Der schöne Schein vom demokratischen Wandel

Zineb El Rhazoui ist eine der Koordinatorinnen der Bewegung "20. Februar", die am vergangenen Sonntag über die Kampagne "Ich bin Marokkaner!" zahlreiche Demonstranten zu einem Marsch für Demokratie und soziale Gerechtigkeit mobilisiert hat. Claus Josten hat sich mit ihr unterhalten.

Von Claus Josten

 

Zineb El Rhazoui; Foto: privat
Zineb El Rhazoui: "Wir wollen nicht mehr, dass der König so viel Macht anhäuft und dass man uns für Idioten hält. Ich glaube, dass die Tage für dieses Regime gezählt sind!"

​​Tausende Marokkaner sind am letzten Sonntag einem Facebook-Aufruf zur Demonstration in marokkanischen Städten für politische Reformen und für Meinungsfreiheit in ihrem Land gefolgt. Das zeigt, dass die Proteste im Internet mittlerweile zu einer Bewegung geworden sind…

Zineb El Rhazoui: Ja, die Initiative des 20. Februar hat sich – allen Störmanövern gegen den Marsch zum Trotz – seit Wochen wirklich zu einer Bewegung entwickelt. Die Leute hier haben die Nase voll, das marokkanische Volk erträgt das politische System, den "Makhzen", genauso wenig wie die wirtschaftlichen Missstände im Land. Man bedient sich der Steuergelder, um Propaganda zu betreiben. In den Medien im Ausland wird dann ein Bild von Demokratie und Modernität erzeugt, während wir, die wir hier leben, genau wissen, dass das nicht stimmt. Unsere Demonstration wäre schon ein Erfolg gewesen, selbst wenn man nicht so viele Leute hätte mobilisieren können – allein aufgrund der Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat.

Ein großer Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen – wie z. B. die Marokkanische Menschenrechtsvereinigung (ADMH), verschiedene politisch-islamische Strömungen, Feministinnen, Liberale, Kommunisten etc. – hat sich über eine Basis-Plattform geeinigt, die vor allem eine völlig neue Verfassung fordert – und nicht nur eine Reform der Verfassung! Sie alle skandierten: "Majidi dégage!" und meinten damit den Sekretär des Königs und Vorsitzenden des königlichen Kabinetts, der abtreten soll. Oder auch: "El Himma dégage!", womit der Gründer der neuen Royalistenpartei PAM ("Partei der Authentizität und Modernität") gemeint ist. Auch hat man inzwischen eine öffentliche Debatte über die Monarchie eröffnet. Das wäre bis vor kurzem noch völlig ausgeschlossen gewesen. Heute gibt es erstmals Forderungen nach einer echten parlamentarischen Monarchie und das ist schon ein großer Erfolg.

Erlebt man jetzt wieder ein Land im Aufbruch wie man es nach dem Tod Hassan II., unter seinem Nachfolger Mohamed VI., wenn auch nur für wenige Jahre erleben konnte?

El Rhazoui: Das ist genau das Dilemma Marokkos: Hassan II. ist als Diktator relativ jung gestorben. Er wäre heute genau im gleichen Alter wie Hosni Mubarak. Was nach seinem Tod dann in Marokko geschehen ist, war allerdings ein Bluff, der Bluff vom scheinbaren Übergang, des angeblichen Wandels. Mohamed VI. war zwar bemüht, mit dem autokratischen Bild seines Vaters zu brechen. Also hat er gewisse Zeichen der Öffnung markiert, er hat einige Anzeichen von neuer Freiheit aufkommen lassen, wie z.B. das Aufblühen einer freien Presse. Viele haben daran geglaubt und es wurden große Anstrengungen unternommen, damit diese neuen Freiheiten dem Wohle einer wirklich neuen Gesellschaft dienen konnten. Doch das Bild hat sich inzwischen komplett gewandelt. Wir können uns heute mit dem Marokko des Jahres 2002 kaum mehr vergleichen. Die jüngsten Demonstrationen sind daher Ausdruck der über Jahre aufgestauten Wut.

Dank der Aufstände in Tunesien und Ägypten haben wir nun den Mut, auch aufzustehen und "basta!" zu sagen. Wir wollen nicht mehr, dass der König so viel Macht anhäuft und dass man uns für Idioten hält. Ich glaube, dass die Tage für dieses Regime gezählt sind. Er wird sich auf längere Sicht nicht mehr halten können, die Leute wollen einfach nicht mehr. Menschen aus allen Bevölkerungsschichten haben sich zu den Protesten auf der Straße zusammengefunden. Man muss sich das einmal vorstellen: Zum ersten Mal hat es die Bevölkerung gewagt, massenhaft auf die Straße zu gehen, um eine Einschränkung der Machtbefugnisse des Königs zu fordern!

Es geht den Menschen also um eine grundlegende Änderung der politischen Strukturen im Land…

Ausschreitungen am 20. Februar 2011 in Marakesch; Foto: dapd
Im Anschluss an die Demonstrationen in mehreren marokkanischen Städten kam es, wie in Marakesch, zu schweren Ausschreitungen. Die offizielle Bilanz: fünf Tote, 128 Verletzte und 120 Festnahmen.

El Rhazoui: Genau das ist der Fall – völlig unabhängig davon, ob der König wirklich guten Willens ist oder nicht, ganz unabhängig von seinen möglichen Absichten oder ob er nun kompetent ist oder nicht! Das strukturelle Problem liegt in der Anhäufung von so viel politischer Macht in seinen Händen. Die Leute haben sich über das wirtschaftliche Imperium dieses "Makhzen" empört. Auch haben sie den ökonomischen Zusammenhang mit unseren so teuer gewordenen Grundnahrungsmitteln verstanden. Die Milch, der Zucker und das Oliven-Öl sind in der Hand der großen royalistischen Holding "Omnium Nordafrika" (ONA). Hinzu kommt, dass der Staat dieses Monopol der ONA auch noch subventioniert. Also profitiert der König doppelt: vom Bürger und dessen Steuergeldern. ​​Die Leute haben auf den Demonstrationen unter anderem skandiert: "Wem gehört die Milch?!" oder "Wem gehört das Öl?!" Das waren die Geringverdiener, die armen Leute, aber auch Angehörige der Mittelschicht sowie kleinere Unternehmer.

Sogar einige größere Unternehmer und "Patrons" beteiligten sich an den Protesten. Ihr Credo war im Wesentlichen, dass sich der König vor allem auch von seiner wirtschaftlichen Dominanz verabschieden sollte. Er kann nicht die absolute politische Macht inne haben und auch noch für sich beanspruchen, "der erste Businessman" im Staat sein. Kein Mensch kann heute noch dort investieren, wo der König ein Monopol hat.

Welchen Beitrag leisten Sie mit Hilfe des Internets, um diesen sanften zivilgesellschaftlichen Wandel in Marokko herbeizuführen und auf welche Barrieren stoßen Sie hierbei?

El Rhazoui: Aufgrund des Internets ist der Informationsfluss heute nicht mehr zu bremsen. Selbst wenn der "Makhzen" versucht, unsere Kommunikation zu stören, können sie die Wahrheit nicht mehr kontrollieren und unterdrücken. Wir hoffen einfach, dass diese Inseln der Zivilgesellschaft eine Basis sein werden. Der Staat hat uns hierzu nicht ermuntert. Vielmehr haben wir uns das hart und mit viel Mut in kleinen Schritten erkämpfen müssen. Viele von uns mussten erfahren, was es heißt, tagelang im Gefängnis einzusitzen, und sie haben regelmäßig Ärger mit der Polizei. Mit unseren Facebook-Seiten verfährt der Geheimdienst beispielsweise derzeit so, dass er uns reihenweise und massenhaft dort als mutmaßliche Rassisten denunziert, so dass wir automatisch gesperrt werden.

Wir sind jetzt permanent Opfer von Internet-Piraterie, aber auch von gezielter politischer Diffamierung. So wirft man uns vor, dass wir alle von der Westsahara-Befreiungsfront "Polisario", von Algerien oder Spanien manipuliert wären. Doch dies sind alles nur durchsichtige Manöver. Fest steht: Nach diesem 20. Februar soll der Staat erst einmal auf die Forderungen des Volkes antworten! Sonst werden die Proteste gewiss weitergehen.

Interview: Claus Josten

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de