"Die Ägypter haben Angst um ihre Sicherheit"

Der ägyptische Intellektuelle und ehemalige Oppositionspolitiker Amr Hamzawy wirft im Rückblick sowohl Säkularen als auch Islamisten vor, die Ideale der Demokratiebewegung von 2011 verraten zu haben. Eine neue Revolution ist für ihn vorerst nicht in Sicht. Mit ihm sprach Daniel Steinvorth.

Von Daniel Steinvorth

Herr Hamzawy, fünf Jahre nach der Revolution ist Ägypten faktisch wieder eine Militärdiktatur. Zugleich kann sich das Regime von Präsident Abdel Fattah al-Sisi offenbar auf breite Zustimmung stützen. Haben die Ägypter kein Interesse mehr an politischen Experimenten, und nehmen sie deswegen die autoritären Verhältnisse in Kauf?

Amr Hamzawy: Zunächst muss man sagen, dass es die ganz breite Unterstützung für Sisi, wie es sie nach dem Militärputsch von 2013 gab, heute nicht mehr gibt. Man sah das bei der Wahlbeteiligung an den letzten Parlamentswahlen: Sie lag bei nur noch 25 Prozent, während sie 2011 doppelt so hoch war. Zweitens gab es im vergangenen Jahr über tausend kleinere Protestkundgebungen unter Studenten, Arbeitern, Staatsangestellten. Die Unzufriedenheit mit dem Regime ist gestiegen. Auf der anderen Seite werden den Ägyptern täglich die instabile Lage in der Region und die terroristische Bedrohung im eigenen Land vorgehalten. Es wird ihnen eingebläut: Ihr wollt doch nicht etwa Verhältnisse wie im Irak, in Syrien, Jemen oder Libyen? Die staatlichen Medien rufen die Menschen dazu auf, Gott zu danken, dass er ihnen in dieser Lage einen Herrscher wie Sisi geschenkt hat.

Wie wird heute offiziell auf die Revolution von 2011 geschaut?

Hamzawy: Es wird den Ägyptern suggeriert, dass die politischen Experimente nach 2011 dem Land nicht gut getan hätten und dass letztlich nur das Militär für mehr Arbeit, Brot und Sicherheit garantieren könne. Zugleich wird den Leuten gesagt, dass ein wahrer Patriot nur sein kann, wer bedingungslos hinter dem Präsidenten steht. Der Retter der Nation ist der Retter in Uniform. Diese Logik gehört seit den fünfziger Jahren zur politischen Kultur in Ägypten. Wer sie hinterfragt, wird diffamiert.

So wie Sie . . .?

Hamzawy: Ich hatte ein Jahr lang Ausreiseverbot, und es gab nach 2013 mehrere Diffamierungskampagnen gegen mich, als ich forderte, die Menschenrechtsverletzungen des Regimes aufzuarbeiten. Es war mir nicht mehr möglich, politisch aktiv zu sein oder offen zu sprechen. Daher lebe ich zurzeit im amerikanischen Exil, in Stanford. Und so geht es vielen anderen auch. Die meisten kritischen Stimmen sind außerhalb des Landes.

Wahlplakat Abdel Fattah al-Sisis in Kairo; Foto: Arian Fariborz
Der Retter der Nation ist der Retter in Uniform: "Es wird den Ägyptern suggeriert, dass die politischen Experimente nach 2011 dem Land nicht gut getan hätten und dass letztlich nur das Militär für mehr Arbeit, Brot und Sicherheit garantieren könne", so Amr Hamzawy.

Rückblickend betrachtet: Warum musste der Aufstand für "Brot, Freiheit und Würde" scheitern? Und was waren aus Ihrer Sicht die größten Fehler der Demokratiebewegung?

Hamzawy: Die politischen Akteure von damals haben viele Fehler begangen und sie bis heute nicht aufgearbeitet. Einer war, dass man zwischen 2011 und 2013 zu sehr mit Identitätskampagnen beschäftigt war, die die breite Masse der Ägypter nicht nachvollziehen konnte. Sie fragten: Was haben die Debatten um Islamismus und Säkularismus mit unseren Lebensbedingungen zu tun? Die ideologischen Grabenkämpfe führten dazu, dass die Idee von Demokratie und Wandel beim Volk ihre Glaubwürdigkeit verlor. Die säkularen, linken und liberalen Kräfte appellierten an das Militär, noch einmal in die Politik einzugreifen, weil sie mit den Muslimbrüdern nicht einverstanden waren. Die Demokratie wurde also ausgehebelt, um die Islamisten loszuwerden. Die Islamisten wiederum haben in ihrer kurzen Regierungszeit auch jede Menge Fehler begangen. Sie haben versucht, ihren Willen gegen alle Widerstände durchzusetzen, und sie haben einen sehr aggressiven Diskurs gegenüber den Kopten und anderen Minderheiten geführt. Es ist kein Wunder, dass die Kopten Sisi heute am meisten unterstützen.

Haben die Muslimbrüder nicht ebenso die Demokratiebewegung verraten, indem sie versuchten, sich mit den alten Eliten zu arrangieren?

Hamzawy: Ja, denn viele Linke und Liberale waren 2011 durchaus bereit, mit den Islamisten zusammenzuarbeiten, um eine demokratische Ordnung zu entwickeln. Es gab ein einmaliges Zeitfenster für die Demokratie; auch, weil die alten Eliten zunächst nicht intervenierten. Die Muslimbrüder allerdings waren, einmal an der Macht, besessen von ihrer Idee einer islamistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und hörten weniger ihren Partnern im linken und liberalen Lager zu als den Salafisten. Das war der Beginn der Identitätspolitik, in der sich alles um die Scharia drehte und jeder Wahlgang als Kampf für die Religion bezeichnet wurde. Die Muslimbrüder kamen zwar demokratisch an die Macht. Aber dann wollten sie sich mit den Wirtschafts- und Finanzeliten, dem Militär und dem Sicherheitsapparat arrangieren, wie es schon Mubarak tat, anstatt auf Reformen im Sicherheitsapparat zu pochen. Das war ihr zweiter Betrug an der Demokratiebewegung.

. . . der in den Putsch von 2013 mündete.

Hamzawy: Ich gehörte auch zu jenen, die dem gewählten Präsidenten Mursi eine Chance geben wollten. Als man aber sah, wie er immer weiter nach rechts abdriftete, alle ehemaligen Partner im säkularen Lager ausschloss und sich gleichzeitig dem Militär anbiederte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Im säkularen Lager wuchs der Hass auf die Islamisten, und man wandte sich seinerseits an die Militärs. Doch natürlich war der Gedanke falsch, dass das Militär Mursi bloß absetzen und sich dann in die Kasernen zurückziehen würde. Genauso hat man unterschätzt, welche Signale dies an die Bevölkerung senden würde: dass die Linken und Liberalen im Grunde überhaupt keine Kraft haben, um irgendetwas selbst zu verändern, und auch sie letztlich auf das Militär angewiesen sind.

Plakat Mursis vor einer Absperrung des ägyptischen militärs in Kairo; Foto: picture-alliance/dpa/K. Elfiq
Politisch kalt gestellt und unterdrückt: Im Juni 2012 wurde der Muslimbruder Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt, ein Jahr später aber von Sisi gestürzt. Dieser regiert Ägypten seither mit harter Hand. Mehr als 1400 Pro-Mursi-Demonstranten wurden getötet. Zehntausende Muslimbrüder wurden inhaftiert, hunderte zum Tode verurteilt, unter ihnen auch Mursi selbst.

Viele Sisi-Befürworter relativieren die Repressionen des Regimes heute, indem sie auf die Ära Mursis verweisen und die Gefahr, die heute noch von den Muslimbrüdern ausgehe.

Hamzawy: Nun, es ist eine Massenhysterie im Gange. Der Höhepunkt war im Sommer 2013, als das Sit-in von Rabaa brutal niedergeschlagen wurde und bis zu tausend Ägypter starben. Wie reagierten große Teile der Bevölkerung? Sie applaudierten! Das Regime hatte die Islamisten erfolgreich dehumanisiert, nach dem Motto: Das sind keine Menschen mehr, also können sie auch eliminiert werden. Ich bin noch immer schockiert, wie über Rabaa geschwiegen wird und die jetzigen Repressionen in Kauf genommen werden. Man kann diese nicht mit Verweis auf die Ära Mursis entschuldigen, denn unter Mursi gab es bei weitem nicht das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen, wie wir es momentan erleben.

Sehen Sie die Muslimbrüder heute am Ende, oder werden sie irgendwann wieder eine politische Rolle spielen in Ägypten?

Hamzawy: Die letzten zwei Jahre waren wohl die schlimmsten in ihrer Geschichte – selbst im Vergleich zu den fünfziger Jahren. Ihre Anführer und Tausende ihrer Mitglieder sitzen heute im Gefängnis, sind tot oder im Exil. Die Bewegung als Ganzes ist konfus und orientierungslos, während einige Gruppen an den Rändern schon nicht mehr gewaltlos agieren. Ihr Diskurs unterscheidet sich kaum noch von jenem des Islamischen Staats (IS): Da werden Vertreter des Staates als Ungläubige, da wird das ganze Staatsgebilde als unislamisch bezeichnet. Zugleich weigert sich die Bruderschaft bis heute, ihre eigenen Fehler aufzuarbeiten, die Ängste ihrer Gegner zu verstehen und zu analysieren. Wenn sie diese Debatte nicht führt, wird sie weiterhin orientierungslos bleiben. In der Zwischenzeit schreitet die Radikalisierung voran, aber was erwarten Sie, wenn die Gefängnisse von Häftlingen überquellen, wenn es ständig neue Berichte von Folter und außergerichtlichen Tötungen gibt?

Wenn Sie mir zustimmen, dass die Ausgangsbedingungen, die 2011 zum Volksaufstand führten, heute noch gegeben sind: Wäre eine neue Revolution denkbar?

Hamzawy: Ich neige dazu zu glauben, dass sich die großen Ereignisse in der Geschichte eines Landes nicht wiederholen. Aber die Ausgangslage ist ähnlich oder sogar noch schlimmer: die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die trüben sozialen Perspektiven, die riesige Kluft zwischen Reich und Arm, die Korruption. Der Unterschied ist, dass die Menschen 2011 keine Angst hatten, auf die Straße zu gehen. Auch waren die oppositionellen Akteure damals glaubwürdiger. Das ist heute alles nicht gegeben. Die Ägypter haben Angst um ihre Sicherheit, auch mit Blick auf die Region. Das hält sie von der Straße fern. Sollte es das Sisi-Regime aber nicht schaffen, Reformen einzuleiten, die soziale Gerechtigkeit schaffen, wird es sich auf lange Sicht nicht halten können.

Das Interview führte Daniel Steinvorth.

© Neue Zürcher Zeitung 2016

Amr Hamzawy, Jahrgang 1967, ist eines der bekanntesten demokratischen Gesichter Ägyptens. Während der Revolution 2011 wurde der Publizist und Menschenrechtsaktivist in den "Rat der Weisen" berufen, der zwischen der Protestbewegung und der Regierung vermittelte. Im selben Jahr wurde er als einziger Liberaler direkt ins Parlament gewählt. Den Sturz des Präsidenten Mohamed Mursi im Juli 2013 kritisierte er, woraufhin er in Ägypten in Ungnade fiel. Mittlerweile lehrt der promovierte Politikwissenschaftler an der Stanford-Universität in Kalifornien.