"Deutsche Muslime sind nur Mitreisende"

Der Befreiungstheologe Farid Esack aus Südafrika gehört zu den renommiertesten islamischen Denkern unserer Zeit. Beim Kongress "Horizonte Islamischer Theologie" warf er einen kritischen Blick auf die deutsche Debatte über Integration und den Aufbau einer Islamischen Theologie an den deutschen Hochschulen. Mit ihm sprach Claudia Mende

Von Claudia Mende

Herr Esack, Sie haben die neuen Fakultäten für Islamische Theologie scharf kritisiert. Warum?

Farid Esack: Der Punkt ist, dass die grundlegende Frage nach den ideologischen Motiven hinter dem Interesse an einer Islamischen Theologie an deutschen Hochschulen nicht gestellt wird. Deutsche Muslime wirken auf mich immer noch sehr dankbar dafür, dass sie überhaupt in Deutschland sein dürfen, als seien sie etwas schuldig, nur weil sie hier leben. Als hätten sie vorher im Regen gestanden in einem repressiven muslimischen Land wie dem Iran oder unter schlechten wirtschaftlichen Bedingungen wie in der Türkei und dann wäre ein Auto vorbei gekommen, dass sie mitnimmt nach Deutschland. Jetzt sitzen sie dankbar im Auto, aber eben als Mitreisende.

All ihre Fragen über sich selber und über ihren Islam sind die eines Beisitzers. Sie haben einen Gaststatus und fragen sich: "Wie kann ich ein besserer Mitreisender werden?" Dahinter steckt die Idee der Assimilation. Der Fahrer will, dass sie es bequem haben, aber eben nur als Mitfahrer. Dabei müssten sich die deutschen Muslime einige grundlegende Fragen stellen: Wie lange wollen wir noch Beifahrer sein? Wann tragen wir endlich Verantwortung? Wann werden wir Mitbesitzer des Autos? Wohin fährt das Auto und wem gehört es?

Haben Sie einen anderen Blick auf Integration, weil Sie aus Südafrika stammen?

Esack: Ich glaube schon. Wir Muslime leben seit über 300 Jahren in Südafrika. Südafrika ist unser Zuhause, wir haben aktiv gegen die Apartheid und für den Aufbau einer Gesellschaft gekämpft, die weder rassistisch noch sexistisch ist. Wir sind keine Minderheit, wir sind muslimische Südafrikaner. Natürlich sind Muslime in Deutschland eine relativ junge Erscheinung. Aber ich sehe nicht ein, dass deutsche Muslime mehr als 300 Jahre lang eine Minderheit sein sollen, bevor sie ihren Anteil an der Gestaltung der Gesellschaft einfordern.

Für Anti-Apartheid-Aktivisten war es leicht, mit uns Muslimen zusammenzuarbeiten. Minderheiten sind häufig mit sich selbst und ihren eigenen Anliegen beschäftigt, zum Beispiel: Wie bekomme ich meinen Onkel nach Deutschland? Wie kann ich gewährleisten, dass das Fleisch korrekt geschlachtet ist und wir das Recht auf Beschneidung unserer Kinder bekommen? Bei solchen Themen ist es schwierig für Muslime, dauerhafte Verbündete aus einem breiten progressiven Spektrum zu gewinnen. In Südafrika waren die Debatten der Muslime sehr viel fortschrittlicher, weshalb es ihnen leichter fiel, die Unterstützung anderer zu erhalten.

Wie wird Ihre Theologie in dermuslimischen Welt aufgenommen?

Esack: Viele Muslime schätzen mich, aber was ich sage, irritiert sie auch. Sie schätzen die Deutlichkeit, mit der ich einen anti-kolonialistischen und anti-imperialistischen Standpunkt einnehme. Man sieht regelrecht, wie ihre Augen dann leuchten. Sobald ich aber dieselbe Kritik gegenüber islamischen Gesellschaften äußere, fühlen sie sich sehr unwohl. Ein Beispiel: Ich kritisiere das Verhalten der Hegemonialmächte gegenüber den Muslimen. Doch gleichzeitig behandeln muslimische Männer ihre Frauen genauso. Um beim Beispiel vom Auto und den Mitreisenden zu bleiben: Frauen sind in der islamischen Welt dazu verdammt, Beifahrerinnen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit den religiösen Minderheiten: Wir wollen sie zwar gut behandeln, aber nicht an der Macht beteiligen.

Muslime mögen meine Anklagen stets dann, wenn sie Opfer sind. Anders ist es, wenn ich kritisiere, wie sie selbst religiöse Minderheiten wie die Christen in Ägypten oder in Pakistan, aber auch sexuelle Minderheiten behandeln. Viele Muslime hören diese Kritik nicht gerne.

Hat der Islam ein Problem mit Pluralismus?

Esack: Wir sehen unseren Glauben nicht als etwas, das sich fortlaufend verändert. Wir suchen ständig nach festen Konzepten wie dem Konzept von Medina und jenem von Mekka. Aber beide sind allzu simpel: vor der Hidschra und nach der Hidschra. Im mekkanischen Konzept waren wir die Opfer; im Konzept von Medina haben wir gewonnen und waren die Herrschenden. Beide sind aber für eine offene und pluralistische Gesellschaft nicht geeignet, denn hier geht es immer um Geben und Nehmen. Genau so wie ich kritisiere, dass die Deutschen den Muslimen keine wirkliche Mitsprache einräumen, wende ich mich gegen eine innerislamische Debatte, nach der die Muslime das Sagen haben sollten.

Aktivisten in Alexandria demonstrieren gegen im Dezember 2012 gegen das Verfassungsreferendum; Foto: AFP/Getty Images
Der Arabische Frühling zwischen Chaos, Gewalt und die Restauration der autoritären Mächte: "Wir haben geglaubt, dass Muslime sich in Richtung Demokratie bewegen, aber es hat nicht funktioniert. Im Moment habe ich wenig Zutrauen in die Entwicklung in der arabischen Welt. Zu eng verflochten sind die USA und die arabische Welt, zu groß ist das westliche Interesse an der Stabilisierung einiger Monarchien"

Sind diese Konzepte heute überhaupt noch sinnvoll?

Esack: Wenn wir uns heute auf diese Konzepte als Modelle für die Zukunft beziehen, dann haben wir ein Problem. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Vergangenheit ein Konzept für die Zukunft bereit hält. Dazu waren die Umstände zu verschieden. Viele der kürzeren mekkanischen Suren waren ein Aufschrei gegen Ausbeutung. Das ist eines der Probleme bei Muslimen: Unsere Kritik an den Hegemonialmächten von heute ist keine grundsätzliche Kritik, sondern ein Lamento, dass nicht wir die Welt kontrollieren.

Es gibt neue theologische Ansätze, die Islam und eine pluralistische Gesellschaft versöhnen wollen. Aber sie kommen vor allem aus dem Westen. Sehen Sie eine Chance, dass sie auch in der arabischen Welt gehört werden?

Esack: Der Arabische Frühling hat leider bereits die Antwort auf Ihre Frage gegeben. Wir haben geglaubt, dass Muslime sich in Richtung Demokratie bewegen, aber es hat nicht funktioniert. Keine Gruppe von Menschen ist von Natur aus zur Größe oder zum Chaos prädisponiert. Oder wer hätte sich vorstellen können, was ausgerechnet in Deutschland passiert ist? Aber im Moment habe ich wenig Zutrauen in die Entwicklung in der arabischen Welt. Zu eng verflochten sind die USA und die arabische Welt, zu groß ist das westliche Interesse an der Stabilisierung einiger Monarchien. Dazu kommen interne Faktoren wie ein feudales System oder das Einigeln des Militärs in Ägypten. Nein, eine demokratische und pluralistische Entwicklung ist nicht wirklich erkennbar.

Der Terror des "Islamischen Staats" wirft für Theologen eine Menge Fragen auf. Kann man denn Ihrer Meinung nach für alles eine Rechtfertigung im Koran finden?

Esack: Es ist sehr schmerzhaft für mich, aber die ehrliche Antwort lautet: ja. Als Muslim würde ich lieber sagen, dass es keine Rechtfertigung für diese Barbarei im Koran gibt, aber das wäre intellektuell nicht redlich. Es gibt Textstellen, die der IS so liest, dass sie ihre Barbarei rechtfertigen. Für uns Muslime wie auch für die Angehörigen aller Religionen, die auf der Basis heiliger Texte stehen, gibt es fortwährenden Streit darüber, wie man ein breiteres, inklusiveres und pluralistischeres Verständnis einiger Texte gewährleisten kann. Aber der IS trinkt aus derselben Quelle wie wir. Sie nehmen das Wasser und vergiften es, aber es stammt aus derselben Quelle. So schwer es mir auch fällt, das einzugestehen.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2014

Der Islamtheologe und politische Aktivist Farid Esack erlangte wegen seiner Werke gegen die Apartheid in Südafrika weltweit Bekanntheit. 1994 war er für einige Jahre Gleichstellungsbeauftragter der Regierung Mandelas. Zu seinen Werken zählen u.a. "Qur'an, Liberation and Pluralism!" (1997) und "The Qur'an: A User's Guide" (2005).