Dschihad als Jugendprotest

In ihrem neuen Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen" sucht die Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor nach Antworten auf die Herausforderung durch den Dschihadismus für die Muslime und die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Claudia Mende hat sich mit ihr unterhalten.

Von Claudia Mende

Frau Kaddor, fünf ihrer ehemaligen Schüler sind in den Dschihad nach Syrien aufgebrochen. Wie war das für Sie, als Sie davon erfuhren?

Lamya Kaddor: Das war schon erschreckend, weil ich die Jungs während ihrer Schulzeit eine Zeit lang begleiten konnte. Es ist schon eine komische Art und Weise, davon betroffen zu sein.

Die Schüler besuchten Ihren Religionsunterricht…

Kaddor: Ja, es waren meine Schüler, ich habe sie jahrelang unterrichtet und nach ihrer Schulzeit haben sie sich radikalisiert.

Gab es denn im Nachhinein betrachtet irgendeinen Hinweis auf die spätere Radikalisierung?

Kaddor: Nein, überhaupt nicht. Es gab dafür keine Anzeichen. Es sei denn, man wertet eine bestimmte Anfälligkeit als Anzeichen. Die Anfälligkeit besteht insofern, da diese jungen Menschen es schwer haben im Leben, weil sie einen Migrationshintergrund mitbringen, durch den sie auch Benachteiligungen ausgesetzt sind, weil sie aus sozial schwierigen Verhältnissen stammen. Somit bringen sie einige Voraussetzungen dafür mit, radikalisiert zu werden.

Welche Muster stecken hinter den Radikalisierungen?

Buchcover Lamya Kaddor: "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen" im Piper Verlag
In ihrem aktuellen Buch "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen" berichtet die Islamwissenschaftlerin von einer orientierungslosen Generation und erklärt, was wir tun können und müssen, um die Radikalisierung unserer Kinder zu stoppen.

Kaddor: Eine Grundvoraussetzung für ihre Radikalisierung ist, dass sie sich in dieser Gesellschaft verloren fühlen. Diese emotionale Instabilität bringen alle diese jugendlichen Dschihadisten mit. Ein Gefühl von Verlorensein, von Nicht-Angenommen-Sein eint sie alle. Ja, die Familien haben versagt, das muss man so deutlich sagen. Da gibt es massive soziale und emotionale Defizite, das merke ich auch bei manchen meiner Schüler – allerdings werden sie dann nicht alle Salafisten.

Trifft das auch auf Konvertiten aus deutschen Herkunftsfamilien zu?

Kaddor: Bei Konvertiten gibt es die gleichen psychosozialen Voraussetzungen wie übrigens auch bei jungen Menschen, die sich später für den Rechtsextremismus entscheiden. Sie alle fühlen sich nicht anerkannt, nicht aufgehoben. Sie suchen nach Halt und Orientierung, vielleicht auch nach Liebe – nach all dem, was die Familie ihnen nicht gegeben hat. Es muss ja einen Grund dafür geben, warum das niemand auffangen konnte. Auch die Familie hat es scheinbar nicht geschafft, die Sehnsüchte dieser jungen Menschen zu befriedigen. Und dann suchen sie eben woanders danach. Es ist nicht unbedingt ein Zufall, dass junge Muslime eine Aufwertung ihres Selbstwertgefühls im Dschihadismus suchen; der Linksextremismus spielt heute keine so große Rolle mehr und der Rechtsradikalismus scheidet für sie aus.

Seit 9/11 gibt es eine Theologisierung der Debatte. Da werden die Gründe mehr im Islam gesucht…

Kaddor: Das ist zum Teil einfach nur Islamfeindlichkeit, die sich da austobt. Keine Religion hat sich in den letzten Jahren so viel Kritik anhören müssen wie der Islam. Und es wird noch schlimmer. Schauen Sie sich die Medienberichte an, jetzt hat der Focus schon zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit eine Titelgeschichte dazu, wie schlimm doch angeblich der Islam sei. Wir müssen aber den Blick viel stärker auf die politischen und sozialen Ursachen des Dschihadismus lenken.

Sie verstehen den Dschihadismus im Kern als eine Jugendprotestbewegung. Wogegen rebellieren die Jugendlichen denn?

Kaddor: Sie rebellieren gegen das Elternhaus, gegen unseren Staat, gegen das System, das sie – jedenfalls aus ihrer Perspektive – ausgrenzt und diskriminiert. Sie haben nicht die gleichen Bildungschancen. Das ist ja auch eine Form von Ausgrenzung, auch dagegen wollen sie rebellieren.

Auch gegen ihre Eltern?

Kaddor: Was es im Einzelnen ist, kann durchaus unterschiedlich sein. Zum Beispiel ein Protest gegen die Lebenseinstellung der Eltern bei sehr traditionellen Familien. Das ist von Fall zu Fall verschieden. Ich betrachte diesen jugendlichen Dschihadismus auch als eine Rebellion gegen das eigene Elternhaus. Die Familien haben häufig versagt.

Junge, meist salafistische Anhänger jubeln am 20.04.2011 in der Innenstadt von Frankfurt am Main dem umstrittenen Prediger Pierre Vogel zu; Foto: picture-alliance/dpa/B. Roessler
Für radikale Botschaften empfänglich: "Beim Rechtsradikalismus gibt es jede Menge Präventionsprogramme, bei der Vorbeugung gegen die Radikalisierung junger Menschen gibt es fast gar nichts – zum Beispiel kaum Sozialarbeit an den Schulen, auch an den Universitäten ist das Thema noch viel zu wenig präsent", moniert Kaddor.

Doch wie erklären Sie sich im Vergleich zu anderen Protestbewegungen die gesteigerte Faszination für Gewalt?

Kaddor: Dahinter steckt eine verabsolutierende Ideologie. Und zusammen mit einem Wahrheitsanspruch will sie unbedingt aufrechterhalten werden, zur Not auch durch Gewaltanwendung. Sie legitimieren mit Gewalt diesen Wahrheitsanspruch, wozu sie vermeintlich Gott beauftragt hat.

Die Islamverbände distanzieren sich von Gewalt im Namen des Islam. Trotzdem schreiben Sie, sie hätten das Thema Salafismus verkannt und unterschätzt. Warum fällt diese Abgrenzung so schwer?

Kaddor: Vielleicht zum einen deshalb, weil Teile der Basis fundamentalistischen Strömungen doch näher stehen als den Funktionsträgern eigentlich lieb ist. Zum anderen weil sie das Phänomen und das Problem des Salafismus schlichtweg als nachrangig erachtet haben.

Also aus Angst, Teile der Anhängerschaft vor den Kopf zu stoßen?

Kaddor: Sie können es sich nicht leisten, Teile dieser Basis zu enttäuschen. Vielleicht mangelt es den Verbänden zudem an Know-how, an Konzepten und Personen, die diese Konzepte ausarbeiten. Das sehe ich als wesentlich an. Vielen fehlt die Kompetenz in diesem Bereich. Das sind aber meine Erklärungsansätze dazu.

Es gibt aber auch Probleme, die Jugend zu erreichen. Es fehlt häufig eine attraktive Jugendarbeit in den Moscheegemeinden…

Kaddor: Das ist ja Teil des Problems. Man hat zu wenig muslimische Sozialarbeiter, die man auch anständig bezahlen könnte, es ist also auch eine Frage des Geldes. Bisher stützen sich große Teile der Arbeit auf das Ehrenamt. Welcher Sozialarbeiter muslimischen Glaubens hat denn Lust, das alles noch zusätzlich zu seinem Beruf zu leisten? Ein solcher Sozialarbeiter würde dafür gerne angemessen bezahlt werden, was ja auch selbstverständlich ist. Aber die Gelder fehlen oder man investiert sie in andere Dinge als in Jugendsozialarbeit.

Von Ihren fünf ehemaligen Schülern, die zum Kämpfen nach Syrien gegangen sind, sind vier inzwischen zurückgekehrt. Wird denn genug für die Rückkehrer getan?

Kaddor: Nein, es wird überhaupt nicht genug getan. Beim Rechtsradikalismus gibt es jede Menge Präventionsprogramme, bei der Vorbeugung gegen die Radikalisierung junger Muslime gibt es fast gar nichts – zum Beispiel kaum Sozialarbeit an den Schulen, auch an den Universitäten ist das Thema noch viel zu wenig präsent. Eine der wenigen Initiativen dazu geht von der Fachhochschule Münster aus. Sie hat bei mir angefragt, ob ich für den Studiengang "Soziale Arbeit" Seminare über muslimisches Leben halten will. Es gibt noch sehr viel zu tun.

Wichtig für eine konsequente Auseinandersetzung mit Salafisten ist der innerislamische Dialog. Sehen Sie heute eine größere Bereitschaft, vielfältige Strömungen zu akzeptieren?

Kaddor: Ja und nein. Inzwischen wird eher anerkannt, dass es auch liberale Muslime gibt. Immerhin. Über die hat man sich vorher nur lustig gemacht und ihnen abgesprochen, gläubig zu sein. Inzwischen ist man so weit zu sagen: Ja, wir erkennen an, dass es liberale Muslime gibt, die anders denken als wir. Das mögen wir zwar nicht besonders. Das kann man meiner Meinung nach schon sagen, aber mehr ist es auch nicht. Eine wirklich konkrete Kooperation zwischen den Islamverbänden und dem "Liberal-islamischen Bund" gibt es bis heute nicht. Leider. Und das scheitert nicht an den liberalen Muslimen. Ich appelliere daher an die Islamverbände, mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu zeigen. Ich fordere

sie dazu auf, mit uns gemeinsam zu arbeiten, auch wenn wir uns nicht immer einig sind.

Sie beschreiben eine "Muslimisierung der Muslime" – d.h. die Erfahrung, abgelehnt zu werden, weil man zu einem bestimmten Kollektiv gehört, führt dazu, dass man sich erst recht dem zugehörig fühlt. Was können Muslime tun, um daraus auszusteigen?

Kaddor: Dafür sind Muslime selbst nicht verantwortlich. Es hat eher damit zu tun, wie die Außenwahrnehmung ist und die kann man selbst schlecht bestimmen. Der mediale Diskurs zum Thema muss sich ändern, damit die Außenwahrnehmung sich ändert.

Am Ende Ihres Buches fordern Sie jeden einzelnen Muslim dazu auf, sich von den Fanatikern zu distanzieren. Was kann denn der Einzelne tun?

Kaddor: Ich fordere nicht dazu auf, sich zu distanzieren, sondern sich zu positionieren. Das ist ein Unterschied, auf den ich viel Wert lege. Denn Distanz setzt eine Nähe voraus. Aber es gibt keine Nähe zu irgendwelchen Anschlägen auf der Welt, nur weil ich Muslimin bin. Es ist eine Frechheit, wenn mir jemand so etwas unterstellt. Ich kann bestenfalls eine Positionierung einfordern, aber definitiv keine Distanzierung.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2015

Lamya Kaddor: "Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen", Piper Verlag 2015, 256 Seiten, ISBN: 978-3-492-05703-5