Ignoranz der sozialen Realität

Während seiner jüngsten Pakistanreise gewann der indische Muslim und Publizist Yoginder Sikand den Eindruck, dass der Bevölkerung Bildung bewusst vorenthalten wird. Das intellektuelle Leben in der islamischen Republik liege nahezu brach, so seine Diagnose.

Während seiner Pakistanreise gewann der indische Muslim und Publizist Yoginder Sikand den Eindruck, dass der Bevölkerung Bildung bewusst vorenthalten wird. Das intellektuelle Leben in der islamischen Republik liege nahezu brach, so seine Diagnose.

Anfang des Jahres lernte ich im Bus von Delhi nach Lahore einen älteren muslimischen Mann kennen. Er war unterwegs nach Pakistan, um dort Verwandte zu besuchen und wir kamen ins Plaudern.

Er bezeichnete sich selbst als Sozialist. "Ich habe keine große Lust, nach Lahore zu fahren, aber meine Frau besteht darauf", erzählte er mir freimütig. "Ich langweile mich dort schrecklich. Es findet sich kaum ein Gleichgesinnter dort, mit dem ich mich unterhalten könnte. Sie werden sehen", warnte er mich. "Um das geistige Leben Pakistans ist es nicht zum Besten bestellt. Ehrlich gesagt, ist es sogar in einem ziemlich miserablen Zustand."

Ich war mir sicher, dass der Mann übertrieben hatte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass mein neuer Bekannter mit seinem Urteil durchaus richtig lag.

Während meines einmonatigen Aufenthalts in Pakistan besuchte ich viele verschiedene Orte und lernte die unterschiedlichsten Menschen kennen. Es schockierte mich, zu sehen, wie kläglich der Zustand des intellektuellen Lebens in diesem Land tatsächlich war.

Mangelware Buch

Unwillkürlich verglich ich die pakistanischen Verhältnisse mit der Situation in Indien. In Lahore – einst als das geistige Zentrum des alten Indiens gepriesen – gab es, wie ich bald feststellte, kaum ein halbes Dutzend gut ausgestatteter Buchhandlungen, die auch englischsprachige Bücher führten.

Bei der Mehrheit dieser Bücher handelt es sich interessanter Weise um Publikationen aus Indien. Ein kleiner Teil war in den westlichen Ländern erschienen, und nur ein verschwindend geringer Prozentsatz stammte aus pakistanischen Verlagen.

Bücher, die sich mit der Realität und dem Alltag der pakistanischen Gesellschaft beschäftigen, waren kaum zu finden, obgleich Bände zur so genannten "Zwei-Nationen-Theorie" oder über die Geschichte der Muslimliga sowie über Elitenpolitik in Pakistan zu hunderten in den Buchhandlungen lagen.

Ebenso verhält es sich mit Büchern über Jinnah und Iqbal, den zwei geistigen Vätern des Staates Pakistan, die so vielen öffentlichen Einrichtungen im ganzen Land als Namensstifter dienen.

Selbst über den Islam oder Kaschmir konnte ich in all den Buchläden, die ich besuchte, kaum brauchbare englischsprachige Literatur finden. Obgleich doch besonders diese zwei Themen für den Versuch der Erschaffung einer eigenständigen nationalen Identität gerade in Pakistan eine elementare Rolle spielen.

Viele der englischen Bücher über den Islam waren wiederum in Indien herausgegeben worden. Einige andere stammten von westlichen Autoren, während es sich bei dem Rest – kaum mehr als drei Dutzend – um schlecht recherchierte und ideologisch gefärbte Propagandaschriften der pakistanischen Partei Jamaat-i Islami, beziehungsweise der parteinahen Verlage handelte.

Pakistans Staatsideologie groß geschrieben

Viele der englischsprachigen Bücher, die in Lahores Läden zum Kauf angeboten wurden, waren Lehrbücher. Bei den Inhalten der Schulbücher, die ich durchblätterte, handelte es sich um sorgfältig zusammengestellte Texte, die die so genannte „Ideologie von Pakistan“ widerspiegeln sollten.

Islamlehre und Pakistanische Geschichte bildeten die obligatorischen Fächer des Lehrplans. In den Texten zur Islamlehre wurde zumeist der Islam als einzig wahre Religion dargestellt.

Mit den Publikationen in der Landessprache Urdu verhielt es sich ein wenig anders, obwohl sie mir kaum inspirierender vorkamen, als ihre englischsprachigen Gegenstücke. In einem chaotischen, heruntergekommenen Viertel der Altstadt befand sich Lahores berühmter Urdu-Basar mit seinen zahlreichen engen Gassen, die nur schwer zu durchstreifen waren.

Ich nahm mir vor, zwei ganze Tage auf dem Basar zu verbringen und jeden einzelnen der zahllosen kleinen Buchläden zu durchstöbern, die das Viertel bereithielt. Meine Suche nach Literatur zur sozialen Realität der pakistanischen Gesellschaft sollte sich jedoch mehr als enttäuschend erweisen.

Die große Mehrheit der angebotenen Titel befasste sich mit islamischen Ritualen und theologischen Fragen, mit hagiographischen Berichten über den Propheten, bedeutenden muslimischen Kriegern, Führern und Gelehrten.

Es gab Abhandlungen über die geistigen Väter Pakistans und die "Zwei-Nationen-Theorie", Bände über die Geschichte der Muslimliga und die angebliche Perfidie der Hindus, Berichte über pakistanische Staatsmänner, verfasst sowohl von Kritikern wie auch von Anhängern. Zudem hunderte Texte mit den Perlen der Urduliteratur.

Kein Spiegel der Gesellschaft

Obgleich diese Bücher durchaus wichtige Quellen für die Geschichte Pakistans sind und viel über das Selbstverständnis des Staates aussagen, eigneten sie sich jedoch nicht als Spiegel der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse der pakistanischen Bevölkerung, über die ich gern mehr erfahren hätte. Ein weiteres Zeichen für die intellektuelle Armut dieses Landes.

Als ehemaliger Student islamischer Geschichte war ich besonders daran interessiert, Bücher von sozial engagierten pakistanischen Gelehrten zu erstehen, die auch progressive Positionen vertreten und die Lehren des Islams – nicht nur auf traditionelle Weise – auslegen.

Während ich die Buchläden des Basars durchstöberte, fand ich jedoch nur wenige derartige Texte. Dies schien mir ein Hinweis dafür zu sein, dass es in Pakistan kein Äquivalent zu den zahlreichen islamischen Gelehrten in Indien zu geben scheint, die bemüht waren, sich auf moderne Weise mit der intellektuellen islamischen Tradition auseinander zu setzen und sich mit den unzähligen Herausforderungen zu beschäftigen, die das alltägliche Leben an uns stellt.

Pakistan verfügt über kein Gegenstück zu den indischen Intellektuellen Asghar Ali Engineer und Maulana Wahiduddin (deren Bücher im übrigen auch in Pakistan publiziert und viel gelesen werden) – ein weiteres trauriges Indiz für den kläglichen Zustand des intellektuellen islamischen Diskurses in einem Land, das vorgab, im Namen des Islam gegründet worden zu sein, um die Muslime vor der Herrschaft der Hindus der "oberen Kasten" zu schützen.

Der einzige bekannte, gesellschaftlich akzeptierte islamische Intellektuelle, den Pakistan je hervor gebracht hat, der Gelehrte Fazlur Rahman, musste in den 60er Jahren aus Pakistan ins kanadische Exil fliehen, da die konservative Jamaat-i Islami und andere Gelehrtengruppen seinen progressiven Ansichten vehemente Proteste folgen ließen.

Die Aufgabe, den Herausforderungen der Moderne und der lebendigen Realität der Massenarmut und Ausbeutung mit modernen sozialen Antworten aus dem Inneren der islamischen Tradition zu begegnen, ist in Pakistan noch längst nicht gelöst.

Dementsprechend gelingt es heute gewissen radikal-islamistischen sowie verschiedenen konservativen Gelehrtengruppen, ungehindert energisch im Namen des Islam zu sprechen und ihre ausgesprochen widerlichen Ansichten und Thesen zu propagieren.

So schüren sie Rivalitäten unter den Konfessionen und den religiösen Splittergruppen, verbreiten Hass gegen die religiösen Minderheiten des Landes, missbilligen Bemühungen, wirtschaftliche Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Geschlechter voran zu treiben.

Und sie bezeichnen den Kommunismus und Menschen mit linken Anschauungen als Feinde des Islams und bezichtigen sie, die Gemeinschaft der Muslime spalten zu wollen. Sie beschimpfen Indien und die westlichen Länder als das personifizierte Böse.

Eine Kombination aus Marx und Mohammed

Einige der Verlage auf dem Urdu Basar werden von genau diesen Gruppen betrieben und ihre Publikationen und Magazine haben, so wurde mir berichtet, hunderttausende Leser.

"Wir brauchen heute dringend eine Kombination aus Marx und Mohammed", sagte ein Freund, ein bekannter linker Aktivist, der mich auf meinem Basarbummel begleitete. Meine Enttäuschung über den Markt, der mir nicht die erhofften Schätze hatte bieten können, nahm mein Freund schmerzvoll zur Kenntnis.

"Religion ist im Leben dieses Volkes sehr tief verwurzelt", fuhr er fort, "daher können wir sie nicht ignorieren. Wir müssen an die Menschen appellieren und ihnen moderne Interpretationen von Religion anbieten, um zu verhindern, dass radikale Islamisten und konservative Gelehrte, aber auch der Staat den islamischen Diskurs für sich allein beanspruchen."

"Aber wie du siehst, hat die pakistanische Linke hier ihre Aufgaben nahezu ignoriert", fuhr er fort.

Die Worte des Mannes, den ich im Bus nach Lahore kennen gelernt hatte, kamen mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich während meines Pakistanaufenthalts einen Buchladen oder ein Forschungsinstitut betrat oder an Treffen mit NGO – Mitgliedern teilnahm.

Die "Punjab University" in Lahore – die größte Universität des Landes – verfügte über keinen eigenen Buchladen und die einzige Studentenorganisation, der es gesetzlich erlaubt war, sich auf dem Campus zu organisieren und zu engagieren, war, wie mir gesagt wurde, die Islami Jamiat-i Tulabi, die studentische Vereinigung der Jamaat-i Islami.

Ich besuchte die Universität einen Tag nach dem Jahrestag des Falls von Ostpakistan an die indische Armee und Mukti Bahini. Das gesamte Universitätsgelände war übersäht von Postern der Jamiat, die den "indischen Imperialismus", wie sie es nannten, anprangerten.

Ich erblickte auch noch einige andere Plakate, doch die meisten kündigten lediglich die eine oder andere religiöse Veranstaltung an. Ich konnte nicht umhin, die hier herrschenden Verhältnisse mit dem zu vergleichen, was ich in meinen fünf Jahren an der "Jawaharlal Nehru"-Universität in Neu Delhi erlebt hatte.

Dort war uns fast jeden Tag eine Diskussionsrunde oder eine Vorlesung eines Intellektuellen, Politikers, Journalisten oder Aktivisten geboten worden, wo eine große Bandbreite von wichtigen gesellschaftlichen Fragen diskutiert wurde – religiöse Themen kamen nur selten zur Sprache.

Kontroverse Positionen nicht gefragt

Von einigen Ausnahmen abgesehen erwiesen sich meine wenigen Gespräche mit Dozenten und Studenten an der "Punjab University" als wenig fruchtbar.

Ein Freund hatte vorgeschlagen, ich solle im soziologischen Seminar einen Vortrag über bestimmte Aspekte der indischen Gesellschaft halten, doch der Direktor der Fakultät zeigte sich eher widerwillig. "Sprechen Sie besser über die Bedeutung des Soziologiestudiums", schlug er mir vor. Natürlich lehnte ich sein Angebot höflich ab.

Es schien, als herrsche an der Universität ein ungeschriebenes Gesetz, das die offizielle Linie des Staates vor Störungen durch Kontroversen und kritische Äußerungen schützen sollte.

Überall auf dem Campus gab es große Tafeln mit Zitaten aus dem Koran oder Aussprüche des Propheten, die sowohl die Wichtigkeit der Bildung als auch des frommen Verhaltens priesen – vermutlich auch dies ein Mittel, den Staatsoberhäuptern Untertänigkeit zu zollen. Der Vizedirektor der Universität, so erfuhr ich, war ein pensionierter Armeeoffizier.

Wechselwirkung von Bildung und Protest

Ein schwerwiegender Grund für den jämmerlichen Zustand des pakistanischen Geisteslebens liegt in der Wirtschaftspolitik begründet. Pakistan gehört zu jenen Ländern, die die geringsten Summen in Bildung investieren.

Dem öffentlichen Bildungssystem des Landes sagt man nach, es sei ein kompletter Scherbenhaufen, und in einem noch schlimmeren Zustand als das indische Schulsystem, sofern das überhaupt vorstellbar ist.

Ebenso wie in Indien wird unabhängige Bildung des Volkes auch in Pakistan von der Regierung als mögliche Bedrohung empfunden.

Im Distrikt Larkana in Sindh erzählte mir ein Beamter des Bildungsministeriums, dass in der Hälfte der öffentlichen Schulen nicht ungehindert gearbeitet werden kann, weil Pachtherren glauben, Bildung würde es den armen Pächtern und Landarbeitern ermöglichen, zu protestieren und revoltieren. Eine ähnliche Situation herrscht scheinbar auch in vielen anderen Teilen des Landes.

"Was Indien und Pakistan ganz dringend benötigen", sagte einer meine Freunde aus Lahore, während wir uns über den Zustand des intellektuellen Lebens in unserem Teil der Welt unterhielten, "sind Intellektuelle aus der Mitte der Bevölkerung, die sich mit dem Alltag und den Problemen der Massen beschäftigen. Nur dann kann es zu den radikalen Veränderungen kommen, die wir uns alle wünschen."

Seufzend fügte er hinzu: "Doch in Anbetracht des fehlenden intellektuellen Klimas in diesem Land werden wir wohl noch Jahrzehnte brauchen."

Vermutliche habe er Recht, erwiderte ich. Doch auch Indien, so versicherte ich ihm, habe noch einen langen Weg vor sich.

Yogi Sikand

© Qantara.de 2006

Übersetzt aus dem Englischen von Rasha Khayat

Qantara.de

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