Die etwas andere Israel-Lobby

"J-Call" ist eine neue Gruppierung europäischer Juden, die von den Politikern der Europäischen Union deutlich mehr Druck auf Israel fordert und für ein Ende der Besatzungs- und Besiedlungspolitik kämpft. Peter Münch informiert.

"J-Call" ist eine neue Gruppierung europäischer Juden, die von den Politikern der Europäischen Union deutlich mehr Druck auf Israel fordert und für ein Ende der Besatzungs- und Besiedlungspolitik kämpft. Peter Münch informiert.

​​Es war ein Ringen zwischen Loyalität und Aufbegehren, zwischen Solidarität und Sorge – und am Ende war wohl die Sorge übermächtig:

Mit einem "Appell an die Vernunft" ist eine neu formierte Gruppe europäischer Juden nun an die Öffentlichkeit getreten, und dies ist eine jüdische Lobbygruppe der besonderen Art. Denn sie fordert von den Politikern der Europäischen Union deutlich mehr Druck auf Israel.

Kritik auf schmalem Grat

"J-Call" kämpft für ein Ende der Besatzungs- und Besiedlungspolitik und für die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staats. Liberale europäische Juden wollen so einen Kontrapunkt setzten gegen die rechte Regierung in Jerusalem, aber auch gegen die traditionellen Vertretungen der jüdischen Diaspora, die sich in der Vergangenheit oft als unbeirrbare Apologeten dieser Politik präsentierten. Eine neue Kraft tritt damit auf den Plan.

Prominente Namen stecken hinter der Initiative: Die französischen Philosophen Bernard-Henry Levy und Alain Finkielkraut gehören ebenso dazu wie der grüne Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit und Avi Primor, Israels früherer Botschafter in Deutschland.

Sie alle haben Israel oft verteidigt, teilweise sogar noch im jüngsten Gaza-Krieg. Nun jedoch wollen sie nicht mehr verteidigen. Und schweigen wollen sie auch nicht mehr. Dabei wissen auch sie, auf welch schmalem Grat sich Israels Kritiker bewegen.

Zum einen besteht natürlich stets die Gefahr, Applaus von der falschen Seite zu bekommen – von den vielen Feinden Israels also, ob sie nun in Teheraner Amtsstuben sitzen oder in braunen Hinterzimmern in Templin. Sie alle bedienen sich nur allzu gern eines vermeintlichen Kronzeugen in ihrer Agitation gegen den jüdischen Staat.

Avi Primor; Foto: dpa
Avi Primor war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland und gehört zu den Mitgründern der Initiative "J-Call"

​​ Doch jenseits solch billiger Vereinnahmungsversuche sind Israels Kritiker auch immer einem scharfen Gegenwind aus Richtung Jerusalem ausgesetzt. Wenn sie von außen kommen, werden sie schnell als Antisemiten abgeurteilt. Und wenn sie von innen kommen, aus dem Judentum also, trifft sie die Abwehr oft noch härter:

Diffamierung als "Kapitulationslobby"

Als "Juden mit Selbsthass" werden sie abqualifiziert oder als "Kapitulationslobby" angefeindet, die Israel in seinem ständigen Existenzkampf in den Rücken falle. Wer aus der Diaspora kluge Ratschläge gibt, der muss sich zudem immer anhören, dass die Welt von einem Pariser Cafe aus ganz anders aussieht als von einem Wachturm an der Grenze zum Gaza-Streifen.

Deshalb versichern die "J-Call"-Gründer in ihrem Appell ihre "unverbrüchliche Verbundenheit" mit dem Staat Israel, den sie als "Teil unserer Identität" bezeichnen. Sie erkennen dessen existenzielle Bedrohung von außen an, sie teilen die Sorge um die Zukunft und Sicherheit dieses Staates, zumal in Zeiten der aufziehenden iranischen Atombedrohung.

Doch sie erkennen auch eine existenzielle Gefahr für den Staat Israel, die von innen kommt: durch den "Auf- und Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und in den arabischen Vierteln Ost-Jerusalems". Dies sei "ein moralischer Fehler und ein politischer Irrtum", der "zu dem inakzeptablen Vorgang der Delegitimierung Israels als Staat führen" könne.

Die Grenze der Solidarität verläuft für "J Call" also parallel zur Grünen Linie, die Israel von den seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzten palästinensischen Gebieten trennt.

Jenseits dieser Linie wollen sie die Jerusalemer Politik nicht mehr mittragen, und es klingt im Appell wie ein schmerzlicher Lernprozess: "Die systematische Identifizierung mit der Politik der israelischen Regierung ist gefährlich", schreiben sie, "weil sie im Gegensatz zu den echten Interessen des Staates Israel stehen kann."

Vorbild "J-Street"

Vorbild für "J-Call" ist die vor zwei Jahren gegründete amerikanisch-jüdische Lobbygruppe "J-Street". Von Beginn an war diese sowohl von Israels Rechten wie auch von den alteingesessenen und enorm einflussreichen jüdischen Organisationen wie "Aipac" bekämpft worden.

"J-Street" sollte zur Sackgasse werden, doch das hat nicht funktioniert. Heute stärkt die liberale jüdische Organisation US-Präsident Barack Obama für seine Nahost-Politik den Rücken, und vom israelischen Botschafter in den USA bis zu Präsident Schimon Peres kommt keiner mehr an ihr vorbei.

Levy; Foto: dpa
Neben Alain Finkielkraut, Daniel Cohn-Bendit und Avi Primor ist der französische Philosoph Bernard-Henry Levy einer der Gründer von "J-Call"

​​ Ähnlich will "J-Call" nun auf europäischer Ebene Fuß fassen, weshalb der Gründungsappell vorige Woche in Brüssel ganz offiziell den EU-Parlamentariern überreicht wurde. Postwendend kam eine deutliche Abfuhr für Levy, Finkielkraut & Co. vom "Europäischen Jüdischen Kongress", der Dachorganisation jüdischer Organisationen mit Sitz in Paris: Der" J-Call"-Appell "schaffe Uneinigkeit, sei kontrapoduktiv und nicht hilfreich".

Im Internet aber haben sich bis zum Wochenende schon mehr als 5.000 Unterzeichner dem Aufruf angeschlossen. Zwar hat die Initiative bisher ihren Schwerpunkt in Frankreich, wo mit 700.000 Menschen die größte jüdische Bevölkerungsgruppe in Europa lebt.

Aber auch aus Deutschland haben schon einige prominente Juden wie Micha Brumlik oder der Verleger Abraham Melzer unterzeichnet. In München hält sich die in Jerusalem geborene Friedensaktivistin Judith Bernstein bereit, eine deutsche Sektion von "J-Call" zu koordinieren.

Kein Denkverbot vom Zentralrat

Eine solche Koordination kann ein kompliziertes Unterfangen werden – angesichts eines breit gefächerten Spektrums verschiedenster Meinungen im deutschen Judentum. Erfrischend offen für "J-Call" – in scharfem Gegensatz zum Beispiel zu seinen französischen Funktionärskollegen – zeigt sich Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.

"Ich begrüße die Initiative ausdrücklich", sagt er und spricht davon, dass man sich "keine Denkverbote auferlegen und solche Initiativen nicht mit Totschlagsargumenten kaputt machen" dürfe. Schließlich handele es sich bei den "J-Call"-Rufern nicht um die "üblichen Friedensromantiker", sondern um prominente Intellektuelle.

Unterzeichnet hat Kramer den Aufruf allerdings bis zum (vergangenen) Wochenende noch nicht. Für einen Generalsekretär gibt es da sicher noch vieles zu bedenken – neben der Stimmung seiner Ratsmitglieder zum Beispiel auch, dass zu den deutschen Erstunterzeichnern auch ein Abtrünniger wie Rolf Verleger gehört, dem vor einem Jahr sein Zentralrats-Mandat entzogen wurde, weil er allzu offen die israelische Politik kritisiert hatte.

Doch auch Verleger hat es sich nicht leicht gemacht mit seiner Unterschrift unten den "J-Call"-Appell. In manchem ist er ihm zu zahm, manches fehlt ihm, und so hat er nur mit einem persönlichen Zusatz unterschrieben. "Die wichtigste Differenz ist, dass man auch mit der Hamas reden muss" sagt er.

Barack Obama mit Benjamin Netanjahu (links) und Mahmud Abbas beim Nahost-Dreiergipfel in New York; Foto: AP
Ein Appell an die Vernunft für einen wirklich grundlegenden Wandel und eine künftig gerechte Nahostpolitik: für dieses Ziel tritt die Gruppe "J-Call"</wbr> mit ihrer Kampagne ein.

​​ Andere Stimmen können – selbst wenn sie den druckvollen Impetus zum Frieden gern unterstützen wollen – ganz grundsätzlich nichts damit anfangen, dass in dem Appell die "Verbindung zu Israel" als Teil der Identität auch der deutschen Juden bezeichnet wird.

Das Gelobte Land ist wohl für jeden Juden anders. Mit Beschimpfungen und Einwänden gegen den neuen Zusammenschluss war daher zu rechnen. Klugerweise haben die "J-Call"-Gründer vorgesorgt. Im letzten Punkt ihres Appells heißt es: "Diese Bewegung möchte über den traditionellen Meinungsverschiedenheiten stehen."

Peter Münch

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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  • Appell von "J-Call" - "European Jewish Call for Reason"