"Jeder Muslim muss das Recht haben, den Koran zu interpretieren"

Einige muslimische Frauen interpretieren den Koran als einen Text der Befreiung, der ihnen einen Weg aus ihrer Unterdrückung weisen kann. Eine der Forscherinnen, die dieser emanzipatorischen Sicht des Korans anhängen, ist Dr. Asma Barlas vom Ithaca College, N.Y., USA. In ihrem letzten Buch, "Believing Women in Islam: Unreading Patriarchal Interpretations of the Qur’an", untersucht sie die männlich orientierten Sichtweisen des Korans und bietet eine eigene, antipatriarchale Interpretation an.

Von Novriantoni und Ramy El-Dardiry

Die Ideen, die Sie in Ihrem Buch "Believing Women in Islam: Unreading Patriarchal Interpretations of the Qur’an" äußern, sind weniger kontrovers als die Theorie, die Prof. Nasr Hamid Abu Zaid aufstellt, der sich Gedanken über den ontologischen Aspekt des Koran macht. Sie scheinen den Koran nicht als Produkt der Kultur auf der Arabischen Halbinsel zu betrachten, sondern kritisieren vor allem die patriarchalen Interpretationen des Koran. Warum sehen Sie den Koran selbst nicht als das eigentliche Problem an?

Asma Barlas: Weil ich ihn als gläubige Muslimin nicht für das Problem halte. Ich habe den ontologischen Status des Korans als göttliche Offenbarung nie in Frage gestellt. Für mich als Muslimin ist die Prämisse immer, dass es sich beim Koran — ontologisch gesprochen — um das Wort Gottes handelt. Das Problem liegt somit nicht im Koran als heiligem Text selbst, sondern darin, dass wir ihn nicht richtig auslegen. Nicht der Text selbst ist für mich also der Kern des Problems (wie er es für viele andere Gelehrte ist), sondern eher, wie sich der Mensch den Text aneignet. Es geht nicht darum, ob etwas heilig ist oder nicht. Vielmehr ist die Frage, was wir unter dem "Heiligen" überhaupt verstehen. Für mich stellt sich demnach die Frage nach dem Gehalt der "Heiligkeit" selbst. Das sind zwei sehr verschiedene Dinge: die Idee und der Gehalt.

Wie Fazlur Rahman es einmal sagte, glaube auch ich nicht, dass ein völliges Einverständnis in Bezug auf den Koran überhaupt wünschenswert wäre, dass es also nur die eine, "richtige" Interpretation gebe. Gerade die Unterscheide in den Meinungen können zu einer neuen Synthese führen, die die Debatte am Leben erhält und uns zu immer neuen Gedanken zwingt. Ich glaube nicht, dass wir nach Uniformität streben sollten, denn diese ist immer das Kennzeichen von Fundamentalismus. Streit ist wichtig, und das "Nicht-Zustimmen" ist ein natürlicher Fakt des Lebens, der im Koran im Übrigen Hunderte Male Erwähnung findet. Alles, über das man keinen Konsens erzielt, verweist wieder auf Gott.

Der Koran berichtet, dass Gott selbst verschiedene Stämme und damit die Vielfalt schuf, deshalb kann es nichts Schlechtes sein. So glaube ich schließlich nicht, dass es damit getan ist, dem Koran seinen Charakter als heilige Schrift abzusprechen; das wird keines unserer Probleme lösen, und wir leben deshalb noch lange nicht ein glückliches Miteinander. Dies kann schon deshalb nicht funktionieren, weil es dann noch immer die unterschiedlichen Interpretationen gibt und die politischen Ambitionen, die dahinterstehen.

Sind Sie optimistisch, dass sich Ihr feministischer Ansatz der Koran-Interpretation eines Tages zum dominierenden Diskurs in der muslimischen Welt entwickeln kann?

Barlas: Ich würde mich nicht als Feministin bezeichnen, da ich denke, dass das Konzept des Feminismus zuvor einer gründlichen Klärung bedarf. Viele Feministinnen verurteilen den Islam als eine patriarchale Religion. Bis es innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu einer Klärung darüber gekommen ist, was wir überhaupt unter Feminismus zu verstehen haben, würde ich einfach sagen wollen: Ich bin eine Gläubige. ​​Bin ich optimistisch? Nein, das bin ich nicht, denn viele der konservativen Kräfte sind sehr stark. Werde ich noch zu meinen Lebzeiten erleben, dass sich das muslimische Denken grundlegend ändert? Noch einmal bin ich nicht allzu hoffnungsvoll, doch kämpfe ich für das, was ich für richtig halte. Ich verfolge meiner eigenen Arbeit gegenüber einen historischen Ansatz; das bedeutet, dass ich zwar nicht weiß, ob das, wofür ich eintrete eines Tage eine echte Wirkung zu entfalten vermag, es aber doch tue, weil ich nun mal eine bestimmte ethische Verpflichtung mir selbst und meiner Religion gegenüber spüre.

Glauben Sie, dass Ihre Anschauungen sich in gleicher Weise entwickelt hätten, wenn Sie nicht mit dem feministischen Diskurs im Westen in Berührung gekommen wären?

Barlas: Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie sehr ich Feministinnen und dem feministischen Denken verpflichtet bin. Nur weil ich das Label einer Feministin für mich ablehne, heißt das nicht, dass ich mich als unbeeinflusst von feministischem Denken fühlte. Ich arbeite mit einigen Feministinnen zusammen und wurde ganz sicher von ihren Ideen beeinflusst.

Und doch vertrete ich einen kritischen Ansatz, der vielen Feministinnen fremd ist. Würde ich gelernt haben, in dieser Weise zu denken, wenn ich nicht mit einer ganz bestimmten Erziehung und geprägt von einer bestimmten Kultur aufgewachsen wäre? Nein, wahrscheinlich nicht. Man kann den Rahmen seiner Erziehung und seiner Kultur nicht so einfach abschütteln. Ich bin wohl ein kulturelles Mischwesen, da meine Erziehung, als ich noch in Pakistan lebte, eine sehr westliche war. Ich wurde in einer katholischen Schule unterrichtet, und meine erste Sprache war Englisch, die wir auch zuhause mit meinen Eltern sprachen. So bin ich wohl ein Produkt sowohl einer islamischen Sensibilität als auch einer westlichen Ausbildung.

Finden Sie einen Zugang zur islamischen Gemeinschaft in den USA und können Sie Ihre Gedanken dort verbreiten? Oder handelt es sich letztlich doch eher um eine akademische Debatte, an der Sie sich beteiligen?

Barlas: Zunächst einmal gibt es keine in sich geschlossene muslimische Gemeinschaft in den USA. Sie ist ethnisch sehr gespalten, vor allem, was die zugewanderten Muslime betrifft. In erster Linie trifft dies auf die Muslime aus Südostasien und die Afro-Amerikaner zu. Auch gibt es Gemeinschaften, die sich für etwas progressiver halten als andere. Deshalb ist es schwierig, von einer muslimischen Gemeinschaft zu sprechen.

Wenn Sie aber danach fragen, inwieweit ich einen Einfluss außerhalb der rein akademischen Sphäre ausübe, so denke ich, kann ich das bejahen. Ich habe in letzter Zeit immer häufiger mit muslimischen Organisationen und Vereinigungen zu tun, die mich einladen, um vor einer breiteren Öffentlichkeit zu sprechen, zum Beispiel das Muslim Public Affair Council (MPAC). Einige meiner Thesen wurden auch vom Council on American Islamic Relations (CAIR) aufgenommen, meines Wissens die größte muslimische Vereinigung in den USA.

Und wie nimmt Ihr Publikum Ihre Koran-Interpretation auf?

Barlas: Viele Leute sind sehr verstört durch das, was ich sage, obwohl ich finde, dass einiges von dem gar nicht so kontrovers ist. So argumentiere ich, dass wir Gott nicht automatisch vermännlichen sollten, weil das viele schwere Implikationen für Frauen wie Männer nach sich zieht. Einiges, was ich sage, steht absolut auf der Linie des Korans, und ich verstehe deshalb nicht, wie man es überhaupt als umstritten ansehen kann. Doch ist es natürlich eine Tatsache, dass es in vielen muslimischen Gemeinschaften die Männer sind, die das religiöse Wissen definieren, und das sind, wenn nicht ausschließlich, so doch meistens, konservative Männer. Für diese ist es natürlich verstörend, wenn jemand daher kommt und solche Dinge sagt. Vor allem gilt dies, und das ist erstaunlich genug, für meine Forderung, dass ein jeder Muslim das Recht haben muss, den Koran für sich selbst zu lesen und zu interpretieren. Die Konservativen glauben, dass es dabei um einen komplizierten Prozess der Exegese geht, der allein von Philologen, Linguisten und Gelehrten zu leisten ist.

Eine meine Grundthesen aber ist, dass sich der Koran ja auch an den ungebildeten Beduinen in der Wüste richtete; daher kann er von Juristen und Gelehrten nicht auf diese Weise vereinnahmt werden. Schließlich gibt es, zumindest im sunnitischen Islam, keine Priesterkaste. Solche Dinge werden oft viel heftiger verteufelt als es sein müsste, nur weil sie bestimmte männliche Autoritätsstrukturen in muslimischen Gemeinschaften zu bedrohen scheinen. Anderseits aber berichten mir junge Muslime und vor allem muslimische Frauen, dass sie lieben, was sie gelesen haben und dass es ihnen ganz neue Horizonte erschlossen habe.

Die Art und Weise, in der die Rechte der Frauen diskutiert werden, scheint eine sehr persönliche Angelegenheit zu sein. So leitete Amina Wadud kürzlich ein Freitagsgebet in den USA. Glauben Sie, dass diese Aktion ein konstruktiver Beitrag zur Diskussion um die Gleichstellung der Frau ist?

Barlas: Das ist eine äußert komplizierte Angelegenheit. Viele Menschen kritisieren sie für ihre Aktion, wo es doch so viele dringendere und drängendere Fragen gibt. Sollten sich diese Leute dann aber nicht auch mit den ihrer Meinung nach dringenderen Fragen beschäftigen, anstatt sich so intensiv mit Amina Wadud auseinander zu setzen? Immerhin haben die Leute, die mit ihr beteten, sie demokratisch zur Vorbeterin bestimmt. Die Autorität eines Imams oder Vorbeters ist nicht die gleiche wie die eines Priesters oder gar eines Papstes. Niemand ist gezwungen, ihr zu gehorchen. Ein Imam kann jeder sein, der ein Gebet leitet. Wenn Menschen hinter ihr beten wollen, sage ich nur: warum nicht? Wenn sie in diesem Raum über das meiste Wissen über den Islam verfügt und sie das Gebet leiten kann: warum nicht?

Sicher ist ein Imam nicht das Gleiche wie ein Papst, doch ist die Autorität der Ulama doch nicht zu vernachlässigen, oder meinen Sie nicht?

Barlas: Man muss die Autorität der Ulama doch aber gar nicht in Frage stellen, da sich niemand anmaßen kann, den Koran als einziger "richtig" interpretieren und seine religiöse Bedeutung allein definieren zu können. Ich bin der Meinung, dass jeder von denen, die Amina Wadud kritisieren, Unrecht hat, weil niemand von uns wissen kann, welches Gebet akzeptiert wird und welches nicht. Es gibt erwachsene Frauen, die hinter ihren sechs- oder siebenjährigen Söhnen beten, und das aus dem einzigen Grund, weil sie männlich sind. Geht es dabei nicht um eine Vergötterung der Männlichkeit, und ist nicht dies viel eher eine Frage, über die wir diskutieren sollten? Warum beißt man sich bei der Debatte nur so an Amina Wadud fest? Was ist mit den Tausenden Frauen, die zuhause hinter ihren Söhnen beten, nur weil sie männlich sind? Für mich jedenfalls sollte man diesen Streit schnellstens beenden.

In Europa ist die muslimische Gemeinschaft sehr statisch und scheint keine schlüssigen Antworten auf die Fragen zu finden, die sich aus den westlichen Ideen ergeben und von kritischen Intellektuellen aufgeworfen werden. Sehen Sie in den USA eine kritische Haltung in der muslimischen Gemeinschaft?

Barlas: Ich denke, dass die Kulturen von Migranten immer zum Konservatismus tendieren. Es geht bei dieser Frage eigentlich nicht um den Gegensatz zwischen dem Islam und dem Westen, weil der Islam ein Teil des Westens ist. Eher ist es ein Problem der Einwanderer. Die erste und zweite Generation der Einwanderer fühlt sich kulturell an den Rand gedrängt und marginalisiert, genauso wie sich Indonesien, das größte muslimische Land, am Rande der islamischen Welt fühlen mag. Nehmen Sie etwa die Einwanderer in Frankreich. Man muss verstehen, dass sie in einem Land leben, das vor nicht allzu langer Zeit noch Kolonien besaß. Es ist nicht einfach, Ideen eines Landes zu übernehmen, von dem man einst beherrscht wurde.

Hinzu kommt, dass viele dieser Einwanderergemeinschaften viel mehr nach innen blicken und schon deshalb konservativer sind, als sie es wahrscheinlich in ihrer Heimat wären.Ich denke, dass es das Gefühl der Heimatlosigkeit ist, das sie dazu bringt, sich immer weiter zu verschließen. Unglücklicherweise sind es immer die Frauen, die unter dieser Mentalität am meisten zu leiden haben. Auf ihren Körpern vor allem werden die Schlachten um die kulturelle Deutungsmacht geschlagen, ob sie ein Kopftuch tragen sollten oder nicht, ist nur einer dieser Kämpfe. Das ist eine sehr traurige Situation, denn der weibliche Körper wird so zum Symbol des Kampfes zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und den muslimischen Gemeinschaften.

Sehen Sie in der Reform des Islam selbst oder in politischen und ökonomischen Reformen den Schlüssel zu einer Lösung der Probleme?

Barlas: Jemand hat mich gefragt, ob meine Ideen zu einer Befreiung der Frauen führen würden und dazu, eine Demokratisierung zu erreichen. Ich verneinte das. Man kann nicht einfach den Koran lesen und hat dann sofort eine funktionierende Demokratie. Es gibt nun einmal repressive Institutionen, die langsam aufgebrochen werden müssen. Und doch glaube ich, dass es einen grundlegenden Wandel geben muss in der Art und Weise, in der Muslime ihrer heiligen Schrift begegnen und ihre Religion interpretieren, damit es eine wirkliche Demokratie geben kann. Sicher ist das ein komplizierter Prozess, und viele Dinge müssen dafür zusammenkommen.

Interview: Novriantoni und Ramy El-Dardiry

© Liberal Islam Network 2005

Das vollständige Interview können Sie lesen auf der Website von Liberal Islam Network (engl.)

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