Zerrissene Nation

Nach Ansicht des renommierten irakischen Politikwissenschaftlers Ghassan Al-Attiyah haben es die politischen Eliten des Landes nach dem Ende der Baath-Diktatur versäumt, ein überkonfessionelles Staatsverständnis zu entwickeln. Mulham Al-Malaika sprach mit ihm über die Zukunft des Iraks und den Kampf gegen den IS.

Von Mulham Al-Malaika

Der sogenannte Islamische Staat (IS) eroberte große Gebiete im Irak mit offener Unterstützung oder Duldung weiter Teile der sunnitischen Bevölkerung. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Ghassan Al-Attiyah: Insgesamt sechs Divisionen der irakischen Armee fielen bei der Einnahme Mossuls durch den IS rasch auseinander. Die IS-Dschihadisten brüsteten sich damit, die zweitgrößte Stadt des Iraks allein mit "Autohupen" erobert zu haben, was eine totale Verhöhnung der irakischen Armee gleichkäme. Immerhin haben die Amerikaner mehr als 25 US-Milliarden Dollar in den Aufbau dieser Armee gesteckt.

Die dramatische Auflösung dieser von den USA mit modernem Gerät ausgestatten Armee zeigt deutlich, dass der Aufbau der neuen irakischen Streitkräfte komplett gescheitert ist. Fehlende professionelle Strukturen, Inkompetenz der Militäreliten, Korruption und vor allem die weit verbreitete Vetternwirtschaft auf konfessioneller Basis hatten zu dieser desaströsen Entwicklung geführt.

Aber warum haben sich die Bewohner der sunnitischen Provinzen nicht angemessen gegen den Einfall der IS-Truppen verteidigt?

Al-Attiyah: Die Antwort lieferte ein hoher Beamter des Pentagons, als er die Politik des ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki verantwortlich für die Haltung der Sunniten machte. Al-Maliki hat die sunnitische Bevölkerung systematisch diskriminiert. Er beteiligte sie auch nicht in ausreichendem Maße am politischen Prozess. Dies führte bei den meisten Sunniten zu einer falschen Einschätzung - getreu dem Motto: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Und das trieb sie dann fatalerweise in die Arme der IS-Dschihadisten.

Al-Attiyah: Die Ursache dafür liegen sicherlich tiefer: Die US-amerikanische Besatzung nach dem Sturz von Saddam Hussein ist wohl die Wurzel allen Übels. Die US-Amerikaner haben den irakischen Staat faktisch zerschlagen – und keinen neuen errichten können, der allen Staatsbürgern gleiche Rechte, unabhängig von Religion und Ethnie, garantiert.

Iraks ehemaliger Ministerpräsident Nuri al-Maliki; Foto: Reuters
Politik des Scheiterns: Viele Beobachter sind sich darin einig, dass der ehemalige Staatschef Nuri al-Maliki maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die irakischen Sunniten die Entstehung und Erstarkung des IS zugelassen haben.

Das System, das nach 2003 von US-Verwalter Paul Bremer aufgebaut wurde, nahm die irakische Bevölkerung ausschließlich durch eine konfessionelle Brille wahr – als Angehörige der schiitischen und sunnitischen Religionsgemeinschaften oder als ethnische Gruppen wie die Kurden.

Das löste schließlich eine schwere Identitätskrise bei den ganz gewöhnlichen Irakern aus. Und diese führte dazu, dass vor allem die Sunniten dachten, dass sie sich zwischen einer sunnitischen oder einer arabischen Identität entscheiden müssten.

Als Reaktion auf die schiitische Dominanz haben sich viele Sunniten offensichtlich dazu entschlossen, in erster Linie Sunniten zu sein. Damit haben sie jedoch einen verhängnisvollen Fehler begangen. Denn ihre arabische Identität hätte sie mit den Schiiten vereint und es wäre möglich gewesen, daran anzuknüpfen, um eine gemeinsame nationale irakische Identität zu entwickeln. So kam es dazu, dass die Kurden die einzige Volksgruppe bildeten, die vom Sturz des ehemaligen Regimes profitierten, da ihre Identität seit jeher ausschließlich auf der kurdischen Identität basiert.

Allerdings haben die Sunniten doch von Anfang den politischen Prozess im Post-Saddam-Staat boykottiert. Sie hätten sich wesentlich aktiver am Wiederaufbau des neuen Iraks beteiligen können, oder nicht?

Al-Attiyah: Nach dem Sturz Saddam Husseins kehrten alle Parteien in den Irak zurück, die gegen die Baath- Diktatur gekämpft hatten. Die kurdischen Parteien konnten sich in ihren autonom verwalteten Gebieten gut organisieren, während die schiitischen Parteien viel Unterstützung aus Teheran erhielten. Alleine die Sunniten verloren durch das pauschale Verbot der Baath-Partei ihre politische Vertretung. Der führende schiitische Abgeordnete Amir al-Kanani machte denn auch keinen Hehl daraus, dass die Ent-Baathifizierung den Sunniten ihr Recht auf politische Mitwirkung bei der Regierungsbildung entzogen hat.

Karte Ausbreitung des IS im Irak und in Syrien; Quelle: DW
Krebsgeschwür des Terrors: Ungeachtet der kurdischen und irakischen Offensiven, die von der internationalen Gemeinschaft aus der Luft unterstützt werden, reichen die Metastasen der IS-Dschihadisten auch heute noch vom Irak bis nach Syrien. Mossul, die zweitgrößte irakische Stadt, befindet sich immer noch in den Händen des sogenannten "Islamischen Staats".

Die Kurden stehen heute an vorderster Front im Kampf gegen den IS und haben sich im Irak eine starke Position erkämpft. Sind sie dadurch die eigentlichen Gewinner bzw. die Nutznießer des sunnitisch-schiitischen Konfliktes?

Al-Attiyah: Beim momentan herrschenden Chaos im Irak haben sich die Kurden weitgehend auf ihre ethnische Identität verlassen. Folglich bedeutet das, dass die Sunniten die größten Verlierer im Krieg gegen den IS sind. Aber das trifft meiner Ansicht nach nicht endgültig zu. Eigentlich müssten ohnehin alle Iraker als Verlierer bezeichnet werden, so die bittere Konsequenz aus diesen Konflikten. Natürlich wissen die Kurden, dass sie gegenwärtig im Irak die aussichtsreichste Position inne haben. Daher beschäftigt sie nur noch eine Frage: Gelingt es womöglich, die Unabhängigkeit vom Rest des Iraks zu erwirken? Ich denke jedoch, dass es vielversprechender wäre, wenn sich die Kurden verstärkt auch für eine wirkliche nationale Versöhnung einsetzten – unabhängig von ihrem politischen Status.

Wie stellen sich die Zukunft des Iraks vor? Was muss sich ändern, damit die Nation diese schwierige Phase übersteht?

Al-Attiyah: Die Zerrissenheit der Iraker ist zweifelsohne allgegenwärtig. Die politischen Eliten haben es nach dem Ende der Schreckensherrschaft von Saddam Hussein versäumt, ein neues nationales, überkonfessionelles Staatsverständnis zu entwickeln. Für eine nationale Versöhnung benötigen wir daher eine Allianz der gemäßigten Kräfte aus allen politischen und religiösen Lagern. Wir müssen die Kultur des Hasses überwinden und gemeinsam versuchen, an die lange Tradition der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens im Zweistromland anzuknüpfen.

Das Interview führte Mulham Al-Malaika.

© Qantara.de 2015

Übersetzung aus dem Arabischen von Mariam Eichbüchler

Ghassan Al-Attiyah ist Leiter des Instituts für Demokratie und Entwicklung in London und zählt zu den profiliertesten Kennern der modernen irakischen Geschichte.