''Mehrere Wege führen zu Gott''

Der libanesische Künstler und Schriftsteller Ghazi Kahwaji; Foto: Ghazi Kahwaji
Der libanesische Künstler und Schriftsteller Ghazi Kahwaji; Foto: Ghazi Kahwaji

Der libanesische Künstler und Schriftsteller Ghazi Kahwaji sieht in der Wiederbelebung des mediterranen Humanismus eine Grundlage für den interkulturellen Dialog zwischen den arabischen und europäischen Gesellschaften. Mit ihm sprach Aladdin Sarhan.

Von Aladdin Sarhan

In Ihren Schriften betonen Sie stets Ihre mediterrane Herkunft. Warum?

Ghazi Kahwaji: Die Gegend um das Mittelmeer weist Merkmale auf, die sonst in keiner anderen Region der Erde zu finden sind. In dieser Region sind drei Hochkulturen und drei Religionen entstanden, die die Welt bis heute nachhaltig prägen. Die Weltreligionen begründeten ihrerseits drei große Kulturen, die sich gegenseitig bereichert haben: die jüdische, die christliche und die islamische Kultur.

Wir Menschen aus den mediterranen Ländern können von uns behaupten, dass wir historisch einen großen Beitrag zur Zivilisation geleistet haben. Wenn wir aus einer historischen Perspektive auf den Mittelmeerraum schauen, von Südeuropa über Ägypten bis hin zur libanesischen Küste, können wir einen hochentwickelten Kulturraum beobachten.

Die Völker der Mittelmeerländer verband etwas ganz Spezielles, obwohl jedes Land seine Besonderheiten hatte. Es gab einen starken Faden, der alle diese Völker in ausgeprägter Eigenheit zusammenhielt, während sie zugleich ihre Identität bewahrten. Die mediterrane Identität war vielfältig und diese Vielfalt war in einem Humanismus vereint. Ein Merkmal der länderübergreifenden mediterranen Kultur war, dass sie humanistisch und um den Anderen willen existierte.

Mediterrane Vielfalt und friedliches Zusammenleben der Kulturen: "Es gab einen starken Faden, der alle diese Völker in ausgeprägter Eigenheit zusammenhielt, während sie zugleich ihre Identität bewahrten", so Ghazi Kahwaji.

​​In den Mittelmeeranrainer-Staaten bemühte man sich darum, sowohl lokal als auch transnational zu wirken. Wie erreichen wir den Anderen? Das war die Frage, die die Völker des Mittelmeers stets beschäftigte. Heute müssen wir uns andere Fragen stellen: Wie kann der Anschluss an den Anderen zurückgewonnen werden? Wie stelle ich eine Verbindung zum europäischen Anderen her, ohne mich in ihm aufzulösen und ohne mit ihm zu verschmelzen, so dass wir eine gewisse Distanz und Unabhängigkeit wahren können, aber gemeinsam zu einem einzigen Stern blicken, gemeinsam zu einem Licht? Das ist das, was gegenwärtig gefordert ist.

Muss diese humanistische Kultur nicht zuerst in dem eigenen Land wiederbelebt werden, bevor man sich darüber Gedanken macht, wie der Anschluss an den Anderen zurückgewonnen werden kann?

Kahwaji: Das ist richtig. Streit und Konflikte werden niemals zur Wiederbelebung unserer humanistischen Tradition führen. Vielmehr verleiten sie dazu, den Humanismus in Anti-Humanismus zu verwandeln – wie beispielsweise dieser furchtbare Konfessionsstreit, der den libanesischen Bürgerkrieg begleitet hat.

Auf der Suche nach vermissten Familienangehörigen: Bis heute ist das Trauma des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs in den Kopfen der libanesischen Zivilbevölkerung präsent. Nur langsam beginnt das Land sich seiner konfliktreichen Vergangenheit zu stellen.

​​Die Libanesen haben sich gestritten – über den Weg zu Gott, über die richtige Abzweigung auf diesem oder jenem Weg, über den richtigen Blickwinkel… und das alles nach unsinnigem und lächerlichem Gerede über die Zeit hinweg. Ich glaube, dass es mehrere Wege gibt, die zu Gott führen, und nicht nur einen. Der Streit über diese verschiedenen Wege wird allerdings niemals zu Gott führen.

Sie reagieren auf arabische und libanesische Tragödien häufig mit sarkastischen Texten...

Kahwaji: Ich bin von Natur aus am ehesten ein Vertreter der Komödie. Ich bin davon überzeugt, dass es viel besser ist, sich dem Anderen mit einem Lächeln zu nähern, als mit Tränen.

Was ist der Grund dafür, weshalb die meisten arabischen Schriftsteller zum Pessimismus tendieren?

Kahwaji: Im Allgemeinen schreiben die Araber positiv über ihr Land, ihr Volk, ihre Bräuche und Traditionen. Ich bin da genau das Gegenteil. Ich schreibe nichts außer Negatives. Und ich werde wohl niemals etwas Positives schreiben über das, was ich sehe. Denn ich bin davon überzeugt, dass alles Positive zu den Selbstverständlichkeiten zählt, über die nicht geschrieben wird. Ich schreibe nicht über das, was zu den Pflichten des Bürgers oder des Staats gehört. Ich sehe nur, was negativ ist. Ich dokumentiere es, schreibe darüber und kritisiere es und schimpfe darüber, und das bis auf die Knochen und immer in dem gleichen sarkastischen Stil.

Die libanesische Kultur ist immer noch vom Bürgerkrieg der 1970er und 1980er Jahre geprägt. Haben die unzähligen Werke, die während und nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen entstanden sind, dazu beigetragen?

Kahwaji: Aus dem Krieg geht keine Kultur hervor. Es gibt schlicht keine Kultur des Krieges. Kriege bringen nur Zerstörung, sowohl materielle als auch immaterielle. Es gibt aber wohl etwas, was als „Kriegsliteratur“ bezeichnet wird. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Kreative nichts schaffen kann, solange er sich inmitten eines Kampfes befindet.

Es muss einige Zeit vergehen, damit die Dinge reifen können und er objektiv schreiben kann. Ich nehme das zum Beispiel bei dem französischen Schriftsteller Albert Camus oder bei Jean-Paul Sartre wahr. Beide haben über Themen geschrieben, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stehen. Dies geschah jedoch als dieser Krieg mehr als 30 Jahre zurücklag. Damit die Dinge klar werden und sich bemerkbar machen, kann derjenige, der schreibt, nicht direkt in den Krieg involviert sein.

Es macht einen großen Unterschied, ob man die Geschichte dokumentiert, nachdem sie stattgefunden hat, oder ob man aus der Fantasie schöpfend darüber schreibt, während sie geschieht. Es gibt also einerseits Literatur, andererseits Dokumentation. Man kann auf der Basis der Dokumentation allerdings schöpferisch Dichtung, Theaterstücke, Kurzgeschichten, Romane und so weiter schreiben.

Pop-Mythos Fairuz: Ghazi Kahwaji war Bühnenbildner in Rahbanis Theater und enger Mitarbeiter der libanesischen Ikone und Sängerin Fairuz.

​​Der libanesische Bürgerkrieg hat insgesamt nur magere Produkte hervorgebracht. Große literarische Werke hat es nicht gegeben. Es stimmt, dass viele Libanesen über den Bürgerkrieg geschrieben haben, aber sie lebten damals in der Diaspora. Derjenige, der von außerhalb schreibt, bedient sich seiner Fantasie, einiger Dokumente und schreibt mithilfe von Filmen, Nachrichten und anhand einiger Tragödien, die sich abgespielt haben. Aber meiner Meinung nach haben nur ganz wenige den Punkt erreicht, an dem sie schöpferisch gestalten konnten.

Es gibt aber durchaus berühmte Theaterstücke über den libanesischen Bürgerkrieg, die in den 1970er und 1980er Jahren verfasst wurden.

Kahwaji: Jedes Theater, das während des Krieges im Libanon entwickelt wurde, ist heute in Vergessenheit geraten. Denn das alles waren sehr unreife Gedanken, die überhaupt nicht überdauert haben, über die 15 (Kriegs-)Jahre hinweg. Gerade die Theaterkunst benötigt Sicherheit, um sich präsentieren zu können. Ich habe den Krieg in all seinen Einzelheiten erlebt, und zwar sowohl im Libanon als auch vom Ausland aus.

In dieser Zeit war ich der künstlerische Generalintendant für die Werke der Rahbani-Brüder und Fairuz. Ich habe an allen Werken mitgearbeitet, die sie im Libanon, in Jordanien, Syrien, England, Frankreich, Nordafrika und Ägypten aufgeführt haben, natürlich neben der kontinuierlichen Präsenz im Libanon. Das, was die Rahbani-Brüder in dieser Zeit produziert haben, wie die Theaterstücke Petra, Lulu, Mais ar-Rim und weitere Arbeiten wie "die Verschwörung", neben den Konzerten, die sie gegeben haben, wie die Rezitale (solistische Konzertvorträge) mit der Gruppe um Fairuz, all diese Werke waren meiner Meinung nach lediglich wichtige Formen des Protestes gegen den Bürgerkrieg.

Interview: Aladdin Sarhan

© Qantara.de 2013

Ghazi Kahwaji, geboren 1945 in Sur (Tyrus), wirkte drei Jahrzehnte lang als Bühnenbildner im Rahbanis Theater mit und war somit ein enger Mitarbeiter der libanesischen Ikone und Sängerin Fairuz. Seine sarkastische Kritik an Konfessionalismus, Fundamentalismus, Korruption und sozialer Ungerechtigkeit im arabischen Raum veröffentlichte er zwischen 2008 und 2010 in der dreibändigen Reihe "Kahwajiyat".

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de