Zwischen den Fronten

Im Gespräch mit Eren Güvercin berichtet der Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Dogan Akhanli über die Hintergründe seines politisch motivierten Prozesses, die türkische Justiz und die gegenwärtige gesellschaftspolitische Debatte in der Türkei.

Dogan Akhanli; Foto: dpa
Im Visier der Justiz:  Ein Istanbuler Gericht hatte den wegen Raubs und Totschlags angeklagten Akhanli vier Monate nach seiner Festnahme aus der Untersuchungshaft entlassen. Doch am 9. März soll der Prozess gegen ihn wieder fortgesetzt werden.

​​Als Sie zum ersten Mal seit fast 20 Jahren wieder in die Türkei gereist sind, um Ihren schwer erkrankten Vater zu besuchen, wurden Sie festgenommen. Die Begründung der Staatsanwaltschaft lautete, dass Sie 1989 an einem Raubüberfall beteiligt waren. Was genau hat man Ihnen vorgeworfen?

Dogan Akhanli: Laut Staatsanwaltschaft soll es dafür Beweise gegeben haben, dass ich einer der drei Täter bei dem Raubüberfall im Jahr 1989 gewesen bin. Einer der Augenzeugen dieser Tat, der bei diesem Raubüberfall auch seinen Vater verlor, soll mich angeblich auf Fotos wiedererkannt haben. Das Problem ist nicht so sehr, dass ich festgenommen wurde. Ich verstehe, dass man diesen schrecklichen Vorfall klären will. Doch das Problem ist vielmehr, dass dieser Zeuge drei Tage später ausgesagt hat, dass er nie jemanden auf einem Foto identifiziert hat. Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin diese Äußerung nicht nur ignoriert, sondern auch versucht, sie zu verheimlichen.

Dieser Raubüberfall ist wirklich ein schweres Verbrechen, das sollte man nicht ignorieren. Aber nun begeht der Staat ein Verbrechen, wenn der Staatsanwalt – aus welcher Motivation auch immer – einen Täter fingiert, der ihnen gerade gelegen kommt. Ich werde zum Führer einer terroristischen Organisation gemacht, die gar nicht existiert. Erst in der Anklageschrift habe ich den Namen dieser Organisation erfahren, die ich überhaupt nicht kenne. Ich habe mit solch einer Organisation nie etwas zu tun gehabt.

War das vielleicht eine späte Rache für Ihre Aktivitäten in linken Organisationen während der turbulenten Zeit vor dem Putsch von 1980?

Akhanli: Eine Motivation war sicherlich, dass ich ein linker Untergrundkämpfer war. Das aktuelle Problem der Staatsanwaltschaft war dann, dass ich nach 20 Jahren Exil jetzt als Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist zurückgekehrt bin. Ich habe mich nicht vor der Geschichte gebeugt, denn ich bin weiter kritisch geblieben. Der Staatsanwalt wusste genau, wer ich bin. Er hatte alle Zeitungsausschnitte von mir gesammelt. Man muss schon sagen, er hat seine Arbeit sehr ernst genommen. Doch obwohl er gesehen hat, dass ich mit diesem Fall nichts zu tun habe, hat er dennoch hinterhältig versucht, etwas daraus zu konstruieren.

Günter Wallraff; Foto: dpa
"Was die Justiz mit Akhanli gemacht hat, war klare Freiheitsberaubung", erklärte der deutsche Journalist und Freund Akhanis, Günter Wallraff.

​​Wie reagierte die Regierung auf Ihre Festnahme?

Akhanli: Das wissen wir nicht genau. Es gab von deutscher Seite eine Protestnote an das Justizministerium in Ankara. Das Justizministerium hat danach vom zuständigen Richter eine Erklärung gefordert. Sowohl der Staatsanwalt als auch der zuständige Richter haben nach dieser Aufforderung seitens des Justizministeriums 15 Tage lang verstreichen lassen. Erst als das Justizministerium erneut aktiv wurde, reagierten Staatsanwaltschaft und Richter, indem sie einfach nur die Anklageschrift ohne jeglichen Kommentar an das Justizministerium schickten. Daran erkennt man, dass es zwischen der Regierung und der Justiz Konflikte gibt.

Seit einigen Jahren findet ja eine ernste Auseinandersetzung zwischen der Regierung und einigen Kreisen innerhalb der Justiz und des Militärs statt. Sind Sie ein Stück weit vielleicht zwischen diese Fronten geraten? Boten Sie womöglich diesen Kreisen innerhalb der Justiz eine willkommene Gelegenheit, um durch einen solchen Skandal die Regierung vor der Europäischen Union zu diskreditieren?

Akhanli: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich zwischen die Fronten geraten bin. In der Türkei ist alles sehr politisiert. Nehmen sie etwa den Ergenekon-Prozess. Dass mit den dunklen Kapiteln der türkischen Vergangenheit abgerechnet werden soll, ist grundsätzlich sehr gut. Doch kann man in diesem Verfahren auch beobachten, dass nicht alles so korrekt läuft. Mittlerweile wird auch dieser Prozess immer mehr politisiert.

Laut türkischen Presseinformationen sollen die für meinen Fall zuständigen Staatsanwälte und Richter dem nationalistischen Lager angehören. Deswegen haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass ich hier zwischen diese Fronten geraten bin. Wenn ich jetzt lebenslänglich ins Gefängnis kommen würde, wäre das für diese nationalistischen Kreise kein Problem. Die Regierung dagegen würde dadurch in eine schwierige Situation kommen.

Ihr Prozess wird jetzt im März weitergeführt. Was erwarten Sie von dem Verfahren? Und werden Sie überhaupt an dem Prozess teilnehmen – angesichts der Gefahr, wieder festgenommen zu werden?

Akhanli: Am Anfang hatte ich den Entschluss gefasst, nicht mehr an dem Prozess teilzunehmen. Da ich vor Gericht schweigen wollte, hätte das nicht viel Sinn gemacht. Aber mittlerweile bin ich der Ansicht, es ist vielleicht doch besser am Prozess teilzunehmen, um durch meine Anwesenheit dieser staatlichen Willkür – denn nichts anderes stellt dieser Prozess dar – die Stirn zu bieten.

Wenn man sich die Entwicklungen in den letzten Jahren beobachtet, ist in der Türkei vieles im Wandel. Die Armenienfrage oder das Kurdenproblem können offen angesprochen werden. Trotzdem gibt es immer wieder Rückschritte. Wie bewerten Sie die Entwicklung der letzten Jahre sowie die immer wiederkehrenden Justizskandale?

Einwohner Diyarbakirs feiern kurdisches Neujahrsfest; Foto: AP
Neue politische Dialogbereitschaft und Zurückhaltung im Kurdenkonflikt - Einwohner Diyarbakirs feiern kurdisches Neujahrsfest

​​Akhanli: Auf der einen Seite sehe ich natürlich auch die positiven Veränderungen in der türkischen Gesellschaft. Man kann das nicht ignorieren. Es wäre ungerecht gegenüber den demokratischen Kräften in der Türkei, dies nicht zu sehen. Das Problem bei dieser Entwicklung ist aber, dass die Regierung fast die einzige politische Kraft ist, die diese Veränderungen vorantreiben will. Die anderen politischen Kräfte im Land wollen das aber nicht. Diese Situation führt in eine Sackgasse.

Was ich in den vier Monaten meines Türkei-Aufenthaltes sehen konnte, ist, dass es eigentlich nur zwei politische Kräfte gibt, die fähig sind, tatsächlich Politik zu betreiben. Das sind zum einen die Kurden und die Regierung. Wenn man sieht, wie die beiden Seiten über die Kurdenfrage diskutieren, hegt man große Hoffnungen. Teilweise hat man eine so mutige und offene Diskussion, die man sich nicht einmal in Deutschland vorstellen könnte.

Die Regierung traut sich, große Kompromisse einzugehen und führt hinter den Kulissen sogar Gespräche mit Abdullah Öcalan. Aber immer wieder gibt es bei diesem Prozess auch Rückschritte, so zum Beispiel wenn die Regierung auf einmal wieder von einem Land, einer Sprache und einer Nation spricht. Dieses Gerede von einer nationalistischen Ideologie ist das Projekt der Jungtürken, was ja gerade die Ursache für dieses Problem war. Insbesondere auf türkischer Seite gibt es noch große Hürden. Gerade unter den Intellektuellen wird das Unrecht gegenüber den Kurden nicht gesehen, auch nicht unter den Linken.

Kann man sagen, dass das Hauptproblem der Türkei darin besteht, dass eigentlich gar keine wirkliche Opposition existiert? Die laizistische Republikanische Volkspartei (CHP) etwa, die sich ja als sozialdemokratisch bezeichnet, ist schwach und polarisiert die politischen Debatten...

Akhanli: Das stimmt. Das größte Problem in der Türkei ist das Fehlen einer guten Oppositionsarbeit. Vor allem gibt es überhaupt keinen Raum für Diskussionen. Stattdessen herrscht eine enorme Polarisierung vor. Die politische Landschaft in der Türkei ist immer noch sehr ideologisch geprägt – es gibt nur Freund und Feind. Die sogenannte Opposition, sei es nun die CHP oder die MHP, sucht nur nach Anlässen, um immer wieder die Gesellschaft zu polarisieren. Wenn die CHP weiter so eine schlechte Oppositionspolitik führt und weiter eine militaristische Linie verfolgt, werden sie immer mehr Stimmen verlieren. Sie müssen einen anderen Weg einschlagen. Sie bezeichnen sich als sozialdemokratisch, aber ihre Politik ist alles andere als sozialdemokratisch.

Plakat des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu; Foto: AP
"Es gibt nur Freund und Feind" - Polarisierung als politisches Konzept: Kemal Kilicdaroglu, Oppositionsführer der laizistischen CHP

​​ Statt diesen Kulturkampf zu schüren, müsste die CHP als sozialdemokratische Partei doch eher die neoliberale Wirtschaftspolitik Erdogans kritisieren?

Akhanli: Ich habe das Gefühl, dass die CHP daran gar kein Interesse hat. Während meiner Haftzeit habe ich intensiv die Presse in der Türkei verfolgt. Nach meiner Freilassung habe ich auch mit vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen. Dabei konnte ich feststellen, dass insbesondere die CHP eine äußerst dumme Politik verfolgt. Man bekommt den Eindruck, dass die CHP sich nur mit der Kopftuch-Debatte beschäftigt. Sie können es einfach nicht bleiben lassen, obwohl sie durch diese unsinnige Debatte immer mehr an Ansehen im Volk verlieren. Sie haben keine eigenen politischen Ideen oder Visionen – zum Beispiel, was die Wirtschaftspolitik des Landes angeht. Sie reagieren nur auf das, was Erdogan sagt.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie damals, während des Widerstandes gegen das Militärregime, auch Fehler gemacht haben. Worin bestanden diese Fehler und was würden Sie heute anders machen?

Akhanli: Wir hatten damals im Grunde genommen keine Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft aussehen sollte. Wir wollten einfach nur zeigen, dass wir da sind. Wir haben nur unseren Mut gezeigt. In Izmir, wo ich damals gelebt habe, waren wir fast 400 junge Leute, die im Untergrund tätig waren. Obwohl die Situation sehr gefährlich war, haben so viele junge Menschen mitgemacht. Wenn ich mir aber heute die Flugblätter und Zeitungen, die wir im Untergrund gedruckt haben, lese, muss ich doch jedes Mal schmunzeln. Ich kann mich damit gar nicht identifizieren.

Es gab zwar kampfbereite Gruppen, die bereit waren, gegen das Militärregime zu arbeiten, doch wir waren damals sehr naiv und hatten auch keine Ahnung, wie wir überhaupt etwas in Bewegung bringen sollten. Wir hatten kein Ziel vor Augen. Unsere Gruppe in Izmir war eine kommunistisch orientierte Bewegung, in der es überhaupt nicht möglich war, über inhaltliche Dinge zu diskutieren. Es war eine sehr ideologisch geprägte Zeit, in der kein Raum für Diskussionen herrschte.

Können Sie sich noch vorstellen, in die Türkei zu reisen – nach dem Trauma, Ihren Vater wegen der Festnahme nicht mehr gesehen zu haben?

Akhanli: Zunächst waren Wut und Enttäuschung in mir sehr groß. Das ging sogar so weit, dass ich mit diesem Land nichts mehr zu tun haben wollte. Die Verletzung, die ich durch diese ganze Sache erfahren habe, war einfach zu gewaltig. Aber diese Wut wäre dann für mich eine Niederlage gewesen, da ich mit diesem Land endgültig abgeschlossen hätte, wenn es dabei geblieben wäre.

Ich habe nach meiner Freilassung dann aber meinen Geburtsort und die Gräber meiner Eltern und meines Bruders besucht. Diese Reise war nach diesen ganzen Problemen, die mir bereitet wurden, etwas sehr Schönes. Das hat mir deutlich vor Augen geführt, dass die Türkei nicht nur aus verschiedenen politischen Kräften besteht, sondern auch aus so vielen Menschen und Hoffnungen. Meine Wut hat sich nun gelegt. Ich kann wieder sagen, dass die Türkei – neben Deutschland – für mich das das wichtigste Land ist.

Doch bei meiner Ausreise stieg kurzweilig wieder der Zorn in mir auf, als gegen mich ein Einreiseverbot verhängt wurde, ohne dass ich jemals etwas Schriftliches erhalten hatte. Dann bekam ich auch wieder diese Angst, jederzeit Opfer staatlicher Willkür werden zu können. Das hat mich so beunruhigt, dass ich während meines Rückfluges es sogar kurz für möglich hielt, dass das Flugzeug zum Rückflug gezwungen werden könnte, weil vielleicht wieder neue "Beweise" gegen mich vorliegen. Man kann also schnell den Bezug zur Realität verlieren.

Interview: Eren Güvercin

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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