Interkultureller Dialog im Südkaukasus

In Aserbeidschan, einem islamischen Land im Kaukasus, leben Muslime und Juden seit Jahrhunderten friedlich zusammen. Die jüdische Gemeinde wächst sogar stetig an. Heinrich Bergstresser hat die Region besucht.

Aserbaidschan ist ein islamisches Land, doch im Alltag sucht ein ausländischer Besucher vergeblich nach den klassischen Symbolen. Zwar ragen vereinzelt Minarette in den Himmel der Hauptstadt Baku, aber weder sind die durch Lautsprecher verstärkten Aufrufe des Muezzins zum Gebet zu hören, noch die zur Gebetszeit sich gen Mekka verneigenden Gläubigen am Straßenrand oder an öffentlichen Plätzen zu sehen. Das Straßenbild ähnelt eher einer westlichen Stadt, und auch im ländlichen Raum ist von einem islamischen Staat im Grunde nichts zu spüren. Ist Aserbaidschan ein säkulares Land? Durchaus - und das ist wahrscheinlich die einzige positive Hinterlassenschaft der Sowjetunion. Und wenn man führenden Vertretern der jüdischen Minderheit von mehr als 30 000 Juden zuhört, könnte man glauben, ein Paradies zu besuchen, in dem religiöse Minderheiten wie die Juden die gleichen Rechte und Pflichten haben wie das Mehrheitsvolk der muslimischen Aserbaidschaner. Diese Vorstellung ist gar nicht so weit hergeholt. Denn seit mehreren hundert Jahren leben Juden weitgehend unbehelligt in dieser Region. Und alle Religionsgruppen haben nach der Unabhängigkeit Aserbaidschans ihren von den Sowjets enteigneten Grund und Boden zurückerhalten. Kein Wunder, dass die jüdische Gemeinde wächst, wie Larissa Reikhrudel von der jüdischen Frauenorganisation stolz betont:

"Aserbaidschan empfängt sie mit Wärme und Herzlichkeit. Aserbaidschan ist die Heimat sehr vieler Juden. Und daher kommen Juden aus Amerika, Europa und aus Deutschland hierher. Außerdem gibt es nirgendwo auf der Welt einen so einmaligen Ort wie Krasnaja Sloboda, wo Juden so dicht zusammenleben und auf diese Weise ihre Traditionen wahren, so dass jedermann von uns lernen kann."

Strikte Trennung von Staat und Religion

Das jüdische Viertel Krasnaja Sloboda gehört zur Stadt Guba. Die Grenze zu Dagestan liegt nur 50 km weiter nördlich. Seit nunmehr 270 Jahren besteht diese jüdische Gemeinde, die alle Wirren der Zarenzeit, der Oktoberrevolution und den Zusammenbruch der Sowjetunion relativ unbeschadet überstanden hat. Sie selbst nennen sich "Bergjuden" - im Unterscheid zu den "Aschkenasischen Juden" und den "Sephardischen Juden". Das geistliche Oberhaupt, Boris Simanduev, sieht in der strikten Trennung von Staat und Religion einen wesentlichen Grund für das friedliche Zusammenleben. Und er trägt - wann immer möglich - das Beispiel Guba und Aserbaidschan auch den Israelis und Palästinensern vor.

"Wenn ich an internationalen Foren teilnehme", so Boris Simanduev, "wenn von Freundschaft verschiedener Nationalitäten gesprochen wird, die verschiedenen Religionen angehören, dann nenne ich die Freundschaft des aserbaidschanischen und des jüdischen Volkes als Beispiel und sage ihnen, während im Nahen Osten Palästinenser gegen Israelis kämpfen, kommt her und übernehmt die Erfahrung, wie wir in Frieden und Freundschaft mit dem aserbaidschanischen Volk leben."

Traum von Europa

In Aserbaidschan, aber auch in den beiden Nachbarländern Georgien und Armenien träumen viele Menschen nach wie vor einen alten Traum, den Traum von Europa. Nach Meinung von Wolfgang John, Projektleiter der Friedrich Naumann Stiftung im Südkaukasus, ist dieser Traum keineswegs irreal, auch wenn sich das Interesse der EU - trotz neuer Überlegungen zur Sicherheitspolitik in dieser Region und in Zentralasien - noch in Grenzen hält:

"Zur Zeit gibt es aus meiner Sicht immer noch zu wenig Beachtung für diese wichtige Region, die ja Europa und Asien verbindet, die auch ganz entscheidende Bedeutung hat als Durchgangsländer für den Austausch - sowohl Wirtschaftsaustausch als auch den kulturellen Austausch mit Asien, die Wiederbelebung der alten Seidenstraße, um die man sich ganz intensiv bemüht, auch gemeinsam mit der Europäischen Union. Und ich denke, dass es hier gute Grundlagen gibt, um die weitere Zusammenarbeit zu intensivieren."

Heinrich Bergstresser

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