Hunger nach Individualität

Hala Abdallah, Ghassan Salhab oder Joseph Battout: Sie alle stehen für herausragendes, arabisches Autorenkino. Um dessen Verbreitung bemühen sich die arabischen Filmtage Ayam Beirut al Cinem'iya. Darüber sprach Mona Sarkis mit der Filmemacherin Eliane Raheb in Beirut.

Hala Abdallah, Ghassan Salhab oder Joseph Battout: Sie alle stehen für herausragendes, arabisches Autorenkino. Um dessen Verbreitung bemühen sich die arabischen Filmtage Ayam Beirut al Cinem'iya. Darüber sprach Mona Sarkis mit der Filmemacherin Eliane Raheb in Beirut.

Libanesische Filmemacherin Eliane Raheb mit der amerikanisch-palästinensischen Regisseurin Annemarie Jacir (rechts); Foto: Ayam Beirut al-Cinem'iya
Eliane Raheb (Mitte) bei der Eröffnung des Filmfestivals "Ayyam Beirut" mit der amerikanisch-palästinensischen Regisseurin Annemarie Jacir (rechts).

​​ Frau Raheb, Sie bezeichnen das arabische Autorenkino als den eigentlichen Identitätsspiegel arabischer Gesellschaften. Weshalb?

Eliane Raheb: Das Individuum kommt im Alltagsdiskurs kaum vor. In der Politik wird vielfach noch die "Umma", die Gemeinschaft, hochgehalten. Die hierarchischen Familienstrukturen oktroyieren uns Regeln von oben auf. Die Medien bombardieren uns mit Zahlen – "60 Tote im Irak", "30 Tote in Palästina" usw.

Die arabische Mainstream-Kultur der Seifenopern wendet sich nur an "die" Gesellschaft. Doch auch die arabischen Gesellschaften setzen sich aus Einzelcharakteren zusammen. Daher sehen wir im Autorenkino den Spiegel unserer eigentlichen Identität. Der authentische Film kommt von dem, der menschliche Erfahrungen beleuchtet, die ihm einzigartig erscheinen und über die er die "Realität" in Frage stellt, so wie es etwa in Simon el-Habres "The One Man Village" oder in Ibrahim Battouts Low-Budget-Produktion "Ein Shams" geschieht.

Ein anderes Beispiel ist der seit fünf Jahren anhaltende Boom der kurzen Experimentalfilme. Er beweist, wie viel Bedarf nach einem persönlichen Sich-Austoben besteht. Ich meine diese installations- und performance-ähnlichen Filme, in denen ein Satz hundertmal wiederholt wird – nach dem Motto: "Ich zeig dir etwas, das nur mich beschäftigt". Es sind die Extremfälle der Individualitätssuche und mitunter sind ihre Macher sehr narzisstisch.

Wie groß ist die Publikumsnachfrage nach diesem Kino?

​​ Raheb: Natürlich kann Autorenkino nicht mit dem Kommerz-Kino aus Ägypten oder Hollywood finanziell wetteifern. Aber das Interesse ist groß genug, um alle zwei Jahre "Ayyam Beirut" erfolgreich durchzuführen. Wir hatten dieses Jahr im kleinen Beirut rund 10.000 Besucher. Auch das internationale Publikum zeigt Interesse. Es ist mittlerweile "in", diese Filme zu zeigen, was zugleich eine große Falle ist. Die Organisatoren und Kuratoren vergessen, weshalb diese Filme gemacht wurden und was ihre Ausstrahlung bewirken soll. Bei "Ayyam Beirut" bestehen wir darauf, mit den Machern zu debattieren, um ihre Visionen zu verstehen.

Doch die weltweite Resonanz – bzw. die weltweiten Modetrends - helfen nicht in Finanzierungsfragen, mit denen auch das arabische Autorenkino kämpft.

Raheb: Das Problem ist der Mangel an arabischen Geldern für diese Filme. Einige staatliche Finanziers stehen zur Verfügung, etwa in Marokko, Tunesien oder Syrien, aber das reicht nicht. Möglicherweise ändert sich dies bald, da sich die TV-Kanäle multiplizieren und manche Interesse zeigen.

So hat sich der ägyptische Arab Radio and Television Channel (ART) eine Programmdirektorin geholt, die speziell nach Autorenfilmen sucht und Al Jazeera hat einen Dokumentarfilm-Kanal ins Leben gerufen und will selbst produzieren.

Bis es aber vor Ort genügend Gelder gibt, beantragen die Filmemacher sie überwiegend bei europäischen Institutionen wie dem Jan Vrijman Fund, dem World Cinema Fund, der Hubert Balls Stiftung oder Fonds Sud… und sie suchen Koproduktionen mit europäischen Produktionsfirmen und TV-Kanälen.

Zugleich herrscht viel Kritik an den europäischen Produzenten.

Szene aus dem Film Ein Shams; Foto: Ayam Beirut al-Cinem'iya
"Einige arabische Filmemacher beschuldigen die ausländischen Produzenten, nur an ihre Zielgruppen zu denken, was sich letztlich auf die Vision des Filmes niederschlägt", erklärt Raheb.

​​ Raheb: Einige arabische Filmemacher beschuldigen die ausländischen Produzenten, nur an ihre Zielgruppen zu denken, was sich letztlich auf die Vision des Filmes niederschlägt. Wer ein ausländisches Publikum anspricht, muss mehr erklären. Das betrifft vor allem Dokumentarfilmer und wird besonders deutlich bei komplexen Themen wie dem Islam, Palästina oder Genderthemen.

Man muss nicht nur Grundsätzliches neu aufrollen, sondern auch kolonialistische Klischees bedienen – etwa in der Art: "Der Islam warf den Libanon um Jahrhunderte zurück, das einstige Paradies der fortschrittlichen Christen".

Arabische Zuschauer langweilt bzw. empört dies, schließlich weiß hier jeder, dass viele Christen weit zurückgebliebener als viele Muslime sind. Ebenso wenig kann ein arabischer Dokumentarfilmer eine palästinensische Familie präsentieren, ohne auf die Gegenfrage seiner Produzenten zu stoßen: "Und wo bleibt die israelische Familie?" Warum müssen die Israelis allgegenwärtig sein? Und wer von zwischengeschlechtlichen Beziehungen sprechen will, der sollte Machomänner und unterdrückte Frauen zeigen usw.

Ich persönlich komme aber immer mehr zu dem Schluss, dass das Problem nicht bei europäischen Geldern liegt, die einer gewissen politischen Agenda verpflichtet sein mögen, sondern im Fehlen arabischer Gelder und Produzenten – und hier sollte der Kampf der arabischen Filmemacher ansetzen.

Wäre dieses Problem ausgeräumt, könnte er sich auf sein arabisches Publikum konzentrieren, ohne westliche Klischees oder zusätzlichen Erklärungsbedarf zu bedienen. Zudem könnte er, wenn er ausländische Gelder beantragt, aus einer selbstbewussteren Position heraus auftreten. Weil er das Urteil seines Publikums kennt.

Bislang kennt er nur die Beurteilung durch die Ausländer, die bestimmen, wer ein guter Regisseur ist und wer nicht, wer "in" und wer "out" ist. Wenngleich es ein nicht-arabisches Beispiel ist, ist es ein gutes Beispiel: In den Neunzigern waren vor allem französische Produzenten verrückt nach iranischem Kino – doch ab dem Jahr 2000 wurden sie seiner überdrüssig. Was sollen diese Filmemacher danach tun?

Das sind aber nicht die einzigen Gründe, aus denen so mancher Autor es vorzieht, sein eigener Produzent zu sein. Eine weitere Reibungsfläche bildet der Gewinn.

Raheb: Ein arabischer Filmemacher kommt mit einem Budget von 100.000 Dollar vor Ort aus, weil ihm viele Freunde behilflich sind. Für einen ausländischen Produzenten rechnet sich das gar nicht, also schraubt er das Budget auf 500.000 Dollar hoch, von denen ein Großteil in seinem Land ausgegeben werden muss.

Ausländische Techniker, Berater etc. werden hinzugezogen, die 400.000 Dollar kassieren und der Produzent selbst will auch noch seinen Anteil. Unter Umständen bleibt so für den arabischen Autor weniger übrig, als wenn er den Film mit einem Minibudget vor Ort gedreht hätte. Man braucht viel Liebe und Leidenschaft zu diesem Job, um ihn durchzuhalten.

Interview: Mona Sarkis

© Qantara 2009

Die libanesische Filmemacherin Eliane Raheb ist Mitbegründerin der Initiative Beirut DC, wo sie seit 2001 als Art Director das arabische Filmfestival "Ayam Beirut al Cinem'iya" betreut. Für Beirut DC organisiert sie Workshops, produziert und führt Regie in verschiedenen Dokumentarfilmen. Sie unterrichtet Dokumentarfilm an der Saint Joseph Universität / IESAV in Beirut.

Qantara.de

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Filme von Eliane Raheb auf der Website des Goethe-Instituts