Eine Leitkultur des Zusammenlebens

Die Deutschen könnten auf langjährige Erfahrungen mit Integration zurückblicken. Doch sie haben kein Gedächtnis dafür. Auch deshalb orientiert sich die deutsche Integrationspolitik stärker an Angst und innerer Sicherheit als an Toleranz und Respekt. Von Heribert Prantl

Von Heribert Prantl

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Es gab eine Zeit, da waren die Deutschen die Türken der USA. Das ist gut 150 Jahre her. New York war damals nach Berlin und Wien die Stadt mit den meisten deutschsprachigen Menschen. Sie bleiben am liebsten unter sich. Die Deutschen taten sich schwer mit der Integration. Sie blieben unter sich, sie bauten ihre eigenen Kirchen, sie hatten ihre eigenen Pfarrer, sie kauften in deutschen Geschäften, sie lebten in deutschen Vereinen, sie gingen in deutsche Theater, trugen deutsche Trachten, kochten deutsches Essen, tranken gern Bier und setzten sich gern in den Biergarten, zumal am Sonntag.

Die unbekannte Geschichte der Deutschen

In Chicago heizte eine ultrakonservative politische Partei namens "American Party" mit einer "Americans Only"-Poltik ("Ausländer raus") den Konflikt an, und ihr Kandidat, Dr. Boone, wurde Bürgermeister. Er erhöhte die Alkoholsteuer um 600 Prozent und verbot den Bierausschank am Sonntag. Am ersten Sonntag nach dem Verbot, es war der 21. April 1855, schickte er die Polizei zur Kontrolle in die Wirtschaften.

Als an die 200 deutschen Gäste und etliche Wirte wegen Zuwiderhandlung verhaftet und eingesperrt wurden, kam es zum deutschen Aufstand. "Beer Riots" heißt das in den Archiven. Das klingt etwas lustiger als es war: Die Polizei schoss in die aufgebrachte Menge. Aus der Menge wurde zurückgeschossen. Die deutschen Immigranten zogen ihre Lehren. Um ihre Interessen zu wahren, beteiligten sie sich zunehmend an der Politik. Der Bürgermeister von der "American Party" wurde ein Jahr nach den Unruhen abgewählt, die Prohibition wieder aufgehoben.

Bau des Reichstags in Berlin 1888; Foto: Stiftung Stadtmuseum (Hrsg.), StadtBlicke - Aus der Fotografischen Sammlung des Stadtmuseums Berlin, Berlin 2001, S. 76; Urheber: F. Albert Schwartz (gest. 1906).
120 Jahre Einwanderung in Deutschland: Beim Bau des Reichstags, der Berliner U-Bahn und des Eisenbahnnetzes waren zahlreiche ausländische Arbeiter beteiligt.

​​ Diese Geschichten sind in Deutschland kaum bekannt. Es gibt keine Erinnerung. Die Auswanderung kommt im kollektiven Gedächtnis nicht vor, sie ist nicht Teil der erinnerten nationalen Geschichte. Wäre in Deutschland die eigene Auswanderungsgeschichte präsent, hätten die Probleme der Einwanderung und Integration wohl nicht so lange brach liegen können.

Vielleicht hätten die Deutschen, ihre eigene Migrationgeschichte vor Augen, nicht diese Heidenangst vor der Einwanderung gehabt und davor, das Kind beim Namen zu nennen, vielleicht hätten sie, statt den jahrelangen Glaubensstreit um das Wort "Einwanderungsland" zu führen, sich der Probleme angenommen, die sich daraus für Deutschland ergeben. Vielleicht wären sie einerseits gelassener, andererseits sensibler für die Erfordernisse der Integration gewesen.

Eine Politik der inneren Sicherheit

Seit 120 Jahren gibt es Einwanderung in Deutschland – gleichwohl tun Politiker bis in unsere Tage hinein so, als seien sie die ersten, die damit konfrontiert sind. Die Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland beginnt nicht erst in den späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sondern Jahrzehnte früher. Der Reichstag in Berlin, die U-Bahn in der Hauptstadt und das deutsche Eisenbahnnetz sind überwiegend von ausländischen Arbeitern gebaut worden. Damals warnten die so genannten Alldeutschen, der polnischen Wanderarbeiter wegen, vor einer "Polnisierung Deutschlands" – und die Tonlage dabei unterschied sich nur wenig von der heutigen Warnung vor der Islamisierung Deutschlands. Der Gesetzgeber auf dem Gebiet des Ausländerrechts ist aber ein Gesetzgeber ohne Gedächtnis.

In anderen Gebieten ist es so, dass sich das Recht fortentwickelt, dass es aufbaut auf dem, was war, das es sich wandelt, dass es korrigiert wird, dass es lernt, dass der Gesetzgeber also das Recht verbessert und das Parlament legislativ auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Es gab daher in den vergangenen hundert Jahren große Fortschritte im Strafrecht und gewaltige Fortschritte im bürgerlichen Recht, zumal im Ehe- und Familienrecht.

Baustelle der DITIB-Moschee in Köln-Ehrenfeld; Foto: Wikipedia.
Integration als Chance und kulturelle Bereicherung begreifen: Rohbau der von deutschen Architekten entworfenen, modernen Kölner DITIB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld.

​​ Im Ausländerrecht gab es diese Fortschritte kaum – das Zuwanderungs- und Integrationsgesetz von 2005 war endlich der erste kleine Schritt. Politik und Gesetzgeber standen vor der Einwanderung und ihren Problemen immer wieder von neuem wie der Ochs vor dem Berg. Wenn aber Politik kein Gedächtnis hat, handelt sie hirnlos. Der späte Aufbruch der deutschen Politik in die Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft gleicht, immer noch, einem kleinen Abenteuer. Und in dieses Abenteuer mischt sich Angst. Einwanderungs- und Integrationspolitik in Deutschland ist eine Politik, in der sich fast alles und jedes um innere Sicherheit dreht. Es handelt sich um eine Politik, die den Einwanderer als Störer begreift, um eine Politik, welche die Furcht vor Multikulturalität fördert, statt sich auch über den Mehrwert zu freuen und ihn zu nutzen.

Leitkultur im besten Sinn

Diese Tendenz hat sich verschärft seit dem 11. September 2001 und den nachfolgenden Anschlägen in Madrid und London. Seitdem stehen Muslime schnell im Verdacht, gefährliche Islamisten zu sein. Der Islam wird wie eine inkompatible Kultur betrachtet. Der Koran gilt als gefährlich, als Anleitung für Terror. Diejenigen, die sich bei ihrem Terror auf Allah berufen, die ihn zu einem Teil ihrer Komplotte machen, haben heftig dazu beigetragen. Eine "gewisse anti-koranische Tollwut", die Pater Georges Anawati, ein Vorkämpfer christlich-islamischer Aussöhnung schon 1986 konstatierte, ist seit 2001 auch in Deutschland besonders virulent geworden. Im Jahr 2010 wurde das in der sogenannten Sarrazin-Debatte besonders deutlich. Das Buch des früheren SPD-Politikers Thilo Sarrazin, welches Muslime für dumm erklärte, verkaufte sich millionenfach.

Porträt Heribert Prantl; Foto: Stiftung Pro Justitia
"Politik und Gesetzgeber standen vor der Einwanderung und ihren Problemen immer wieder von neuem wie der Ochs vor dem Berg. Wenn aber Politik kein Gedächtnis hat, handelt sie hirnlos", meint Prantl.

​​ Wenn es um Integration geht, ist in Deutschland immer wieder von einer "Leitkultur" die Rede, der sich die Neubürger anpassen müßten. So genau weiß dann freilich keiner, was dazu gehört: das Essen? Irgendwelche Gewohnheiten? Was ist Leitkultur? Leitkultur im besten Sinn sollte eine Kultur des Zusammenlebens sein. Sie heißt Demokratie. Sie heißt Rechtsstaat. Sie heißt Grundrechte. Das klingt simpel. Aber der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese Leitkultur fordert viel, sie fordert nicht nur Toleranz, sondern Respekt an beiden Seiten, von den Alt- und den Neubürgern – und führt dann zur Integration. Das Wort Respekt ist besser als das Wort Toleranz.

Das Verhältnis des katholischen zum protestantischen Bürger oder des protestantischen zum katholischen Bürger ist dafür ein Vorbild: sich gegenseitig nicht nur gewähren, sondern gelten lassen. Das ist Integration. Es ist eine deutsche, es ist eine europäische Aufgabe.

 

 

Prof. Dr. Heribert Prantl

© Goethe Institut 2011

Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung" und Leiter der Redaktion Innenpolitik.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de