Mehr Toleranz statt multikultureller Illusion

Asis Aynan, Kind marokkanischer Einwanderer, Schriftsteller und Journalist, kritisiert die gesellschaftliche Doppelmoral und die Abkehr von der Toleranz im Umgang mit muslimischen Migranten als Folge des Rechtsrucks in den Niederlanden. Von Arian Fariborz

Von Arian Fariborz

 

Asis Aynan; Foto: Arian Fariborz
Asis Aynan nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Themen geht, die in der niederländischen Gesellschaft kontrovers debattiert werden, wie das gescheiterte Einwanderungskonzept und der politische Rechtsruck.

​​Asis Aynan macht einen geschäftigen Eindruck: In seiner kleinen Wohnung an der Korte Prinsengracht, im Herzen Amsterdams, stapeln sich auf dem Schreibtisch und über den Fußboden verteilt etliche Exemplare seines neuen Buchs. Rasch räumt er sie beiseite, hebt schließlich ein Exemplar auf und deutet auf den Buchtitel: "Veldslag – en andere herinneringen", zu Deutsch: "Feldschlacht und andere Erinnerungen". Es ist kein Geschichtsbuch und es sind auch nicht irgendwelche Erinnerungen des jungen Marokkaners. Vielmehr handelt es sich um Kurzgeschichten aus seinem Leben in Holland – Geschichten, die die vielschichtigen Integrationsschwierigkeiten des heranwachsenden Marokkaners der zweiten Generation und seiner Familie aus einer sehr persönlichen Perspektive erzählen.

Asis Aynan zählt zu den wenigen in den Niederlanden aufgewachsenen Marokkanern, die als Schriftsteller und Journalisten aktiv sind. Regelmäßig schreibt der in der holländischen Kleinstadt Haarlem geborene Aynan als Kolumnist und Kommentator für die sozialdemokratische Tageszeitung "Het Parool" und für das Kulturmagazin "Contrast" über Migration, Multikulturalismus, Dialog und Islam.

Was bedeutet Toleranz?

In Asis Artikeln und Büchern mischt sich Bitterkeit, nach so vielen Jahren doch nicht wirklich zur holländischen Gesellschaft dazuzugehören, nicht angekommen zu sein oder akzeptiert zu werden. Und das, obwohl die Niederlande jahrzehntelang gesellschaftliche Toleranz und politische Freizügigkeit auch gegenüber Immigranten aus der muslimischen Welt rühmten. Ihre "Minderheitenpolitik" galt lange als Vorbild auch für andere Einwanderungsländer in Europa.

Einbürgerungszeremonie in der 'Grote Kerk' in Den Haag; Foto: AP
Nur halbherzige Integration? Einbürgerungszeremonie in der 'Grote Kerk' in Den Haag

​​"Ständig wird behauptet, die Holländer seien tolerant", erzählt Aynan. "Aber was bedeutet Toleranz? Das man dem anderen nichts zu sagen hat – ist das Toleranz?! Ich glaube, das ist holländische Toleranz: nicht zu den anderen zu sprechen. Aber Toleranz bedeutet etwas völlig anderes, nämlich, dass du bereit bist, jemand anderem einen Platz in deinem Leben einzuräumen." Der junge marokkanische Journalist berberischer Herkunft geißelt mit harten Worten das multikulturelle Selbstverständnis der niederländischen Gesellschaft, die Utopie des viel beschworenen "harmonischen Zusammenlebens", das in Wirklichkeit jedoch nie ernsthaft praktiziert wurde, sondern bis heute nur als Fassade hergehalten habe.

Spaß- und Parallelgesellschaft

"Es ist wirklich schwer, multikulturell zu leben", so Aynan. "Dafür muss man sich öffnen und auch bereit sein, bestimmte Gewohnheiten und Traditionen abzulegen, Kompromisse zu finden. Aber mir ist nicht ein Beispiel bekannt, dass die Leute hier auch dazu bereit gewesen wären. Stattdessen hat man das multikulturelle Zusammenleben als etwas Spaßbetontes, Oberflächliches reduziert. Nach dem Motto: 'Haha, du bist Marokkaner und ich Holländer – wie lustig...!' Warum betrachten sie den Multikulturalismus so, als sei alles eine einzige Party – in keinem anderen Land ist das wohl so der Fall." Doch spätestens Ende der 90er Jahre waren die Risse in dieser Fassade kaum mehr zu übersehen: das überdurchschnittlich schlechte Bildungsniveau, die hohe Arbeitslosigkeit von Migranten sowie die zunehmende Gewalt surinamischer und marokkanischer Jugendgangs in sozialen Brennpunkten, wie dem Amsterdamer Stadtteil Slotervaart – einem ehemals wohlhabenden Viertel, aus dem sich die Niederländer jedoch schon vor Jahrzehnten verabschiedet hatten und das heute überwiegend von Migranten bewohnt wird. Den 28jährigen Journalisten und Schriftsteller beschäftigt derzeit die Frage, weshalb sich die holländische Gesellschaft in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von ihrer liberalen Einwanderungspraxis verabschiedet hat. Schließlich hatte das niederländische Königreich noch bis Ende der 90er Jahre den Ruf, nach den USA weltweit das großzügigste Einwanderungsland zu sein.

Aufbruch der Populisten

"In meinen Thesen geht es mir darum, herauszufinden, weshalb die multikulturelle Debatte so rasch ins Negative umgeschlagen ist", erzählt Aynan. "Wenn man die Zeitungen vor 15 Jahren aufschlägt wird man in dieser Diskussion einen völlig anderen Tenor vorfinden. Liegt das allein an den Anschlägen vom 11. September oder an den Morden am holländischen Regisseur van Gogh und dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn?"

Pim Fortuyn; Foto: AP
Pionier für den politischen Meinungsumschwung in der holländischen Öffentlichkeit: Rechtspopulist Pim Fortuyn

​​Aynan bezweifelt das. All die Jahre zuvor hätte die holländische Mehrheitsgesellschaft bereits dieses diffuse Gefühl der Abgrenzung und zum Teil auch offenen Ablehnung gegenüber Migranten im Bauch gehabt. "Dieser Wandel hat schon vor den Morden eingesetzt – und zwar zu dem Zeitpunkt, als sich die Gesellschaft eingestehen musste, dass ihr multikulturelles Konzept eine Illusion war. Dann kam Pim Fortuyn, der die Debatte erstmals eröffnet hat und gleichzeitig die Tür öffnete für Rechtspopulisten wie Marco Pastors, Geert Wilders, Rita Verdonk."

Umso wichtiger ist Aynan, in Kommentaren und Essays in dieser Debatte klar Stellung zu beziehen – gegen das von rechtspopulistischen Politikern immer wieder beschworene Feindbild Islam und die wachsenden Ressentiments gegen Muslime in der holländischen Presse. "In den Medien sprechen sie ständig nur noch über den Islam. Kann man das nicht mal abstellen?!", fragt Asis Aynan und fügt jedoch rasch hinzu: "Ja, es stimmt, in unserer Gesellschaft gibt es Probleme mit Muslimen, aber es ist doch zunächst an ihnen, ihre Schwierigkeiten in Eigeninitiative in den Griff zu bekommen. Lasst uns doch damit erst einmal anfangen!"

Stattdessen würde in den Medien immer nur vor den Gefahren der radikalen Islamisten, al-Qaida und Co., gewarnt. Doch Angst sei ein schlechter Ratgeber, findet Aynan. "Ich frage mich, ob das wirklich relevant im täglichen Zusammenleben der Leute ist. Ist das so wichtig für uns? Lasst uns doch mit dem Imam im Stadtviertel anfangen, lasst uns mit ihm über die Schwierigkeiten vor Ort unterhalten, wenn wir die Probleme wirklich ernsthaft lösen wollen!"

Nur im ständigen Dialog mit Vertretern der muslimischen Verbände und der Intellektuellen sieht Aynan eine reelle Chance, das schwierige Verhältnis mit der niederländischen Mehrheitsgesellschaft doch noch zu kitten, vorausgesetzt der Dialog erschöpft sich nicht in oberflächlichen, plakativen Begegnungen – genau wie auch zuvor der holländische Multikulturalismus.

Arian Fariborz

© Qantara.de 2009