"Die Schwelle zur Gewalt ist niedrig"

Afghanistans Präsident Hamid Karsai kann nach zwei Amtszeiten nicht mehr für die Präsidentschaftswahl Anfang April kandidieren. Nach seiner zwölfjährigen Regierungszeit geht für das Land eine Ära zu Ende. Über die politischen Perspektiven am Hindukusch hat sich Ulrich von Schwerin mit Thomas Ruttig vom "Afghanistan Analysts Network" unterhalten.

Von Ulrich von Schwerin

Hamid Karsai wurde als Bürgermeister von Kabul verspottet und als Marionette der Amerikaner diffamiert. Welchen Stellenwert und welchen Einfluss hat der Präsident im politischen System Afghanistans wirklich?

Ruttig: Die Bezeichnung Bürgermeister von Kabul war zwar griffig, aber von Anfang an nicht richtig – sowohl was seine verfassungsmäßigen Rechte betrifft, als auch was in der Praxis lief. Richtig ist aber, dass Karsai von den Amerikanern ausgewählt wurde, die ein politisches System nach ihrem Bilde schaffen wollten: ein Präsidialsystem ohne Ministerpräsident. Sie wollten in Afghanistan mit einem Mann arbeiten, der in der Lage ist, bestimmte Dinge durchzusetzen.

Am Anfang war die Situation, dass die Amerikaner ihre alten Verbündeten aus dem Kalten Krieg, die Mudschaheddin, mobilisierten, um die Taliban zu schlagen. Dies hat den Warlords erlaubt, ihre alten Machtzentren wieder zu okkupieren – etwa Ismail Khan in Herat, Raschid Dostum und Atta Mohammed Nur im Norden. Karsais Macht war daher zu Beginn eingeschränkt, doch über die Jahre hat er eigene Leute in den Provinzen eingesetzt und seinen politischen Einfluss erheblich ausgeweitet.

Also hat er die Macht des Zentrums gegenüber der Peripherie gestärkt?

Ruttig: Karsai hat seine Herrschaft stabilisiert, doch seine Regierungsführung ist problematisch geblieben. Er hat den Zugriff auf die Macht, er kann bestimmen, wo es lang geht, aber er hat sein Amt zu wenig genutzt, die Lebensverhältnisse der Afghanen zu verbessern, also die Grundaufgaben des Staates zu erfüllen. Das liegt an der Korruption, aber auch daran, dass er zunehmend Partikularinteressen, insbesondere der Paschtunen, im Süden, vertreten hat.

Welche Rolle spielt das Parlament in der afghanischen Politik?

Ruttig: Afghanistan hat ein starkes Präsidialsystem, bei dem die Macht des Präsidenten nur bedingt durch das Parlament eingeschränkt wird. In der Praxis hat Karsai das Parlament auch vielfach ignoriert. Das Ungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative, das Fehlen von „Checks and Balances“, das sind die grundlegenden Probleme des afghanischen Systems. Letztlich hat das Parlament nur eine starke Waffe: die Möglichkeit zur Amtsenthebung von Ministern. Das ist auch reihenweise passiert.

Ein weiteres Problem ist, dass das Parlament fragmentiert ist. Zwar wurden Parteien zugelassen, doch dürfen sie zu den Wahlen keine Kandidatenlisten aufstellen und keine Parlamentsgruppen bilden. Außerdem sehen sich viele Abgeordnete als Vertreter ihrer Bezirke und versuchen, etwas für diese herauszuholen. Das geht auf Kosten ihrer Anwesenheit im Parlament und ihrer Gesetzgebungsfunktion. Hinzu kommt, dass eine Wahl auch immer eine Investition darstellt, die zurückgezahlt werden muss. Das öffnet natürlich Türen für Korruption.

Afghanischer President Hamid Karzai; Foto: picture-alliance/dpa
Im kommenden April wird Afghanistan einen neuen Präsidenten wählen. Der jetzige Präsident Hamid Karsai kann nach zwei Amtszeiten nicht mehr für die Präsidentschaftswahl kandidieren. Wie die politische Zukunft Afghanistans aussehen wird, bleibt abzuwarten.

Welchen Einfluss haben die Warlords noch in der Politik?

Ruttig: Für mich ist ungeklärt, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Zwar ist die Macht vieler Warlords eingeschränkt worden, doch zugleich hat Karsai sich ihnen auch unterwerfen müssen. Das hängt mit den anfänglichen Weichenstellungen zusammen, als die Amerikaner ihn gezwungen haben, sich mit den Warlords zu verbünden. Das wollte er gar nicht. Er hatte zunächst eher einen Pro-Reform- und Pro-Demokratie-Kurs gefahren, bis er gemerkt hat, dass die Demokratie-Rhetorik des Westens nicht der Praxis entsprach.

Heute ist die Macht vieler Warlords durch ihre Kooptation in Regierungsfunktionen beschränkt worden. Doch haben sie heute auch andere Mittel, als offen Gewalt auszuüben. Und die Entwicklung ist nicht irreversibel. Nach dem Abzug der ausländischen Truppen wird ein Teil der Kontrolle wegfallen, auch wird der zu verteilende Kuchen kleiner. Da zudem die Militarisierung im Land zugenommen hat, ist die Schwelle zur Gewalt niedrig – mit großen, fraktionierten Sicherheitskräften und zusätzlich vielen Milizen, die kaum kontrollierbar sind. Diese Bewaffneten stellen einen Berg von Sprengstoff dar.

Wird sich Ihrer Ansicht nach mit der Ablösung der alten Generation also nicht viel ändern?

Ruttig: Ein Teil der ältesten Warlords ist inzwischen weg, aber mit denen, die noch leben, muss man noch ein oder zwei Jahrzehnte rechnen. Zugleich gibt es eine Art dynastische Tendenz, dass die Warlords und Parteiführer ihre Söhne nachziehen. Dabei sieht man, dass sich die afghanische Sozialisation wieder durchsetzt, obwohl die Söhne teils im Westen studiert haben.

Die alten gesellschaftlichen Strukturen sind noch immer da. Sie sind zum Teil durch Krieg und Gewalt untergraben, aber das alte hierarchische Denken existiert weiter: Solange das Oberhaupt der Familie da ist, bestimmt er, wo es lang geht. Große Teile der jungen Generation bewegen sich deshalb in denselben Bahnen wie die Alten. Und wenn man erst einmal in einer offiziellen Position ist, vergisst man schnell seine frühere Kritik und verdient so lange Geld, wie es das noch gibt.

Inwieweit steht Politik im Zusammenhang mit ethnischer Zugehörigkeit?

Ruttig: Die ethnische Komponente spielt eine wichtige Rolle, wird aber oft übertrieben. Die Ethnien sind keine homogenen Gruppen, sondern intern gespalten. In allen gibt es rivalisierende Führer. Zudem versuchen alle Parteien zu zeigen, dass sie nicht allein Repräsentant einer Ethnie sind. Gerade aus der jüngeren Generation hat es nach Ende des Taliban-Regimes Versuche gegeben, über-ethnische, pro-demokratische Parteien zu gründen, doch haben die im Westen nie die Unterstützung erhalten, die sie verdienten, und sind heute leider marginalisiert.

Alle Präsidentschaftskandidaten haben gemischte Teams, doch liegt das auch daran, dass es die ungeschriebene Regel gibt, dass das Staatsoberhaupt Paschtune ist, und seine beiden Stellvertreter den kleineren Ethnien angehören. Letztlich hat sich Afghanistan nie vom ethnischen Denken verabschiedet. Das erschwert, dass sich neue Identitäten und neue politische Lager in Hinblick auf Sachfragen bilden. Es geht noch immer darum: Hast Du die Macht oder habe ich sie? Im Ergebnis hören sich alle Wahlprogramme gleich an.

Thomas Ruttig; Foto: picture-alliance/dpa
Thomas Ruttig ist Mitbegründer und Ko-Direktor des "Afghanistan Analysts Network", einem Zusammenschluss unabhängiger Experten. Seiner Meinung nach hat Präsident Karsai seine "Herrschaft stabilisiert, doch seine Regierungsführung ist problematisch geblieben".

Wie steht es um den Stellenwert der Justiz? Ist diese heute unabhängiger?

Ruttig: Gerade das Justizwesen ist alles andere als unabhängig, sie ist stark der Exekutive untergeordnet und wird von Karsais Verbündetem Abdul Rassul Sayyaf kontrolliert. Es ist eines der problematischsten Bereiche. Das hängt auch damit zusammen, dass es drei Gesetzessysteme gibt: die Scharia, das Stammesrecht und das moderne Recht, die häufig kollidieren. Zumal an der Spitze einige Relativisten stehen, die sagen: Nicht alle Menschenrechte entsprechen dem, was wir im Islam darunter verstehen, und im Zweifelsfall hat das islamische Recht Priorität.

Spiegelt das nicht auch eine in der Bevölkerung verbreitete Rechtsvorstellung wider?

Ruttig: Ich halte das für einen problematischen Diskussionsansatz. Natürlich sind Religion und Stammesrecht tief verankert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das Stammesrecht die Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, ausschließt und im Alltagsislam Frauen dem Manne untergeordnet werden. Zudem ist vieles, was als traditionell verkauft wird, längst nicht mehr traditionell. Die gesellschaftlichen Strukturen sind durch dreißig Jahre Krieg stark beschädigt worden. Vielfach wird die Richtung von Gewaltakteuren bestimmt, die sich religiös legitimieren und keinen Widerspruch zulassen.

Gibt es Ansätze für eine progressive Auslegung des Islam?

Ruttig: Ich sehe da in Afghanistan noch viel weniger Spielraum als in einigen arabischen Ländern oder in der Türkei, weil der gesellschaftliche Trend – auch aufgrund der Gewaltstrukturen – konservativ ist. Die einzigen Denkanstöße sind in Afghanistan aus den Reihen der Schiiten gekommen. Doch wurde von den sunnitischen Orthodoxen oft als Blasphemie ausgelegt. Eine öffentliche Diskussion progressiver Thesen ist unter diesen Umständen nicht möglich. Es gibt dafür keine Freiräume, was natürlich nicht heißt, dass es nicht solche Gedanken gibt.

Ist nach dem Abzug der internationalen Truppen ein Ausgleich mit den Taliban denkbar?

Ruttig: Das wird intensiv diskutiert. Bei einem Teil der Taliban könnte mit dem Abzug eine Motivation für den Kampf entfallen. Aber selbst wenn sie an der Macht beteiligt werden könnten, würde sich das politische System nicht ändern, höchstens würden die schon vorhandenen islamistischen Tendenzen gestärkt. Eine Lösung wäre das nicht. Auch wollen die Amerikaner Truppen im Land belassen und das werden viele „Special Forces“ sein, die Härtesten der Harten, die jetzt schon für viel Konflikt sorgen. Das wäre immer noch genug Antrieb für die Aufständischen, weiter zu kämpfen.

Interview: Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Thomas Ruttig ist Mitbegründer und Ko-Direktor des "Afghanistan Analysts Network“, einem Zusammenschluss unabhängiger Experten. Er hat mehr als zehn Jahre als Diplomat, Journalist und Berater in Afghanistan gelebt und dort für die UNO und die EU gearbeitet.