"Wir haben die Dschihadisten unterschätzt"

Um Dschihadismus effektiv zu bekämpfen muss die europäische Kooperation massiv verstärkt werden. Und Europa muss die Länder im südlichen Mittelmeerraum unterstützen, meint der Politologe Asiem El Difraoui im Gespräch mit Adelheid Feilcke.

Von Adelheid Feilcke

Weshalb haben die Dschihadisten Ihrer Ansicht nach Brüssel als Anschlagsziel gewählt?

Asiem El Difraoui: Es geht natürlich darum, Brüssel als Hauptstadt Europas zu schlagen und damit uns alle als Europäer zu treffen. Was so erstaunt, ist die Nachlässigkeit bei der belgischen Polizei und bei der Kooperation auf europäischer Ebene. Die Menschen haben sich nach der Verhaftung von Abdeslam vor vier Tagen etwas viel auf die Schultern geklopft.

Hat man die Schlagkraft und den Organisationsgrad der Dschihadisten unterschätzt?

El Difraoui: Natürlich, es wurde von allen unterschätzt. Man hat sich zwar gewundert, dass es so viele Menschen waren, die damit zu tun haben. Und man hätte nach der Verhaftung von Salah Abdeslam eigentlich vermuten müssen, dass es noch weitere Zellen gibt – gerade nachdem die Franzosen auch daran beteiligt waren und es in den letzten Tagen misslungene Aktionen gegeben hatte. Keiner will jetzt natürlich offen die Belgier kritisieren und brüskieren. Aber diese Nachlässigkeit existiert mittlerweile seit 30 Jahren. Zur Erinnerung: Die Vorbereitung der Anschläge vom 11. September erfolgte auch aus Molenbeek.

Was muss jetzt geschehen?

El Difraoui: Vor allem muss die europäische Kooperation verstärkt werden, und zwar ganz massiv. Europa muss sich Gedanken machen: Wie können wir wirklich intensiv und sinnvoll kooperieren – nicht nur bei der Terrorismusbekämpfung, sondern vor allem bei der Prävention und der Deradikalisierung.

Aber seit Jahren arbeiten Europol/Interpol bei der Terrorismusbekämpfung zusammen - woran hakt es?

Militär und Polizei vor dem Hauptbahnhof von Brüssel nach den Anschlägen vom 22.03.2016; Foto: Getty Images/AFP/E.Dunand
Europa im Visier der Dschihadisten: Nach Paris hat der IS nun Brüssel attackiert. Die Terroristen töteten in der EU-Hauptstadt mindestens 34 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Nach belgischen Medienberichten starben 14 Menschen am Flughafen und 20 an der Metrostation Maelbeek mitten im EU-Viertel. Dem nationalen Krisenzentrum zufolge wurden etwa 100 Menschen am Airport verletzt, weitere 130 bei der Explosion in dem U-Bahnhof. Die Angst in Europa vor weiteren Anschlägen ist groß.

El Difraoui: Anscheinend ist der politische Wille noch nicht ausreichend vorhanden, die nationale Souveränität in diesem Punkt aufzugeben, die souveränen Rechte. Anders lässt sich das sonst nicht erklären.

Was weiß man über die Organisationsstrukturen der Dschihadisten in Europa, deren Denkweise?

El Difraoui: Man versteht sie immer besser, aber es wird keine öffentliche Debatte darüber geführt. Belgien selbst leistet kaum Präventionspolitik. Der „European Counter-Terrorism“-Koordinator Gilles de Kerchove sagte bereits vor einem Jahr, dass man viel nachholen müsste. Das sollten sie jetzt endlich auch machen! Und das sollten die Deutschen auch unterstützen.

Was bedeuten die Anschläge in Hinblick auf die Gefahrensituation in Deutschland. Besteht Anlass zur Sorge?

El Difraoui: Die Bedrohungslage ist seit langem relativ hoch. Man wusste doch, dass solche Attentate stattfinden können. Und das werden sie auch in Zukunft. Diese Gefahren werden sich aber minimieren, wenn wir alle an einem Strang ziehen und zusammenarbeiten. Auf keinen Fall dürfen wir nun in die Nationalstaatlichkeit zurückfallen und in Panik verfallen!

Inwiefern sollte nicht auch mit den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten bei der Terrorismusbekämpfung kooperiert werden?

Trauer am Place de la Bourse in Brüssel nach den Anschlägen am 22.03.2016; Foto: picture-alliance/empics
Asiem El Difaouri: "Die Extremisten wollen vor allem polarisieren! Daher dürfen wir auf keinen Fall in diese Polarisierungsfalle tappen. Dadurch, dass die Dschihadisten uns viel besser kennen als wir sie kennen, versuchen sie ständig, unsere Gesellschaften zu spalten und Angst zu schüren."

El Difraoui: Wir haben den Dschihadismus seit 30 Jahren vernachlässigt. Wir kümmern uns jetzt um den IS, den ich als "Daesh" bezeichne. Aber es geht nicht nur um "Daesh". Es gibt noch viele andere extremistische Gruppierungen. Wir haben es hier mit einer festgefügten und weit verbreiteten Ideologie zu tun – und wir bekämpfen sie nicht gemeinsam. Gerade im südlichen Mittelmeerraum, bei unseren maghrebinischen Nachbarn, hat sie ganz viele sozioökonomische Wurzeln. Wir brauchen daher eine solidarische Politik mit den Ländern im südlichen Mittelmeerraum, wo der Dschihadismus noch viel mehr Opfer fordert. Doch wir machen in dieser Hinsicht nichts. Und das ist ein europäisches Armutszeugnis! Wir brauchen vor allem einen Marschallplan für das südliche Mittelmeer, wo der Nährboden für Dschihadismus entsteht.

Welche gesellschaftspolitischen Folgen ziehen die Attentate in Europa nach sich?

El Difraoui: Die Extremisten wollen vor allem polarisieren! Daher dürfen wir auf keinen Fall in diese Polarisierungsfalle tappen. Dadurch, dass die Dschihadisten uns viel besser kennen als wir sie kennen, versuchen sie ständig, unsere Gesellschaften zu spalten und Angst zu schüren.

Das Gespräch führte Adelheid Feilcke.

© Deutsche Welle 2016

Asiem El Difaouri ist ägyptisch-deutscher Politologe mit dem Schwerpunkt Dschihadismus und dschihadistische Internet-Propaganda.