Von dem Versäumnis, Europas Vergangenheit zu reflektieren

Der Arabische Frühling, der Aufstieg der Terrororganisation IS und der Ruf nach Reform des Islam in Europa – das sind nur einige Beispiele für gesellschaftliche Umwälzungen in einer globalisierten Welt. Julis Koch sprach mit dem indischen Autor und Essayisten Pankaj Mishra über gesellschaftlichen Wandel und die Notwendigkeit, Europas Vergangenheit kritischer zu reflektieren.

Von Julis Koch

Herr Mishra, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Aus den Ruinen des Empires“ die Kooperation der westlichen Kolonialmächte mit den regierenden Eliten in Indien, Pakistan und Tibet. Diese Eliten haben große Teile der Bevölkerung unterdrückt, aber gleichzeitig sehr viel Wert auf die Modernisierung ihrer Länder gelegt. Wie hat das die Gesellschaften der drei Länder beeinflusst?

Pankaj Mishra: Ich denke, die Werte, die zurzeit vorherrschen, sind geprägt von einer gewissen Eigennützigkeit und Ichbezogenheit. Sie waren bislang nur in einem kleinen Teil der Welt von Bedeutung und sind nun zu einem universalen Phänomen geworden, das alle anderen sozialen, religiösen und politischen Traditionen dominiert.

Heutzutage sollen wir alle Unternehmer sein. Wir sollen uns hinaus begeben. Ob mit Blick auf das Geschäft oder die sozialen Medien wie Twitter und Facebook: Wir müssen uns vermarkten, für uns werben. Wir haben im Grunde genommen ein kapitalistisches Selbstverständnis verinnerlicht, das die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhalts stark unter Druck setzt: den Zusammenhalt der Familie, der Gemeinschaft, der Kulturen und Arbeiterklassen. Das geschieht heute an vielen Orten, zum Beispiel in Indien und China.

Wir haben uns gewissermaßen von den Ideen des kollektiven Wohlergehens entfernt, die ursprünglich die Basis für unsere Länder waren: das Versprechen einer kollektiven Emanzipierung, die kollektive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Praktiken und Missständen wie die Stellung der Frau, niedriger Kasten und benachteiligter Minderheiten. Diese gemeinnützigen Projekte haben wir hintangestellt. Stattdessen erwarten wir jetzt, dass der Individualismus „liefert“ und uns befreit.

Das muss zu einer Spaltung der Gesellschaft führen – vor allem in ländlichen Gegenden. Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Armen?

Buchtitel "Aus den Ruinen des Empires".
Welche Geschichtsschreibung bleibt? In seinem Buch „Aus den Ruinen des Empires“ beschreibt Pankaj Mishra die Folgen der Kolonialisierung aus einer neuen Perspektive. Er wandelt auf den Spuren von Liang Qichao, Tagore, Jamal al-din al-Afghani und Sun Yatsen – intellektuellen Revolutionären Asiens, die im Westen nach wie vor kaum bekannt sind.

Mishra: Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den nur sehr wenige Menschen in Europa und Amerika verstehen. Das liegt teilweise daran, dass ihre eigene Erfahrung mit einer solchen Situation 150 Jahre zurück liegt. Damals vollzogen die Menschen den Übergang von einem ländlichen, auf die Gemeinschaft gegründeten Leben zur großen, unpersönlichen Stadt – ein Leben, in dem der Individualismus ein Schlüsselwert ist.

Heute erleben Hunderte von Millionen von Menschen diese Entwicklung in Indien und Pakistan. Nach wie vor liegt die Sicherheit für viele von ihnen im Familienleben. Gleichwohl folgen viele junge Menschen dem Versprechen der individuellen Freiheit. Es gibt da eine konservative Gegenbewegung zu all dem - manchmal von den eigenen Eltern, den eigenen Vätern.

Das sind wirklich sehr komplexe Vorgänge. Denn das, was hier geschieht, ist der endlose Übergang von der gesellschaftlichen Solidarität der Vergangenheit in die moderne Welt der unpersönlichen Beziehungen, der Freiheit des Einzelnen. Für viele Menschen liegt diese moderne Welt aber noch in weiter Ferne. Sie ist etwas, das sie nie erreichen werden.

Aus Frustration werden die jungen Menschen oft fundamentalistisch. Viele, die radikalen Bewegungen beitreten, befinden sich in einem Schwebezustand, sind entfremdet und nicht dazu fähig, mit anderen in Beziehung zu treten,  irgendeine Art von Gemeinschaft zu bilden. Sie schließen sich diesen Organisationen an, weil sie einfach wieder eine Form von Zusammenhalt, von Gemeinschaft erfahren möchten.

Wie haben die säkularen und atheistischen Einstellungen der Menschen die Beziehung zwischen „Europa“ und den dort lebenden Muslimen geprägt?

Mishra: Durch den Verlust seiner entscheidenden Bindung an das Christentum, das für Jahrhunderte in vieler Hinsicht eine Art unsichtbare Grundlage der europäischen Einheit war, ist Europa auch die Erfahrung abhanden gekommen, was es bedeutet, religiös zu sein – die eigenen Horizonte mit einer transzendentalen Gegenwart zu definieren, mit einem Wesen, das nicht sichtbar ist, das dich immerfort behütet.

Menschen, die jetzt säkularisiert sind, die den religiösen Glauben verloren haben und für die das Christentum lediglich eine Bezeichnung ist, haben große Schwierigkeiten zu verstehen, dass heute für viele Menschen – nicht nur Muslime – Moralität, eine Form des Daseins in der Welt, wirklich nur aus der Religion und dem religiösen Glauben entspringen kann.

Ich denke, dass dies in weiten Teilen Europas ein großes Verständnisproblem hervorruft, denn Europa hat diese Erfahrung verloren. Sehr wenige Menschen sind wie früher religiös. Die Säkularisierung verwehrt den Menschen hier den Weg, einander zu verstehen.

Dabei lehrt uns die Geschichte, dass Europa von der islamischen und auch der jüdischen Religion sehr geprägt wurde. Trotzdem beziehen sich einige einflussreiche Politiker und Persönlichkeiten auf die Unterschiedlichkeit von „Europa“ und „dem Islam“. Wie kommt das?

Mishra: Ich denke, es ist in erster Linie wirklich das Symptom eines intellektuellen Scheiterns; das Versäumnis, Europas eigene Vergangenheit zu verstehen, das heißt, nachzuvollziehen, wie Europa mit dem Aufkommen der säkularen Moderne, der Urbanisierung und der Industrialisierung umgegangen ist. Das waren gewaltige Vorgänge, die viele Millionen von Menschen entwurzelten und sie neuen, unzumutbaren Bedingungen und einer wirtschaftlichen Krise nach der anderen aussetzten. Diese ganze Umwälzung Europas wird nun verleugnet in der Eile, den Islam oder die Religion für Probleme verantwortlich zu machen, die mehr mit einer gescheiterten Modernisierung zu tun haben.

Einige wollen aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus einer einzigen Religion und 1,5 Milliarden Menschen Rückständigkeit und Unterlegenheit zuschreiben. Was dabei eigentlich verleugnet wird, ist der sehr komplizierte, qualvolle und brutale Prozess, durch den diese Vorrangstellung Europas erreicht wurde. Ich denke also, dass hier ein sehr merkwürdiges Verhältnis zu dieser Vergangenheit entstanden ist. Letzten Endes verweist man dann die ganze Zeit auf die Religion und pflegt ein Art Kultur-Gerede. Es ist so schwierig, mit dieser komplizierten politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Vergangenheit Europas umzugehen, die jetzt in verschiedenen anderen Teilen der Welt Gestalt annimmt.

Textilfabrik in Indien. Foto: Andrew Caballero Reynolds/ AFP / Getty Images
Selbstvermarktung oder Zusammenhalt in der Familie? Der Autor und Essayist Pankaj Mishra führt dieses Spannungsverhältnis auf ein „kapitalistisches Selbstverständnis“ zurück, das die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhalts stark unter Druck setzt. Hier im Bild: Arbeiter in einer Textilfabrik in der indischen Hauptstadt Neu- Delhi.

Wenn man Europas raue Vergangenheit auf dem Weg zur Moderne reflektierter aufarbeiten würde, wäre dieser Denkprozess von dem vergebenden „Anderen“ abhängig? Oder wäre es ein Korrektiv, mit dem man sich selbst verspricht „Wir werden so etwas niemals wieder tun“?

Mishra: Ich denke nicht, dass Vergebung von der Masse betrieben werden kann. Es ist wichtig zu verstehen, nicht zu vergeben. Verständnis ist eine Form der Vergebung. Ich denke, es ist schon ein großer Schritt vorwärts, sich davon zu distanzieren, Menschen in Bezug auf ihre religiösen Auffassungen und Hintergründe zu dämonisieren - und stattdessen Europas Vergangenheit und sehr gewaltsame Geschichte neu zu reflektieren. Das sollte nicht mit Gefühlen von Schuld oder Scham verwechselt werden. Es geht einfach darum, zu begreifen, wo wir uns in der heutigen Zeit befinden, wo immer man ist, ob im Osten oder im Westen.

Dabei ist es wichtig, die Begrenztheit unseres konzeptuellen Vokabulars, gerade diese Gegenteile, dieses „Islam gegen den Westen“, zu erkennen. Wir arbeiten immer noch mit längst überholten Prämissen und veralteten ideologischen Gegensätzen. Deshalb müssen wir vielleicht mehr als weniger eurozentrisch sein – eurozentrisch im Sinne eines kritischeren und bewussteren Umgangs mit Europas Vergangenheit. Europas Geschichte sollte nicht so inszeniert werden, als müssten alle versuchen, es ihr nach zu tun.

Ich denke zum Beispiel an die Forderung, dass Muslime sich reformieren sollten, dass der Islam durch einen Prozess der Reformation gehen sollte. Diese Forderung basiert auf einem Märchen. Es ist, als verleugnete man dabei die unglaublich traumatische und blutige Wandlung, die die Reformation doch für Europa war. Wir sollten solch einen Vorgang keinen anderen Menschen wünschen. Dennoch wird dies immer und immer wieder verlangt. Die Teleologie dahinter ist, dass die Reformation uns zu einem besseren Volk hat werden lassen. Deshalb sollte sich jenes Volk auch einer Reformation unterziehen und letztendlich auch seinen Glauben ganz aufgeben. Aber niemand wird von seinem Glauben ablassen, nur weil die Europäer das erwarten. Und deshalb befinden wir uns in einer Pattsituation.

Julis Koch

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