Assads System der Folter

In ihrem Buch "Codename Caesar. Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie" beleuchtet Garance Le Caisne die systematische Folter unter Syriens Machthaber Baschar al-Assad und die Bemühungen des unter dem Deckmantel "Caesar" agierenden Fotografen, ein Ende dieses Mordens zu erwirken. Mit ihr sprach Ruth Renée Reif.

Von Ruth Renée Reif

Zu Beginn des Jahres 2014 tauchten im Internet tausende Fotos syrischer Folteropfer auf. Sie stammten von einem Fotografen der syrischen Militärpolizei. 2011, als in Syrien die Proteste gegen die Diktatur Baschar al-Assads begannen, erhielt er den Auftrag, Leichen von Oppositionellen, die zu Tode gefoltert worden waren, zu fotografieren. Was er sah, entsetzte ihn so sehr, dass er sich entschloss, die Fotos heimlich zu kopieren und außer Landes zu schaffen. 2013 floh er aus Syrien und hielt sich unter dem Decknamen "Caesar" versteckt. Garance Le Caisne machte ihn ausfindig und sprach mit ihm.

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Madame Le Caisne, "Caesar", so sein heutiger Deckname, hat als Fotograf der syrischen Militärpolizei die Verbrechen Baschar al-Assads an seinem Volk dokumentiert. Die Bilder wurden heimlich außer Landes gebracht. Es wurde ihre Echtheit bestätigt, und sie wurden der Weltöffentlichkeit vorgelegt. Sie haben "Caesar" getroffen. Wie geht es ihm?

Garance Le Caisne: "Caesar" ist enttäuscht von der Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft. Er fragt sich, wozu er sein Leben und das seiner Angehörigen all den Gefahren und Ängsten ausgesetzt hat. Doch im Grunde weiß er, dass er nicht anders handeln konnte. Vielleicht hatte er eine etwas zu naive Vorstellung von der Weltpolitik und der internationalen Justiz. Er dachte, wenn er diese Fotos vorlegt und man sieht, was für ein kriminelles Regime in Syrien herrscht, würde Assad sofort gestürzt werden. Tatsächlich ist es aber auch für uns im Westen befremdlich, warum die Täter nicht strafrechtlich belangt werden. "Caesar" musste zeitweilig sogar fürchten, dass die westlichen Regierungen wieder Kontakt mit Assad aufnehmen, weil sie den Kampf gegen die Terrororganisation IS als wichtiger ansehen als die Verbrechen des Regimes.

Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek bezeichnete es als Heuchelei, wenn der Westen davon spreche, den "Islamischen Staat" zu bekämpfen. Das von Assad an seinem Volk verübte Blutvergießen sei ein Versagen des Gewissens der Welt…

Buchcover "Codename Caesar. Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie" im C.H. Beck Verlag
Le Caisne: "Was in Syrien geschieht, ist nicht nur eine syrische Angelegenheit. Die Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Assad-Regime geht uns auch im Westen etwas an. Der 'Islamische Staat' bezieht seine Kraft aus der Unterdrückung durch die Diktatur."

Le Caisne: Das ist ein großes Versagen der Menschlichkeit. Was in Syrien geschieht, ist nicht nur eine syrische Angelegenheit. Die Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Assad-Regime geht uns auch im Westen etwas an. Der "Islamische Staat" bezieht seine Kraft aus der Unterdrückung durch die Diktatur. Er entstand 2003 nach der amerikanischen Invasion im Irak und nach der Ausgrenzung der Sunniten durch das irakische Regime. Genauso ist es in Syrien. Aus der Unterdrückung eines gewissen Teils der Bevölkerung bezieht der IS seine Stärke.

Wie ist es zu erklären, dass die internationale Gemeinschaft vor den Geschehnissen in Syrien dermaßen die Augen verschließt?

Le Caisne: Es ist sogar noch schlimmer. Die Vereinten Nationen hat diese Verbrechen als solche anerkannt. Sie gab einen Bericht heraus über die systematische Folter in den syrischen Gefängnissen und bestätigte damit unabhängig von den "Caesar"-Fotos die Folterungen und Morde. Aber die internationale Gemeinschaft möchte sich nicht darum kümmern. Es ist für sie zu kompliziert einzugreifen. Syrien ist ein souveräner Staat, und Assad ist ein gewählter Präsident. Auch wenn er nicht demokratisch gewählt wurde, wird er doch als gewählt anerkannt.

Sie berichten, dass Barack Obama nicht bereit war, "Caesar" zu empfangen. Dabei machen Nahost-Experten ihn mitverantwortlich für das Geschehen in Syrien…

Le Caisne: Ich würde nicht sagen, dass Obama mitverantwortlich ist. Die Verantwortung trägt das syrische Regime. Aber Obama beging tatsächlich einen Fehler, als er im August 2013 nach dem Giftgasangriff nicht intervenierte. Der Grund lag darin, dass er von seinem Volk gerade darum gewählt worden war, damit er den amerikanischen Interventionen im Nahen Osten ein Ende setzt. Aber das hatte fatale Folgen. Bereits im September erfolgte die erste große Rekrutierungswelle des IS. Die Organisation trat auf als einziger Verteidiger der Muslime. Niemand auf der Welt sei bereit, den Muslimen zu helfen, die vom Regime angegriffen würden. Allein der IS verteidige die Muslime. Damit gelang es ihm, eine große Zahl an Kämpfern und Anhängern zu gewinnen.

Putin unterstützt Assad sogar. Welche Interessen hat Russland in Syrien?

Le Caisne: Russland hat einen Marinestützpunkt in Tartus. Darum hat es militärisch eingegriffen. Es benötigt diesen Stützpunkt, weil es von seinem Territorium aus nicht ins Mittelmeer gelangen kann. Außerdem warSyrien lange Zeit ein Hauptabnehmer von russischen Rüstungsgütern. Und schließlich ist Syrien für Russland wichtig, um der Welt zu zeigen, dass es eine Supermacht ist und die anderen Staaten es bei internationalen Entscheidungen nicht außen vorlassen können. Russland steckt in einer Wirtschaftskrise, und Syrien dient dazu, von den inneren Problemen abzulenken.

Wie beurteilen Sie das häufig vorgebrachte Argument, ein Sturz Assads berge die Gefahr, dass Syrien auseinanderbreche und wir vor einer ähnlichen Situation stünden wie in Libyen?

Le Caisne: Dieses Argument kam nach der Revolution von 2011 auf. Es ist ein Versuch, Assad zu retten. Aber es ist kein zulässiges Argument. Syrien ist längst auseinandergebrochen. Das Syrien von früher existiert nicht mehr. Ein Teil des Landes wird von Vertretern des Regimes kontrolliert, ein Teil von Islamisten, ein weiterer Teil von Kurden und ein kleiner Teil von gemäßigten bewaffneten Rebellen. Die verschwinden allerdings zunehmend aus Syrien. Sie stehen im Visier des IS und des Regimes. Auch die russischen Schläge galten in der Mehrheit ihnen.

"Die Welt warf die wirklichen Revolutionäre und die Dschihadisten in einen Topf", zitieren Sie ein Gründungsmitglied der Syrischen Nationalbewegung. Ist es das, was Assad erreichen wollte?

Le Caisne: Ja, Assad wollte, dass die Demonstranten für Terroristen gehalten werden. Darum befreite er 2011 Dschihadisten aus dem Gefängnis. Syrer, die gegen die amerikanische Armee im Irak gekämpft hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Syrien von Assad ins Gefängnis geworfen. Als die Revolution ausbrach, ließ Assad sie frei. Sie füllten die Reihen der Nusra-Front auf. Diese Gruppe ist mit Al-Qaida verbunden und sympathisiert auch mit dem IS. Für Assad war das ein Weg, zu zeigen, dass die Alternative zu ihm nur das Chaos sein kann. Damit erhob er die Forderung, ihn zu unterstützen und nicht die Revolutionäre. In gewissen Momenten gelang ihm diese Politik. Aber am Ende wird man einsehen, dass die Revolutionäre keine Terroristen sind.

Tatsächlich gibt es Stimmen aus der arabischen Welt, die daran festhalten, dass die Revolution erfolgreich sein werde, obwohl es in Syrien gegenwärtig nicht so aussieht. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Le Caisne: Man kann auf Dauer nicht gegen den Willen des Volkes regieren. Hierin bilden die Syrer keine Ausnahme. Als Anfang März erneute Demonstrationen in Aleppo, Idlib und an anderen Orten stattfanden, zeigte sich, dass die Syrer immer noch diesen Wunsch nach politischer Veränderung, nach Demokratie und Freiheit haben. Viele sind bereit, dafür zu sterben. Eines Tages wird die Demokratie siegen. Aber der Preis ist hoch. Dieser Sieg wird viele tausend Tote und viele blutige Kämpfe gekostet haben.

Syriens Präsident Baschar al-Assad; Foto: Syrian Arab News Agency
Krieg und Folter gegen das eigene Volk: Ermittler der Vereinten Nationen hatten der Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bereits im Februar 2016 Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Tausende Häftlinge seien in den vergangenen vier Jahren in Haft gestorben, erklärte das Gremium. Dies komme einer Vernichtung der Zivilbevölkerung gleich. Den islamistischen Rebellengruppen IS und Nusra-Front warfen die Experten zudem Kriegsverbrechen vor. So seien Hinrichtungen und die Folter von Gefangenen belegt.

Mittlerweile ist Syrien so zerstört, dass man sich nicht vorstellen kann, wie das Land wieder bewohnt werden soll. Sie haben Syrien mehrfach bereist. Was ist Ihr Eindruck?

Le Caisne: Wenn man als Journalist das Land bereist, kommt man nur in gewisse Gebiete. Darauf muss man achten bei den Fotos, die man aus Syrien gezeigt bekommt. Die schrecklichen Bilder aus der syrischen Stadt Homs etwa, die in der zweiten Märzwoche kursierten, zeigten nur die zerstörten Stadtteile. Ganz Homs ist nicht zerstört. Aber selbst wenn Syrien in Ruinen liegt, kann es wieder aufgebaut werden. Weitaus schlimmer ist der Wille des Regimes, die konfessionelle Mischung zu zerstören. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt nicht mehr in ihren Häusern. Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht. Drei bis vier Millionen haben das Land verlassen. Noch einmal so viele sind innerhalb des Landes geflohen. Häuser kann man aufbauen. Aber wenn die Beziehungen innerhalb der Familien, zwischen Nachbarn oder den Bewohnern eines Viertels zerstört sind, weiß ich nicht, was noch Hoffnung geben kann.

Welche Maßnahmen müsste der Westen ergreifen, um eine Normalisierung der Lage in Syrien zu erreichen?

Le Caisne: Vor allem müssen die Verbrechen des Regimes vor Gericht. Unter den Syrern besteht ein großes Bedürfnis, dass die Kriminellen vor Gericht gestellt werden. Es ist nicht möglich, alle Täter zu verurteilen. Aber gegen jene, die Symbolträger des Regimes sind, muss Anklage erhoben werden. Das wäre auch ein deutliches Zeichen an alle, die später einmal die Absicht verspüren, derartige Verbrechen zu begehen. Dann müssen die Waffen schweigen, damit die Syrer nicht mehr zu fliehen brauchen. Und es muss klar gestellt werden, dass Assad und die höheren Ränge des Regimes an politischen Lösungen nicht beteiligt sind. Sie tragen die Verantwortung für diese Massenverbrechen, und man kann mit Kriminellen nicht zur Tagesordnung übergehen.

Das Interview führte Ruth Renée Reif.

© Qantara.de 2016

Garance le Caisne ist eine französische Journalistin. Sie schreibt für "Le Journal du Dimanche" und "L'Obs" und berichtet seit 1990 über den Nahen Osten. Mehrfach reiste sie in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Syrien.