idee" Europas von einer Identität, die auf Herkunft, Sprache oder Kultur basiert. Sie argumentieren, dass in den USA die nationale Zugehörigkeit vielmehr durch "politische Ideale" und ein "gemeinsames politisches Projekt" bestimmt wird. Wie nützlich ist es, die Situation in Europa mit der in den USA zu vergleichen in Anbetracht der unterschiedlichen historischen Bedingungen im Umgang mit Migranten? Und inwiefern können die USA Europa als Vorbild dienen?

Buchcover "Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst" im Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Ein Zeichen setzen gegen narzisstische Angstreflexe und populistische Anwandlungen: Martha Nussbaums aktuelles Buch "Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst".

Nussbaum: Ich denke, dass die USA vor allem Glück hatten und nicht unbedingt tugendhaft waren. Bedenkt man, dass wir eine Nation von Emigranten sind (mit Ausnahme der eingeborenen Bevölkerung, die größtenteils brutal unterdrückt wurde), bestand bei uns nie die Versuchung, nationale Identität ethno-religiös zu definieren, sondern man wählte die Konzeption einer Nation, die sich auf politische Ideale konzentrierte und Emigration förderte. Das heißt nicht, dass wir nicht mit Rassismus und Ethnozentrismus zu kämpfen haben, aber zumindest ist die grundlegende Frage "Wer ist Amerikaner?" politisch beantwortet.

Europa dagegen ist stark durch die Romantik beeinflusst und tendierte bislang dazu, die nationale Zugehörigkeit über Religion, Sprache, Blut und Kultur zu definieren. Eine diesbezügliche Veränderung wird wohl nicht leicht sein. Aber eine Veränderung ist notwendig, denn das romantische Konzept der Zugehörigkeit passt nicht zur Realität der Gegenwart. Und die europäischen Staaten haben immer schon gesehen, dass sie eine Wahl haben: Ernst Renan lehnte in seiner berühmten Vorlesung "Was ist eine Nation?" an der Sorbonne 1982 die ethno-religiöse Definition zugunsten der Ansicht ab, dass eine Nation durch gemeinsames Leiden und gemeinsame Bestrebungen zusammengehalten wird. Ich denke, dass ein Besuch einer US-amerikanischen Stadt oder eines Universitäts-Campuses daran erinnert, dass Menschen, die sich in allen möglichen, von ihrer Religion vorgeschriebenen Formen kleiden, auf der Basis von gegenseitigem Respekt glücklich zusammenleben können.

In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass in den USA manche Menschen, die einer bestimmten Religion folgen, wahrgenommen werden als stünden sie in Opposition zur Demokratie. Auch in Deutschland gibt es eine Diskussion über die sogenannten Scharia-Gerichte. Sind diese Gerichte nicht in erster Linie als ein Appell zu verstehen, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden? Sollten sie toleriert werden?

Nussbaum: Hier gibt es zwei verschiedene Aspekte. Ich sage, dass in den USA Individuen sowohl sozial als auch legal sehr stark dazu ermutigt werden, gemäß ihrer religiösen Gesetze zu leben, solange sie niemandem damit schaden. George Washington hat einmal gesagt, dass die Quäker und Mennoniten keinen Wehrdienst leisten müssten; unsere Drogengesetze wurden stark an die religiösen Vorgaben der eingeborenen Amerikaner angepasst; Menschen, deren heiliger Tag der Sonntag ist, bekommen Arbeitslosenkompensation, wenn sie sich weigern Arbeit anzunehmen, bei der man auch Sonntags anwesend sein muss; dasselbe gilt für Menschen, deren heiliger Tag der Samstag ist und so weiter.

Pegida-Demo in Dresden; Foto: picture-alliance/dpa
Schüren von Fremdenhass und diffusen Abstiegsängsten: Die rechtspopulistische "Pegida"-Bewegung geht in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden seit Mitte Oktober 2014 regelmäßig montags auf die Straße. Unterstützt werden die Demonstranten inzwischen von der neuen Rechten Europas, wie Geert Wilders oder Marine Le Pen.

Was das Gesetz in den USA jedoch vorschreibt, ist, dass die religiösen Gruppen nicht einen Teil der gesetzgebenden Funktion des Staates einnehmen dürfen. Folglich verletzte eine Hindu-Sekte, als sie versuchte, sich als eine Stadt in Oregon zusammenzuschließen, die sogenannte "Establishment Clause", die Errichtungsklausel (welche die Gründung einer Staatsreligion durch den Kongress oder die Bevorzugung einer Religion gegenüber einer anderen oder Religionen gegenüber Nicht-Religionen verbietet/Anm. d. Red.), da eine religiöse Körperschaft keine Regierung sein kann. Derselbe Grundsatz galt, als eine Gruppe chassidischer Juden versuchte, innerhalb des staatlichen Schulsystems ihren eigenen Schuldistrikt zu gründen. Das ist etwas anderes, als den Bedürfnissen der individuellen Gläubigen zu entsprechen. Die Regierung muss neutral bleiben und darf nicht religiös gesteuert werden.

Was die Scharia-Gerichte angeht, die Heirat und Scheidung unter Juden und so weiter: Es gibt keinen Grund, weshalb sie nicht zusätzlich zum Zivilsystem existieren sollten. Wenn also jemand die Notwendigkeit sieht, sich zusätzlich zur zivilen Scheidung auch religiös scheiden zu lassen, dann ist das vollkommen in Ordnung. Was die Hochzeit betrifft, so verbinden die USA zwei Rollen in dem Sinne, dass jeder Geistliche einer Religionsgemeinschaft die zivile Ehe schließen darf. Aber das können selbstverständlich auch neutrale Juristen wie Friedensrichter oder Richter.

Ein Problem würde jedoch entstehen, wenn eine Gesellschaft die Rechtssprechung religiöser Gerichte an die Stelle der neutralen und universellen Mechanismen des Staates setzen würde. Das hätte sehr viele Probleme – wie etwa in Indien – zur Folge. Menschen ergeht es nach bestimmten Bereichen des Gesetzes besser oder schlechter, je nach dem religiösen System, dem sie sich verpflichtet fühlen. Und leider wetteifern häufig die religiösen Systeme auch um die Kontrolle über die Frauen. Christliche Frauen in Indien haben 2001 das Recht erhalten, sich aufgrund von physischer Gewalt scheiden zu lassen, viel später als andere Frauen in Indien.

Asylbewerber, Roma-Familie aus Serbien, in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Meißen; Foto: DW/S. Wassermann
Verfolgte Roma-Familie aus Serbien in einer Asylaufnahmeeinrichtung in Meißen: "Staaten sind natürlich dazu berechtigt, vernünftige und neutrale Regeln für Emigration aufzustellen. Was mir aber völlig falsch erscheint ist, Menschen einzuladen und sie dann zu behandeln als wären sie eine Bedrohung für die Gesellschaft", kritisiert Nussbaum.

In Ihrem Buch plädieren Sie dafür, die "narzisstische Angst" vor anderen gesellschaftlichen Gruppen zu reflektieren und zu überwinden. Die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft in Europa richten sich nicht nur gegen religiöse Gruppen, sondern auch gegen Gruppen wie zum Beispiel die Roma. Wie realistisch ist der Ansatz, den Sie anbieten, angesichts der Angst vor Überfremdung einer Gesellschaft oder der wirtschaftlichen Konsequenzen wie die Panikmache vor einer angeblichen Ausbeutung des Sozialstaats durch Migranten?

Nussbaum: Staaten sind natürlich dazu berechtigt, vernünftige und neutrale Regeln für Emigration aufzustellen. Was mir aber eine völlig verfehlte Politik zu sein scheint, ist der Vorgang, Menschen einzuladen und sie dann so zu behandeln, als stellten sie eine Bedrohung für die Gesellschaft dar. Das geschieht, weil narzisstische Angstreflexe und populistische Anwandlungen nicht hinreichend beseitigt werden konnten. In den USA existiert noch immer viel Rassismus, aber durch siebzig Jahre sehr anstrengende politische Arbeit haben wir die Idee überwunden, dass schwarze Hautfarbe verabscheuenswert sein muss.

Ich habe die Situation der Roma in Europa nicht weiter untersucht, aber ich bin mir sicher, dass sie unter Stigmatisierung leiden. Welche Rechte sie bekommen, hängt doch vom Einzelfall ab: Sind sie "legale" oder "illegale" Migranten? Sind sie im Inland oder Ausland geboren? Und so weiter. Menschenrechtsgerichtshöfe müssen diese Fragen klären. Leider ist es im Interesse einiger Politiker, die Angst bei ohnehin verunsicherten Menschen weiter zu schüren. Dies ist zweifelsohne eine problematische Entwicklung, die sich in Europa abzeichnet. Sogar der Antisemitismus erlebt ein hässliches neues Comeback, obwohl ich froh war zu sehen, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ihn entschieden und unmissverständlich verurteilt hat.

Das Interview führte Ceyda Nurtsch.

© Qantara.de 2015

Martha Nussbaum wurde 1947 geboren. Sie ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität Chicago. Ihr Buch "Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst" erschien im Sommer 2014 im Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft.