Zeit für umfassende Strategien im Anti-Terror-Kampf

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind 17 Jahre vergangen. Inwiefern spüren wir ihre Auswirkungen auf die internationale Politik noch heute? Antworten des jordanischen Islamismus-Experten Hassan Abu Hanieh im Gespräch mit Ouifaq Benkiran

Von Ouifaq Benkiran

Mit welchen Folgen werden wir nach den Attentaten von 9/11 bis heute konfrontiert?

Hassan Abu Hanieh: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Anschläge vom 11. September 2001 einen Wendepunkt in der internationalen Politik darstellen. Terrorismus ist seither das dominante Thema auf der politischen Weltbühne. Das Bedrohungsszenario des Kalten Krieges war aufgrund der Struktur des Konflikts klar umrissen. Die Bedrohung durch den Terrorismus hat sich hingegen seit dem Arabischen Frühling von Selbstmordanschlägen und Vergeltungsakten zu einer Gefahr von bisher nie dagewesenem Ausmaß entwickelt.

Dschihadistische Gruppierungen haben die Kontrolle über große Gebiete in Syrien, dem Irak, Südostasien sowie West- und Ostafrika erlangt. Wir reden daher über eine ernsthafte Gefahr, die von immer radikaleren, teils untereinander gespaltenen Gruppen wie "Al-Qaida" und dem "Islamischen Staat" ausgeht. Die weltweite Bedrohungslage hat sich im Vergleich zu 2001 dramatisch verändert.

Das führt uns direkt in die arabische Welt, in der sich die salafistisch-dschihadistische Ideologie merklich ausgebreitet hat. Haben islamistisches Gedankengut und repressive Regime also den sogenannten Arabischen Frühling überstanden und die Region nach wie vor fest im Griff?

Abu Hanieh: Ja, das stimmt. Es gibt ein strukturelles Problem in den arabischen Ländern und der islamischen Welt allgemein. Eine der tiefergehenden Ursachen für das Phänomen des Terrorismus ist - wenn wir für den Moment kulturelle Faktoren wie die Verknüpfung von Glaube und Gewalt beiseitelassen - die strukturelle Gewalt durch autoritäre Regime und die fehlende Aussicht auf demokratischen Wandel, aus der diese radikalen Bewegungen ihre Kraft ziehen.

Den demokratischen Entwicklungen in der arabischen Welt wurde nach dem Arabischen Frühling ein Ende gesetzt. In Ägypten wurde 2013 gegen das Wahlergebnis geputscht und in Syrien, Libyen und dem Jemen fand eine Militarisierung der Revolution statt. Diese Entwicklungen haben leider dazu geführt, dass die extremistischen Bewegungen stärker wurden. Denn die strukturellen Probleme, die aus dem autoritären Charakter der herrschenden Regime und dem Mangel an sozialer Gerechtigkeit entstehen, beeinflussen das Schicksal der arabischen Länder maßgeblich.

Hassan Abu Hanieh; Foto: privat
حسن أبو هنية باحث في قضايا الجماعات الإرهابية، له العديد من الإصدارات من بينها كتاب بعنوان "تنظيم الدولة الإسلامية: الأزمة السنية والصراع على الجهادية العالمية"

Und was ist mit dem Westen? Hat er durch die Anschläge vom 11. September im Umgang mit der arabischen Welt dazugelernt?

Abu Hanieh: Ich denke, dass die ganze Welt, einschließlich des Westens, nach wie vor versucht, dem Terrorismus durch die klassischen, grobschlächtigen Methoden beizukommen. Es gibt nicht wirklich "weiche" Ansätze, die auf Deradikalisierung und Reintegration abzielen. Entsprechend wurde im Irak und Syrien einzig und allein auf militärische Kraft und internationale Koalitionen gesetzt, ohne, wie die Vereinten Nationen bereits 2014 festgestellt haben, dieses starre militärische Vorgehen durch "weiche" Maßnahmen zu flankieren.

Es gibt keine vernünftigen und umfassenden Ansätze, alle Pläne stützen sich allein auf Militär und Sicherheit. So handhabt es die internationale Koalition unter Führung der USA und auch in Europa konnte man beobachten, dass demokratische Regierungen im Umgang mit Terroristen ihre liberalen Prinzipien aufgeben.

Das heißt, wir haben es mit zwei wesentlichen Faktoren zu tun: Der erste ist immanent und hängt mit der inneren Verfassung der arabischen Staaten zusammen. Der zweite Faktor ist die Agenda der westlichen Staaten und ihr Ansatz im Kampf gegen den Terror. Beide eröffnen jedoch keine Perspektiven, wie dem Terror und dem islamistischen Extremismus wirklich ein Ende bereitet werden könnten…

Abu Hanieh: Ich glaube, dass in Zukunft noch mehr auf militärisches Vorgehen gesetzt und auf Sicherheitsfragen fokussiert wird. Mit dem Amtsantritt Trumps wurde der Ansatz fallen gelassen, politische, soziale und kulturelle Reformen in der arabischen Welt voranzutreiben. Stattdessen unterstützen die USA autoritäre und diktatorische Regime in der Region und ignorieren die Wurzeln der Probleme. Das stärkt am Ende den Extremismus.

All diese Faktoren führen zu einer zunehmenden Zuspitzung des Problems von Generation zu Generation. So gab es beispielsweise nach der amerikanischen Intervention deutlich mehr Gewalt im Irak. Und jetzt, nachdem der "Islamische Staat" vertrieben wurde, wird deutlich, dass der Konfessionalismus immer noch ein Problem darstellt. Hinzu kommen die schwierige politische und wirtschaftliche Lage im Land.

Dann gibt es auch noch einige Gruppen, die eigentlich gewaltfrei ihre Ziele verfolgten. Die Muslimbruderschaft ist ein Beispiel für eine solche Bewegung. Einige Länder, darunter die Emirate, Saudi-Arabien und Ägypten, haben sie jedoch als terroristische Vereinigung eingestuft, wodurch sie sich radikalisiert hat. So ein Vorgehen nährt Gewalt und Extremismus zusätzlich.

An Saudi-Arabien haftete seit den Anschlägen vom 11. September das Label des "Terrorsponsors", da einige prominente Mitglieder von Al-Qaida saudische Staatsbürger waren. Ist es Saudi-Arabien gelungen, sein Image auf der internationalen politischen Bühne wiederherzustellen?

Abu Hanieh: Ich schätze, Saudi-Arabien hat das versucht, ja. Ich denke allerdings, dass es ein gefährlicher Versuch ist, denn Riad neigt dabei dazu, die religiös-rechtlichen Grundsätze des Staates, also die Verschmelzung der salafistisch-wahhabitischen Glaubensdoktrin mit dem Stamm der Al-Saud, zu unterminieren. Dieser Bund bröckelt seitdem Mohammad bin Salman auf der politischen Bühne in Erscheinung getreten ist.

Es findet eine Art Abwendung von den religiösen Institutionen statt, erste Modernisierungsschritte werden unternommen. Ein Beispiel dafür ist die Ersetzung der sogenannten "Religionspolizei" durch die "Behörde für Unterhaltung". Die saudische Gesellschaft tut sich allerdings schwer mit diesen Veränderungen. In Saudi-Arabien hat sich eine liberale wirtschaftliche Moderne entwickelt, aber keine politische oder kulturelle. Menschenrechte allgemein und die Rechte der Frauen im Speziellen sowie Demokratie sind noch immer kein Thema und der Sicherheitsapparat hat das Land fest im Griff. Es gibt also oberflächliche Erneuerungsbestrebungen, aber der eigentliche Kern des Systems in Saudi-Arabien wird davon nicht berührt.

Nach 17 Jahren und fünf Präsidenten führen die USA immer noch ihren internationalen Krieg gegen den Terror. Mittlerweile ist deutlich, dass es äußerst schwierig geworden ist, ihn zu beenden. Hat sich also dieser Krieg, von dem es anfangs hieß, er sei ein "Ausnahmefall", zu einem endlosen Konflikt entwickelt, der noch viele kommende Generationen beschäftigen wird?

Abu Hanieh: Ja, absolut! Es gibt überhaupt keine klare Definition für "Terrorismus". Auch die Vereinten Nationen sind nicht in der Lage, eine Definition zu verabschieden, da die Mitgliedsstaaten anhand solch einer Definition für Taten verantwortlich gemacht werden könnten, die teils sogar "Verbrechen gegen Menschlichkeit" darstellen. Obwohl es bei der Auseinandersetzung um Rechtsfragen geht, ist es natürlich ein politischer Kampf, der von den Interessensgruppen innerhalb der Staatengemeinschaft angetrieben wird.

George W. Bush erklärt am 1. Mai 2003 auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln den Irakkrieg für beendet; Foto: S.Jaffe/AFP/GettyImages
Mission erfüllt, Anti-Terror-Kampf gescheitert: "Nicht nur Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan sind zurückgekommen, sondern auch der 'Islamische Staat' im Irak, nachdem sich durch den Abzug der Amerikaner die Möglichkeit bot. Tatsächlich sind die Amerikaner mit ihrem Krieg gegen den Terror gescheitert. Sie müssen unbedingt neue Strategien im Umgang mit dem Phänomen entwickeln", kritisiert Abu Hanieh.

Nicht nur unterstützen die USA autoritäre Regime, sie waren auch nicht in der Lage eine gerechte Lösung für den Nahostkonflikt zu finden. Im Rahmen des "Jahrhundertdeals" haben sie sogar die Zweistaatenlösung begraben. So trägt Washington dazu bei, dass sich das Terrorismusproblem verschärft. Sowohl Bush als auch Obama haben das Ende von Al-Qaida verkündet, aber die Realität zeigt uns, dass solche Gruppen zurückkehren. Nicht nur Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan sind zurückgekommen, sondern auch der "Islamische Staat" im Irak, nachdem sich durch den Abzug der Amerikaner die Möglichkeit bot. Tatsächlich sind die Amerikaner mit ihrem Krieg gegen den Terror gescheitert. Sie müssen unbedingt neue Strategien im Umgang mit dem Phänomen entwickeln.

Aber hören wir nicht von Russland, das sich durch seine Präsenz in Syrien zum neuen Akteur in der Region aufgeschwungen hat, die gleichen Argumente, die schon die USA benutzt haben?

Abu Hanieh: Das russische Vorgehen verschlimmert das Terrorismusproblem und liefert der Gewalt im Namen des Glaubens einen neuen Vorwand, um zu zeigen, dass die Region und der Islam wieder einer Belagerung ausgesetzt seien. Wir sollten nicht vergessen, dass sich das Phänomen des Dschihadismus zuerst im Krieg gegen Russland in Afghanistan entwickelt hat und Russland jetzt im Herzen der arabischen Welt wieder in Erscheinung tritt. Wenn ich mir die Akteure und Konflikte anschaue, die teils als Stellvertreterkriege geführt werden und teils den Charakter von direkten Konfrontationen haben, denke ich, dass der Extremismus künftig noch totalitärer werden wird.

Worin besteht die Rolle Europas in diesen aus dem Kampf gegen den Terror entstandenen Umwälzungen?

Abu Hanieh: Europa trägt eine große Mitverantwortung für die derzeitige Situation, denn es konzentriert sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf die Frage der ausländischen Kämpfer. In jüngster Zeit konnte man durch Syrien und den Irak sehen, wie die europäischen Länder Gesetze zum Kampf gegen den Terror entworfen haben, die so weit gehen, den Dschihadisten aus ihren Ländern die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sie wenden sich also im Inneren von ihren liberalen Prinzipien ab. Das hat auch den Konflikt um Identität und Integration genährt und islamophobe Tendenzen verstärkt.

Darüber hinaus sind in Europa rechtspopulistische Parteien aufgekommen, die sich offen islamophob äußern. Das alles sind Faktoren, die es dem islamistischen Lager einfacher machen, Anhänger zu gewinnen und Kämpfer zu rekrutieren. So wurden beispielsweise nach dem Arabischen Frühling mehr als 6.000 Kämpfer aus europäischen Ländern angeworben, 600 davon Frauen. Das ist eine bisher nie dagewesene Herausforderung für die europäischen Staaten.

Das Interview führte Ouifaq Benkiran.

© Qantara.de 2018

Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne