"Der Koran – ein Buch in vielen Sprachen"

Die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth warnt vor einer verengten Wahrnehmung des Korans auf das rein Diskursive. Ein intensives Studium des heiligen Buches der Muslime offenbare auch dessen ästhetische Dimension.

Die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth warnt vor einer verengten Wahrnehmung des Korans auf das rein Diskursive. Ein intensives Studium des heiligen Buches der Muslime offenbare grundsätzlich auch dessen ästhetische Dimension.

Angelika Neuwirth; Foto: privat
Angelika Neuwirth: "Gewiss steht der Koran – nach dem Tode des Propheten – im Mittelpunkt des Islam, aber nicht als Text zwischen zwei Buchdeckeln."

​​Sie haben Ihrem Referat den Titel "Der Koran, ein Buch in vielen Sprachen" gegeben. Ist das nicht sehr gewagt? Ist der Koran nicht nach dem Verständnis der meisten Muslime von Gott selbst "in klarer arabischer Sprache" offenbart worden, so dass er auch nicht angemessen übersetzt werden kann bzw. Übersetzungen immer nur Verständnishilfen für den des Arabischen Unkundigen sein können?

Angelika Neuwirth: Der Titel ist bewusst provokant gewählt. Die gerade heute in fundamentalistischen Kreisen gängige Verengung der Perspektive auf das rein Diskursive, das Norm-Spezifische am Koran wird dem Koran nicht gerecht. Ein Blick auf das Leben des Korans in der Geschichte zeigt, dass er immer auch in seiner ästhetischen Dimension rezipiert wurde und noch wird und eigentlich ein multimedialer Text ist.

Gewiss, was Übersetzungen angeht, so scheint das Dogma von der Unnachahmlichkeit des Korans hier tatsächlich jeden bedeutenden Versuch vereitelt zu haben, den Koran so autoritativ in eine andere Islamsprache zu übersetzen, dass – wie etwa im Fall der Luther-Übersetzung – ein landessprachlicher Koran entstanden wäre.

Was europäische Übersetzungen angeht, so verdienten einige, vor allem die (Teil)-Übersetzung von Friedrich Rückert, auch die Anerkennung der Muslime. Denn diese Übersetzung hat das Poetische am Koran erfolgreich herübergebracht, während die jetzt im akademischen Bereich empfohlenen Übersetzungen von Paret und Zirker den Text auf seine diskursive Dimension reduzieren, was den westlichen Leser, der kein Interesse an spätantiken Religionsdisputen hat, dann von der Lektüre abschreckt.

Viele Muslime sagen, so wie Christus im Mittelpunkt des christlichen Glaubens stehe, sei das Zentrum des Islam der Koran. Warum halten Sie die Rede von der "Inlibration", der Buchwerdung des göttlichen Worts (statt der "Inkarnation", der Fleischwerdung des göttlichen Worts durch Christi Geburt), dann für allzu gewagt?

Neuwirth: Die Rede von der "Inlibration" ist natürlich ein westlicher Einfall, der Muslimen sicher ganz fremd wäre. Gewiss steht der Koran – nach dem Tode des Propheten – im Mittelpunkt des Islam, aber nicht als Text zwischen zwei Buchdeckeln. Viel häufiger als durch seine schriftliche Gestalt wird der Koran durch seinen Klang rezipiert, er bleibt "qur'an" im Sinne des Vortrags. Eher würde ich von einem Resonanzraum für das Wort Gottes sprechen.

Der Koran; Foto: DW
Der Koran ist ein Fall von kultureller Übersetzung, aber gleichzeitig auch ein spätes Ereignis von erfolgreicher Vermittlung von Transzendentalität, so Neuwirth

​​Betrachtet man den Freitagsgottesdienst, so fällt auf, dass dort, wo im christlichen Gottesdienst die Eucharistiefeier steht, im Koran das Gebet steht, das ja weitestgehend aus Rezitation besteht. Man hat die Rezitation deswegen auch als die weitaus intimste "Gott-menschliche" Kommunikation im Islam erkannt und sogar mit der Eucharistie verglichen, was ich akzeptieren würde.

Sie kritisieren meines Erachtens zu Recht den Verzicht auf die Erschließung des Korans als Teil der Spätantike durch moderne westliche Forscher. Aber müsste unsere Kritik nicht noch weiter gehen? Ist der Koran nicht auch für weite Teile Europas eine der grundlegenden Heiligen Schriften gewesen, die unsere kulturelle Entwicklung entscheidend beeinflusst haben?

Neuwirth: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich denke dennoch, dass die Aufgabe der Wiedereingliederung des Korans unter die theologische Literatur der Spätantike am Anfang stehen sollte. Denn hier scheint mir "der Hase im Pfeffer" zu liegen. Solange wir unpräzise von einem "Buch Muhammads" ausgehen, das heißt verkennen, dass der Koran wie die biblischen Bücher eine Heilige Schrift mit allen Implikationen ist, wird der epigonale Charakter – der als Fälschung erkennbare Ring – immer eine Betrachtung des Islam auf Augenhöhe vereiteln.

Ich möchte daher auch keineswegs nur Traditionen vergleichen, sondern auch versuchen, das Amalgam, das diese Traditionen zu etwas gänzlich Neuem gemacht hat, aufspüren. Der Koran ist sicher ein Fall von kultureller Übersetzung, aber gleichzeitig auch ein spätes Ereignis von erfolgreicher Vermittlung von Transzendentalität. Alle von Ihnen genannten Desiderate halte ich für sehr wichtig.

Sie arbeiten zurzeit für die Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg, das Wissenschaftskolleg, einen Sonderforschungsbereich der Freien Universität Berlin und den Suhrkamp Verlag an verschiedenen großen Projekten, die mit der Koranforschung zusammenhängen. Könnten Sie uns dazu etwas mehr sagen?

Neuwirth: Die Projekte sind vier:

BBAW: Das Corpus coranicum ist ein Doppelprojekt, bestehend 1. aus der dokumentierten Edition des Koran, die eine Fülle ältester Handschriften einbeziehen und elektronisch auswerten, außerdem die umfangreiche gelehrte Literatur zu den Lesarten heranziehen soll. Ziel ist eine dokumentierte, nicht aber eine kritische Ausgabe. 2. einem historisch-kritischen Kommentar, der zu jeder Sure ihre extrakoranischen Referenzen, ihren Sitz im Leben und natürlich den Forschungsstand aufführen wird.

FU-Sonderforschungsbereich "Ästhetische Erfahrung der Arabischen Sprache, hier befassen sich zwei Unterprojekte mit dem Koran, 1. ein Vergleich zwischen Koran und Psalmen, 2. Korankalligraphie im Kontext: arabische und hebräische Schrift, historisch und theologisch im Vergleich.

Wissenschaftskolleg: "Der Koran als spätantiker Text, historische Lektüren des Koran" (im Rahmen des Projekts: Der Vordere Orient im Islam, der Islam im Vorderen Orient). Hier geht es zum einen um eine historische, auf extra-koranische Traditionen gestützte Lektüre des Korans selbst, zum anderen um die Kontroversen, die sich in der Geschichte um den Koran gerankt haben. Das Projekt wird zusammen mit drei muslimischen jungen Gelehrten verfolgt.

Internationale Sommerakademie Istanbul 2007: Methodische Zugänge zu Bibel und Koran. Hierzu sind junge Theologen aus der islamischen Welt ebenso wie aus Europa und den USA eingeladen.

Interview Kurt Scharf

© Qantara.de 2007

Angelika Neuwirth ist Professorin am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Koran und Koranexegese.

Qantara.de

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