Der missverstandene Dschihad

Der Begriff des Dschihad geistert seit Jahren durch die Presse. Dass seine wahre Bedeutung weder etwas mit Selbstmordattentaten noch mit "heiligem Krieg" zu tun hat, erklärt Khaled Abou El Fadl im Gespräch.

Der Begriff des Dschihad geistert seit Jahren durch die Presse. Dass seine wahre Bedeutung weder etwas mit Selbstmordattentaten noch mit "heiligem Krieg" zu tun hat, erklärt Khaled Abou El Fadl im Gespräch.

Das, was Selbstmordattentäter als Dschihad verkaufen, ist nichts anderes als eine Strategie offensiver Bombenanschläge, die von der revolutionären Ideologie der 60er Jahre beeinflusst ist, meint Khaled Abou El Fadl.

​​Dr. Khaled, Selbstmordattentate scheinen bei muslimischen Radikalen heutzutage im Trend zu liegen. Hashem Saleh, ein syrischer Intellektueller, verglich sie deshalb mit den Kamikaze-Piloten. Was ist Ihre Meinung zu Selbstmordanschlägen im Namen des Islam? Khaled Abou El Fadl: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass dieser Trend nichts mit dem Konzept des Dschihad zu tun hat. Der Dschihad ist mit den Selbstmordanschlägen in keiner Weise zu vergleichen. Das Konzept des Dschihad unterscheidet sich auch vom heiligen Krieg zur Zeit der Kreuzzüge, der sich aus der Doktrin der Selbstreinigung durch Blutvergießen entwickelt hatte. Im heiligen Krieg wird der Mord als eine Möglichkeit angesehen, sich Gott zu nähern, und der Krieg selbst wird als heilig betrachtet. Deshalb gilt auch keine im Krieg begangene Grausamkeit als Barbarei. Im Gegensatz dazu gründet sich der Dschihad immer auf die Macht der Da'wah (Verbreitung des Islam); Rachegefühle haben darin keinen Platz. Im Konzept des Dschihad wird der Krieg immer als etwas Böses angesehen, als Übel, das nur in Kauf zu nehmen ist, wenn es keine andere Wahl gibt. Nur unter einer einzigen Bedingung kann Krieg gerechtfertigt werden: Wenn er dazu dient, Muslime aus der Tyrannei zu befreien oder sie vor Angriffen zu schützen. Darin besteht das Konzept des Dschihad. Den Dschihad aber mittels Selbstmordanschlägen führen zu wollen, ist eine moderne Vorstellung; aus der gemäßigten islamischen Literatur ist sie jedenfalls nicht abzuleiten. Vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, werden die Selbstmordattentäter von der Vorstellung eines Lebens nach dem Tod beflügelt. Dabei lässt der Dschihad der Selbstmordattentäter die wesentlichen Bedingungen einer Kriegsvorbereitung, wie sie im Koran festgelegt sind, außer Acht. Sie verstehen unter dem Dschihad keineswegs einen Akt der Befreiung, sondern lediglich einen der Zerstörung. Es geht ihnen darum, Widerstand zu leisten gegen die westliche Vorherrschaft. Darin liegt der Unterschied zu dem Dschihad, der auf moralischen Prinzipien beruht. Das, was Selbstmordattentäter als Dschihad verkaufen, ist nichts anderes als eine Strategie offensiver Bombenanschläge, die von der revolutionären Ideologie der 60er Jahre beeinflusst ist. Also verneinen Sie jeden Zusammenhang zwischen den heutigen Selbstmordanschlägen und dem Konzept des Dschihad?

Khaled Abou El Fadl

​​Abou El Fadl: Es geht nicht um die Selbstmordanschläge an sich, sondern um das Töten von Menschen, bei dem kein Unterschied gemacht wird zwischen Aggressoren und "Nicht-Aggressoren". Die islamische Rechtsprechung hat diese Art des wahllosen Tötens verboten. Es ist eine Form des Tötens, bei der das Opfer keine Chance hat, sich zu wehren. In der Rechtsliteratur nimmt die Moral einen breiten Raum ein, insbesondere, wenn es um Krieg geht. Es dürfen keine Gefangenen, keine Kinder, keine Frauen und schwachen Männer getötet werden. Die Ideologie der Selbstmordattentäter infiltriert das Konzept des Dschihad. Sie wollen den Widerstand gegen den Westen um jeden Preis und erklären deshalb andere Muslime kurzerhand zu Ungläubigen. Ganz deutlich haben wir dies etwa beim Mord an dem ägyptischen Botschafter im Irak und an den wiederholten Angriffen auf irakische Schiiten gesehen. Ich halte solche Aktionen für eine Konsequenz des Wahhabismus, aus dessen Sicht alle Schiiten außerhalb des Islam stehen und deshalb bekämpft werden müssen. Leute wie Abu Muzab al-Zarqawi erklären manche Muslime zu Abtrünnigen und erlauben deren Ermordung. Können Sie den Wunsch der Selbstmordattentäter nachvollziehen, Widerstand gegen die westliche Hegemonie zu leisten? Abou El Fadl: Ich bestreite nicht, dass es das Problem einer Vorherrschaft des Westens gibt. Und doch müssen wir uns eine Frage stellen: Worum geht es eigentlich bei dieser Hegemonie, und wie schaffen es Länder wie China, Japan, Iran, Südkorea und die Türkei, sich dagegen zu behaupten? Wir vergessen, dass die wichtigsten und ruhmvollsten Waffen heute Wissenschaft und Technologie sind. Wir brauchen Staatssysteme, die das Tor zu Wissenschaft und Kultur öffnen, das Problem der Umweltverschmutzung lösen, die Trinkwasserversorgung sicherstellen und die Ausbreitung von Krankheiten verhindern. Nur in der Technologie liegt die Antwort auf all diese Fragen. Korrupte Staatsführungen zu bekämpfen ist der erste Schritt, um die Vorherrschaft des Westens zu brechen. Das Aufrüsten und Zusammentreiben der Pferde, von dem im Koran die Rede ist [Sure 8, Vers 60, d. Ü.], meint heute nichts anderes als die Aneignung von Wissen und die Förderung des technologischen Fortschritts. Wer über Wissen und Technologie verfügt, wird die Welt beherrschen. Erstmals veröffentlicht am 9. August 2005. Die Diskussion fand am 24. Juli dieses Jahres im Hilton Hotel von Jakarta statt, während eines Aufenthalts von Khaled Abou Interview: Novriantoni und Ramy El-Dardiry © Liberal Islam Network 2005 Aus dem Englischen von Daniel Kiecol Prof. Dr. Khaled Abou El Fadl ist Professor für islamisches Recht an der Universität von Los Angeles (UCLA)

Qantara.de Khaled Abou El Fadl "Gott hat keine Partner" Khaled Abou El Fadl ist sowohl Jurist für islamisches Recht wie auch amerikanischer Rechtsanwalt. Er fordert eine intellektuelle Revolution des Islam und kritisiert scharf die saudisch-wahhabitische Auslegung des Korans. Ein Portrait von Monika Jung-Mounib. Indonesien: Netzwerk Liberaler Islam Den Islam im gesellschaftlichen Kontext interpretieren Acht Monate vor dem 11. September 2001 fand sich in Indonesien eine kleine Gruppe muslimischer Intellektueller zusammen, um ein progressives Gegengewicht zu konservativen islamistischen Bewegungen in ihrem Land zu bilden: das Netzwerk Liberaler Islam. Christina Schott stellt die Gruppe vor.