Vorrang für die Freiheit der Wissenschaft

Ömer Özsoy erhielt im Jahr 2007 als erster muslimischer Theologe eine Professur an einer deutschen Hochschule. Er lehrt Koranexegese am Institut für Studien und Kulturen der Goethe-Universität in Frankfurt und betont in der Debatte um die Ausrichtung der Islamischen Theologie vor allem die Freiheit der Wissenschaft. Claudia Mende hat sich mit ihm unterhalten.

Von Claudia Mende

Herr Özsoy, kann eine Islamische Theologie zugleich authentisch islamisch und wissenschaftlich sein?

Ömer Özsoy: Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass eine islamische Theologie erst dann Authentizität für sich beanspruchen kann, wenn sie wirklich wissenschaftlich ist und nach etablierten wissenschaftlichen Standards betrieben wird.

Politik und Öffentlichkeit haben hohe Erwartungen an die neu eingerichteten Islamischen Zentren. Wie gehen Sie mit diesen Erwartungen um?

Özsoy: Im Dialog mit allen Betroffenen und Beteiligten, mit der Politik, den islamischen Verbänden, mit wissenschaftlichen Adressaten und Partnern. Wir sind sehr erfreut über die Ergebnisse, die wir bis jetzt erzielt haben. In Hessen sind bisher zwei islamische Religionsgemeinschaften von der Landesregierung anerkannt worden, Ditib und Ahmadiyya, so dass wir nicht auf das – aus unserer Frankfurter Sicht – schlechte Beiratsmodell zurückgreifen müssen. Die Erwartungen an die theologischen Lehrstühle sind sehr unterschiedlich und schwer miteinander in Einklang zu bringen. Man kann nur eine Annäherung in einem diskursiven Dialog der Partner erzielen.

Es gibt aber die klare Erwartung, einen europäischen und reformorientierten Islam zu entwerfen.

Das Hörsaalgebäude der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main; Foto: dpa/picture-alliance
Seit 2007 hat Professor Özsoy die Stiftungsprofessur für Islamische Religionswissenschaft im Fachbereich Evangelische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main inne. Seit dem Jahr 2009 besteht an der Frankfurter Goethe-Universität im Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften ein "Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam".

Özsoy: Eine Islamische Theologie, die in Deutschland etabliert und betrieben wird, als deutschen oder europäischen Islam zu bezeichnen, finde ich überflüssig. Das ist selbstverständlich, weil die Theologie als Geisteswissenschaft mit praktischen und gesellschaftspolitischen Komponenten diesen lokalen, kulturellen Ton hat. Da ist es normal, dass islamische Theologie in Deutschland anders aussieht als in der Türkei oder in Ägypten. Die Bezeichnung sorgt nur für Missverständnisse und Verunsicherung bei den Adressaten der Theologie – so als würde man eine Staatstheologie bestellen, was wir nicht nötig haben. Reformorientiert heißt: Es ist ja klar, dass die Wissenschaft ergebnisoffen erfolgen soll. Wenn wir irgendeine ideologische Orientierung vorgeben, dann können wir nicht ergebnisoffen forschen. Dann folgt man einem Auftrag bzw. beauftragt sich selbst, zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen.

Gibt es einen Unterschied zwischen christlicher und islamischer Theologie beim Umgang mit den heiligen Texten? Stichwort historisch-kritische Methode.

Özsoy: Die Islamische Theologie hat eine neue Heimat in Deutschland, wo sie auch auf Deutsch vermittelt, d.h. gesprochen wird. Wo sie traditionell betrieben wird, in der arabischen Welt oder der Türkei, spricht sie in anderen Begrifflichkeiten. Aus diesen Begrifflichkeiten können wir aber eine historisch-kritische Herangehensweise ableiten, auch wenn sich das nicht so nennt. Ich sehe keinen Anlass für Vorbehalte, dass wir als muslimische Theologen auf diese Methode nicht zurückgreifen sollten.

Es geht doch in der historisch-kritischen Methode um die Genese und die Exegese der Schriften, also darum wie diese Texte entstanden sind und wie man sie verstehen kann. Muslime lehnen die Annahme nicht ab, dass diese Texte eine Geschichte haben. Der Koran ist ursprünglich kein Text gewesen, sondern erst zu Text geworden. Wenn Texte oder Abschnitte des Textes in bestimmten Situationen entstanden sind, dann müssen sie auch auf diesen Kontext zurückgeführt und in diesem Kontext verstanden werden.

Das heißt, Sie arbeiten mit dieser Methode?

Özsoy: Ich betreibe auch historisch-kritische Exegese. Wir können keinen Text für eine andere Zeit zum Sprechen bringen, wenn wir nicht verstanden haben, was der Text eigentlich sagen will. Da haben Muslime eine unbegründete Scheu vor der historisch-kritischen Methode, weil sie in ihrer bekannten Form ausschließlich christlich geprägt ist. Muslime haben Angst davor, zu denselben Ergebnissen wie die Bibelforschung zu kommen, wonach die Texte nicht so unproblematisch auf Gott, Jesus, Moses oder beim Koran auf Mohammed zurückgeführt werden können.

Imam liest den Koran in der Berliner Sehitlik-Moschee; Foto: dpa/picture-alliance
Für ein zeitgemäßes Verständnis des Korans: Der Koran ist ursprünglich kein Text gewesen, sondern erst zu Text geworden. Wenn Texte oder Abschnitte des Textes in bestimmten Situationen entstanden sind, dann müssen sie auch auf diesen Kontext zurückgeführt und in diesem Kontext verstanden werden.

Kann das nicht zu Spannungen zwischen Glauben und theologischer Wissenschaft führen?

Özsoy: Mit was verpflichtet sich denn eine Theologie als Wissenschaft? Wenn sich wissenschaftlich nachweisen lässt, dass der Koran nicht authentisch aufbewahrt werden konnte, dann ist das die Wahrheit. Dann müsste man die Theologie daran anpassen. Aber das ist nicht so. Im Falle des Koran haben wir überhaupt keinen Anlass, nach Autoren der Textabschnitte zu suchen. Uns liegt ein einheitlicher Text vor, der aus dem Guss einer Person stammt. Die Muslime nennen das Offenbarung. Für Islamwissenschaftler sind es die Worte des Propheten Mohammed, für Muslime Worte Gottes in einer menschlichen Sprache. Abgesehen von dieser Glaubensdimension ist historisch nachvollziehbar, wie das, was Mohammed ausgesprochen hat, aufbewahrt und bis heute tradiert worden ist. Das ist eine Fragestellung von Sprach- und Geschichtswissenschaft.

Wo sehen Sie Unterschiede zur christlichen Theologie?

Özsoy: Ich habe ein Problem damit, dass man bei Dialogveranstaltungen entweder nach Differenzen oder nach Gemeinsamkeiten schaut. Es ist aber so, dass sich die Differenzen in den Gemeinsamkeiten ergeben. Das beste Beispiel dafür ist die Annahme der Offenbarung. Beide Religionen bauen auf einem Offenbarungsverständnis auf, wonach Gott mit den Menschen in Beziehung steht. Aber wie diese Offenbarung zustande kommt und was für Konsequenzen das jeweils unterschiedliche Verständnis mit sich bringt, daran scheiden sich die Geister.

Der Islam ist als Fortführung der jüdisch-christlichen Offenbarungstradition anzusehen. Der Koran übernimmt auch die biblische Schöpfungsgeschichte, aber er formt sie um. Im Koran haben wir ein Narrativ vorliegen, aus dem wir weder eine Heilsgeschichte noch die Erbsünde ableiten können.

Was bedeutet das?

Özsoy: Ich gehe nicht von Unterschieden sondern von Gemeinsamkeiten aus, aber es könnte auch Differenzen in Gemeinsamkeiten geben – nicht weil Muslime und Christen über unterschiedliche Denkstrukturen verfügen, sondern weil ihnen verschiedene Materialien der Reflexion vorliegen. Muslime haben in der Entstehungsphase und im frühen Islam nie den Bedarf gesehen, sich und den muslimischen Glauben der Rationalität gegenüber zu rechtfertigen. Das ist im Christentum anders. Trinität, Heilsgeschichte oder Kreuzigung und Auferstehung Jesu sind sehr kompliziert und müssen rational gerechtfertigt werden. Der Islam ruft die Menschen nicht zu einem bestimmten Narrativ auf, sondern zu etwas, was der Mensch ohnehin schöpfungsbedingt mit sich trägt.

Ist Ihrer Ansicht nach die gesamte Vielfalt islamischer Traditionen an den deutschen Universitäten gewährleistet?

Özsoy: Momentan noch nicht, aber das muss der Fall sein und da bin ich sehr optimistisch.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de