"Die islamische Welt braucht jemanden wie Luther"

Mitri Raheb ist lutherischer Pastor, arabischer Christ und Gründer des Internationalen Begegnungszentrums in Bethlehem. Im Gespräch mit Martina Sabra äußert er sich zum Einfluss Luthers im Mittelosten, den Chancen einer Islam-Reformation und Antisemitismus-Vorwürfen.

Von Martina Sabra

Sie haben im Jahr 2006 eine arabischsprachige Webseite über Luther kreiert, "Luther in Arabic.org". Was war ihr Anliegen, wen wollten Sie damit erreichen?

Mitri Raheb: Wir wollten einer breiten Öffentlichkeit in Palästina Informationen zur lutherischen Kirche anbieten, vor allem für die junge Generation. Wir haben im Westjordanland ja mehrere lutherische Schulen, und wir begehen auch die protestantischen Feiertage. Am Reformationstag haben viele junge Leute frei, aber sie wissen nicht, warum.

Wie hat sich die Präsenz der Protestanten im Nahen Osten entwickelt?

Raheb: Die Geschichte der evangelischen Kirche hier im Heiligen Land begann im Jahre 1841. Preußen und England wollten ursprünglich eine gemeinsame lutherisch-anglikanische Kirche im Heiligen Land gründen. Das hat zunächst funktioniert, aber aufgrund politischer und theologischer Differenzen trennte man sich 1886. Heute sind ungefähr 10 Prozent der Christen in Palästina Lutheraner, wobei alle Christen zusammen nur rund zwei Prozent der palästinensischen Bevölkerung ausmachen. Wir sind eine winzige Minderheit von gut 3.000 Gläubigen.

Trotz des geringen Bevölkerungsanteils ist der kulturelle Einfluss der Lutheraner relativ groß. Wie schätzen Sie ihn ein?

Raheb: Wir haben im Westjordanland insgesamt fünf Schulen und eine lutherische Universität, das "Dar Al-Kalima" in Bethlehem. Außerdem betreiben wir das Konferenz- und Kulturzentrum "Diyar". Die Erziehungsarbeit war für die Lutheraner im Heiligen Land immer sehr wichtig. Wir haben eine der ersten Schulen überhaupt in diesem Land gegründet, und viele palästinensische Führungskräfte sind aus diesen Schulen hervorgegangen.  

Wie sind die lutherischen Glaubensgrundsätze rezipiert worden? Worin bestehen die Unterschiede im Vergleich zu Deutschland, zu Europa?

Raheb: Die lutherische Kirche hat in Palästina Pionierarbeit geleistet, weil sie von Anfang an eine Liturgie auf Arabisch eingeführt hat. Alle christlichen Konfessionen haben in fremden Sprachen gebetet: die Katholiken auf Lateinisch, die Orthodoxen auf Griechisch, die Syrer auf Aramäisch, die Armenier auf Armenisch. Immerhin, die Melkiten kannten einen Mix aus Arabisch und Griechisch. Die Lutheraner haben auch als erste die Predigt im christlichen Gottesdienst eingeführt. Dann kam die Frage auf, ob die Gläubigen über die Predigt diskutieren sollten? Die Lutheraner ersetzten auch Rituale, wie den Weihrauch, die teils überbordende Marienverehrung und Geisterglauben durch den sogenannten "denkenden Glauben". Bis heute ist das vielleicht das wichtigste Zeichen lutherischer Spiritualität im Heiligen Land, dieser denkende Glaube, weg von all dem, was die Ratio nicht anspricht.

Bildnis Martin Luthers; Foto: picture-alliance/akg-images
Mitri Raheb: "Die islamische Welt braucht jemanden wie Luther, der Gott in Frage stellt, und zwar im Namen Gottes. Luther ging davon aus, dass er ein ursprüngliches Gottesverständnis freigelegt hatte, unabhängig von Äußerlichkeiten. Ich denke, dass die islamische Welt zum Teil genau damit ringt. Es geht um ein neues Verständnis der Religion, um einen Islam, der nicht auf Gesetze und Vorschriften reduziert wird."

Wie haben die angestammten christlichen Gemeinden in Palästina auf die Lutheraner reagiert?

Raheb: Anfangs war es ein Kampf: Die Protestanten haben das Antikatholische und Antiorthodoxe sehr betont; die Gegenseite war extrem antilutherisch. Den Protestanten war die Bibelfrömmigkeit sehr wichtig. Deshalb haben sie Schulen gegründet, damit die Menschen überhaupt die Bibel lesen können. Die evangelischen Christen hier waren bekannt dafür, dass sie die Bibel viel besser kannten als die alteingesessenen orthodoxen Priester, die teilweise nie in ihrem Leben die Bibel gelesen hatten. 

In Bezug auf den Islam wird immer wieder die Forderung erhoben, dass der Islam eine Aufklärung und eine Art Luther brauche. Auch manche muslimische Religionskritiker oder religiöse Reformdenker wurden schon als "Luther des Islams" bezeichnet. Sie selbst, Herr Raheb, gehören zur Minderheit in einer christlichen Minderheit, in einem muslimisch geprägten Kontext. Die Mehrheit der Bevölkerung Bethlehems ist muslimisch. Ein "Luther des Islam" – was löst diese Vorstellung bei Ihnen aus?

Raheb: Ich verfolge solche Debatten mit gemischten Gefühlen. Einerseits halte ich es für riskant, wenn man meint, die ganze Weltgeschichte müsse nach europäischem Muster laufen. Das ist ja eines unserer Grundprobleme, dieses westliche Überlegenheitsdenken. Aber auf der anderen Seite halte ich die Forderung für berechtigt. Die islamische Welt braucht jemanden wie Luther, der Gott in Frage stellt, und zwar im Namen Gottes. Luther ging davon aus, dass er ein ursprüngliches Gottesverständnis freigelegt hatte, unabhängig von Äußerlichkeiten. Ich denke, dass die islamische Welt zum Teil genau damit ringt. Es geht um ein neues Verständnis der Religion, um einen Islam, der nicht auf Gesetze und Vorschriften reduziert wird.

Hat eine islamische Reformation eine Chance?

Raheb: Ganz sicher, und ich sehe auch einige islamische Denker, die in diese Richtung denken. Doch wir sollten nicht nur auf Einzelpersonen schauen, sondern auch auf den historischen Kontext. Luther kam in gewissem Sinn zur rechten Zeit, es war eine Art "Kairos"-Moment. Deutschland und Europa waren im Wandel, der Humanismus, die Wissenschaften, die politischen Verhältnisse, der Buchdruck – all das trug zum Erfolg seiner Ideen bei. Ohne den passenden politischen Kontext wäre Luther einfach ein Mönch gewesen, mit großen Ideen, aber ohne Wirkung. Dieser rechte Zeitpunkt ist in der arabisch-islamischen Welt noch nicht gekommen. Das betrifft auch die politischen Bedingungen. Also die Zeit ist noch nicht ganz reif.

Palästinensische Proteste gegen israelische Besatzung; Foto: Reuters
Unmissverständliche Kritik an israelischer Besatzung: Mit einem deutlichen Appell für ein Ende der seit 50 Jahren andauernden israelischen Besatzung Palästinas hatte vor zwei Monaten eine internationale katholische Bischofsgruppe ihren Besuch im Heiligen Land abgeschlossen. "Der Dauerzustand der Besatzung macht beide krank - Besatzer und Besetzte", erklärte damals der Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann.

Martin Luther vertrat teilweise antijüdische Positionen, die er theologisch begründete. Was bedeutet es, sich im israelisch-palästinensischen Kontext als Lutheraner kritisch mit dem Antijudaismus in Luthers Schriften auseinanderzusetzen?

Raheb: Das bedeutet, dass man sich als Christ nicht dadurch profiliert, dass man "die Anderen" schlecht macht. Wir müssen Antjudaismus entlarven, genauso wie jegliche Form von Islamphobie oder Fremdenhass. Man muss anerkennen, dass es innerhalb der monotheistischen Religionen wie auch zwischen Christentum, Judentum und Islam sowohl Kontinuitäten als auch Brüche gibt.

Religiöser Pluralismus ist heute unverzichtbar und wir sollten die Unterschiedlichkeit bejahen. Es gibt ja nicht nur religiös motivierten Antijudaismus. Es gibt auch Evangelikale, die die Heilige Schrift als anti-palästinensisch interpretieren. Da wird Gott als "Gott Israels" evoziert, um Krieg gegen die Palästinenser zu rechtfertigen. Die gute Nachricht (Ev-Angelium) wird auf diese Weise zu einer schlechten Nachricht für uns als Palästinenser. Auch das ist nicht akzeptabel.

Ihnen wurde wegen Ihrer palästinensischen Befreiungstheologie Antisemitismus vorgeworfen. Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um?

Raheb: Antisemitismus wird heute als Vorwurf benutzt, um jegliche israelkritische Stimmen zu unterbinden. Da man keine Debatte über die israelische Besatzung haben möchte, versucht man mit solchen Vorwürfen, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Die Lehre von Ausschwitz kann aber nur eine sein: Courage zu zeigen, die Unterdrückung eines Volkes beim Namen zu nennen, und sich gerade nicht auf die Seite eines ungerechten Staates zu stellen. Deshalb rede ich weiter – solange, bis ein gerechter Friede da ist.

Das Interview führte Martina Sabra.

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