"Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung, ist ein uraltes Klischee"

Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung, ist ein uraltes Klischee, meint die Berliner Arabistik-Professorin und Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth. Der Stolz auf die Aufklärung verleite immer wieder dazu, die westliche Kultur der islamischen als überlegen darzustellen. Mit Neuwirth sprachen Anna Alvi und Alia Hübsch.

Von Anna Alvi und Alia Hübsch

Frau Neuwirth, auf mehr als 800 Seiten versuchen Sie in ihrem Werk "Der Koran als Text der Spätantike" einen europäischen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Was genau ist mit dem "europäischen" Blick auf den Koran gemeint?

Angelika Neuwirth: Das Buch selber legt das dar. Ich versuche zu zeigen, dass wenn man den Koran historisch liest, man auf dieselben Traditionen stößt, die von Europäern als für ihre Kultur grundlegend in Anspruch genommen werden. Der Koran wird als eine Verkündigung gelesen, das heißt als Botschaft an Personen, die noch gar nicht Muslime waren. Denn Muslime wurden sie ja erst durch die Verkündigung. Dieser Blick zeigt, dass damals dieselben Probleme auf der arabischen Halbinsel diskutiert wurden, wie in der umliegenden spätantiken Welt, die später dann gewissermaßen als Grundlage Europas wahrgenommen wurde. Das heißt, wir entstammen alle einem gemeinsamen Entstehungsszenario – ein Sachverhalt, der nur durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist.

Buchcover Der Koran als Text der Spätantike im Suhrkamp-Verlag
Der Koran als ein lebendiger Debattenbeitrag unter vielen in der Spätantike: Angelika Neuwirths fundierte Analyse der Frühgeschichte des Islams stellt zweifelsohne eine Bereicherung für die Islamwissenschaft dar.

Dann geht es also weniger um einen "europäischen" Zugang, als vielmehr um die verbindenden Elemente der Spätantike bzw. die Einflüsse der Antike. Und weder der sogenannte "Orient" noch der "Okzident" können diese Elemente als Eigenheit für sich beanspruchen…

Neuwirth: Das tun sie allerdings faktisch. Sowohl im Orient, also in der konventionellen islamischen Selbstwahrnehmung, wird davon ausgegangen, dass der Islam sich bereits seit seinen Anfängen essentiell von der umgebenden Kultur unterscheidet, dass mit ihm etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist. Davor gab es das Zeitalter der Dschahiliya, der Unwissenheit – eine gering geschätzte Epoche, die man nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen muss.

Und im Westen glaubt man, dass der Islam das ganz Andere ist, also etwas, was nicht zur eigenen Kultur gehört. Es sind uralte Festschreibungen von Andersheit, die historisch nicht zu halten sind, die sich aber aufgrund von früheren Machtverlagerungen oder Machtverhältnissen eben so festgeschrieben haben. 

Würden Sie dann auch der Auffassung widersprechen, dass die Aufklärung für den Islam zwingend notwendig ist oder dass Vernunft und Wissenschaft bis heute in einem Spannungsverhältnis zum Glauben stehen?

Neuwirth: Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung, ist ein uraltes Klischee. Der Stolz auf die Aufklärung, wenn er sich inzwischen allerdings auch etwas gelegt hat, verleitet immer wieder dazu, der westlichen Kultur gegenüber dem Islam einen erheblichen Vorsprung zuzumessen.

In der islamischen Geschichte hat es zwar keine flächendeckende Säkularisierungsbewegung gegeben, dies aber deshalb nicht, weil Sakrales und Säkulares im Islam bereits nebeneinander existierten. Auch war das Kräfteungleichgewicht zwischen Ost und West keineswegs immer so groß wie es heute vorherrscht. Die islamische Wissenskultur war sehr lange der westlichen oder überhaupt der außerislamischen weit überlegen. Das hat nicht zuletzt zu tun mit den medialen Vorsprüngen, die man hatte.

In der islamischen Welt wurde beispielsweise schon seit dem 8. Jahrhundert Papier hergestellt. Dies ermöglichte wiederum, immense Massen von Texten zu verbreiten, wovon zur gleichen Zeit im Westen noch gar keine Rede sein konnte. Es ist sicher mehr als das Hundertfache des im Westen an Schriften Vorhandenen, was da an arabischen Texten in Umlauf gebracht worden ist. Bis zum 15. Jahrhundert war man im Westen noch auf Pergament angewiesen, was sehr kostspielig und schwer zu bekommen war.

Welches Frauen- und Menschenbild konstatiert der Koran?

Neuwirth: Natürlich ist der Koran kein Nachschlagwerk für soziales Verhalten. Weite Kreise gehen heute davon aus, dass man alle Normen des Islam bereits im Koran finden kann. So war der Koran aber nicht gedacht. Es wandte sich als Verkündigung an Leute, die andere Normen kannten und bereit waren, diese Normen infrage zu stellen. Der Koran bildet Verhandlungen über verschiedene Normen ab. Dass man die relativ wenigen rechtlich relevanten Anweisungen dann systematisiert und zu einem Teil des islamischen Normenkanons, der Scharia gemacht hat, ist eine andere Sache.

Die spätere Rechtsliteratur reflektiert nicht dieselben Verhältnisse wie der Koran. Das zeigt sich besonders deutlich am Bild der Frau, das ja in der islamischen Rechtsliteratur ganz anders aussieht als im Koran. Gerade hier markiert der Koran einen revolutionären Fortschritt: Er stellt die Frau vor Gott auf gleiche Ebene mit dem Mann, was zur damaligen Zeit einmalig ist. Beide Geschlechter werden im jüngsten Gericht auf dieselbe Weise beurteilt. Das klingt von heute aus betrachtet vielleicht irrelevant, aber das ist es nicht. Zur damaligen Zeit war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann noch ganz undenkbar – es gab sogar noch Diskussionen darüber, ob die Frau überhaupt eine Seele habe. Die Frau wurde sehr ambivalent beurteilt und ihr Rechtsstatus war in vielen vorislamischen Gesellschaften ausgesprochen ungünstig. Der Koran rückt die Frau auch in wichtigen weltlichen Dingen auf die gleiche Ebene mit dem Mann, sie besitzt Rechte und kann sogar erben, ist also keineswegs entmündigt. 

Navid Kermani spricht in seinem Werk "Gott ist schön" von der ästhetischen Dimension des Korans. Worin besteht diese Ästhetik?

Neuwirth: Wenn man, wie es heute viele Koranforscher tun, den Koran ausschließlich als eine Art Informationsmedium liest und versteht, wird man der ganzen Sache nicht gerecht. Der Koran ist sehr stark poetisch geprägt und enthält viele Botschaften, die gar nicht explizit, gar nicht eindeutig auf der semantischen Ebene mitgeteilt werden, sondern durch poetische Strukturen. Sonst wäre der Koran auch gar nicht so eindringlich. Das Einzigartige am Koran ist eben seine Vielschichtigkeit, dass er auf verschiedenen Ebenen spricht – und das ist einerseits natürlich ästhetisch von großem Reiz, aber es ist auch, wenn man so will, rhetorisch oder überzeugungstechnisch von großem Reiz.

Wie gesagt, die Aussagen des Korans ließen sich vielleicht in einem ganz kurzen Zeitungsresümee zusammenfassen, das hätte aber keinerlei Effekt gehabt. Es geht wirklich um diese Verzauberung durch Sprache. Sprache selbst wird im Koran auch gepriesen als die höchste Gabe, die der Mensch von Gott erhalten hat. Das hat natürlich mit Wissen zu tun. Sprache ist das Medium des Wissens. Deswegen sollte man auf gar keinen Fall der islamischen Kultur auch noch Wissensfeindlichkeit unterstellen. Also der ganze Koran ist im Grunde genommen ein Preis auf das Wissen. Das Wissen, das sich durch Sprache artikuliert.

Welche Parallelen weist der Koran zu den religiösen Schriften der Juden und Christen auf? Was ist konkret die besondere Auszeichnung des Korans bzw. was hat der Koran Neues hervorgebracht?

Neuwirth: Der Koran muss ja Neues gebracht haben, wenn er so viele hundert Jahre nach der zuvor entstandenen heiligen Schrift in die Welt tritt (ca. 500 Jahre nach dem Neuen Testament). Zum einen würde ich sagen ist es sein Beharren darauf, dass das Wissen ein ganz immens wichtiger Anteil am menschlichen Leben und auch am menschlichen religiösen Leben hat. Der Gedanke ist im Neuen Testament zum Beispiel nicht interessant. Das Neue Testament hebt auf andere Dinge ab, und die Thora, das Alte Testament, also die hebräische Bibel, ebenfalls.

Die Fokussierung auf das Wissen ist eindeutig eine Neuheit, die es vorher nicht gegeben hat. Das hängt zusammen mit der spätantiken Entstehung. Damals war man bereit, Wissen in den Vordergrund zu stellen. Außerdem lässt sich anführen, dass im Koran die Universalisierung der Botschaft, die sich nun an alle Menschen richtet, eine besondere Rolle spielt.

Der Koran; Foto: DW/Ahmed Hamdy
Neue Perspektiven auf den Koran: Seit 2007 ist die Islamwissenschaftlerin und Arabistin Angelika Neuwirth Leiterin des Forschungsprojekts "Corpus Coranicum" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Darin erarbeiten Islamwissenschaftler eine umfassende historisch-kritische Edition des Koran.

Der Koran hat kein besonderes Verständnis für das Erwählungsverständnis der Juden. Eine solche Erwählung lehnt die koranische Stimme ab, an die Stelle einiger Erwählter treten die Menschen insgesamt. Auch die Erwählung der Christen, die sich an die Stelle der Juden gesetzt hatten, wird zurückgewiesen. Es gibt keine Erwählten, sondern ausschließlich Menschen, die bestimmten Vorbildern folgen, sich aber nicht auf irgendwelche Erwählungsprivilegien berufen können (d.h. weder wie die Juden auf Abraham oder wie die Christen auf Christus). Diese Berufungen helfen vor Gott gar nicht, sondern jeder ist allein verantwortlich und hat für sein Tun Rechenschaft abzulegen.

Das heißt, dass jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu Gott aufbauen kann, ohne dass es dafür eine vermittelnde Instanz gibt?

Neuwirth: Ja, das kann man so sagen, wenngleich auch der Koran selber in gewisser Hinsicht eine vermittelnde Instanz ist – nämlich als Medium, durch das man leichter diesen Zustand erreichen kann. Durch die Erfüllung der rituellen Verpflichtung, vor allem durch das Gebet, durch die Rezitation des Korans, hat der Gläubige einen Zugang, der anderen nicht offen steht. Das ist aber ein rituell-verbaler Zugang, jedoch keine auf eine Person, auf einen Vorfahren oder auf eine Erlöserfigur gegründete Privilegierung.

Welchen Rat würden Sie einem Menschen geben, der bisher keinen Zugang zur Religion des Islams hatte und sich zum ersten Mal mit dem Koran beschäftigen möchte?

Neuwirth: Das ist insofern ein ganz unvorteilhafter Ausgangspunkt, da er dann ja auch gar keinen Zugang zu den anderen heiligen Schriften hatte. Es ist ja leider so, dass man das Wissen, das die Hörer des Propheten hatten, normalerweise nicht mehr hat. Die Hörer des Propheten waren gebildet, sie verfügten über viel Bibelwissen und auch philosophisches Wissen der Zeit, das wir heute nicht haben.

Was kann man also tun? Wenn man Muslim ist, tut man gut daran, einfach die Koran-Kommentare zu lesen. Sie enthalten ja die Erfahrungen der muslimischen Gemeinde mit dem Koran. Das ist auf jeden Fall hilfreich – auch wenn diese auch aus einer Zeit stammen, die nicht die unserige ist; und es manchmal irritierend, was man da zu lesen bekommt.

Wenn man Außenstehender ist, sollte man sich vielleicht damit begnügen, zunächst einmal den letzten Teil des Korans zu lesen – nach Möglichkeit auf Arabisch – und dabei eine Koranrezitation hören. Dieses letzte Dreißigstel des Korans, das Dschuz' 'amm, wie es im Arabischen heißt, eröffnet einen sehr schönen Zugang. Wenn sich einem da nichts erschließt, wird man dies auch nicht bei Sure Zwei erleben (lacht).

Interview: Anna Alvi und Alia Hübsch

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Prof. Dr. Angelika Neuwirth studierte Arabistik, Semitistik und Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin sowie in Teheran, Göttingen, Jerusalem und München. Nach ihrer Habilitation arbeitete sie von 1977 bis 1983 als Gastprofessorin an der Universität von Jordanien in Amman. Von 1994 bis 1999 war sie Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul. Derzeit ist sie an der Freien Universität in Berlin als Professorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Korans und der Koranexegese, in der modernen arabischen Literatur der Levante, der palästinensischen Dichtung und der Literatur des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für ihre Koranforschung erhielt sie im Juni 2013 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.