Wenn die Angst regiert

Dass in Marokko kürzlich mehrere prominente Aktivisten der Protestbewegung "Hirak El-Shaabi" zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, hat die Kritiker der Regierung aufgerüttelt. Aktivisten und Analysten warnen vor einer Verschärfung des innenpolitischen Klimas in Marokko. Von Tom Stevenson

Von Tom Stevenson

Nasser Zefzafi, der Anführer einer regierungskritischen Protestbewegung, war im Mai 2017 wegen "Behinderung der Gebetsfreiheit" verhaftet worden. Am 26. Juni wurde er nun zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Am 26. Juni wurde er nun zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.

Nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen insgesamt 54 weitere regierungskritische Aktivisten sprach ein Gericht in Casablanca langjährige Haftstrafen aus. Die prominentesten drei von ihnen müssen für 20 Jahre ins Gefängnis. Sieben weitere Dissidenten wurden zu Strafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt, und der Journalist Hamid El-Mahdaoui muss für drei Jahre in Haft.

Nasser Zefzafi hatte im April 2017 in der Stadt Al Hoceima und in der nordmarokkanischen Rif-Region gegen die grassierende Korruption und Ungleichbehandlung durch die Regierung demonstriert. Ferner richteten sich die Proteste gegen eine Verschlechterung des Gesundheitssektors, für mehr Arbeitsplätze und für die Etablierung eines Sozialsystems in Marokko.

Gegen despotische Herrschaft und Verachtung

Die Proteste waren ursprünglich eine Reaktion auf das Schicksal des Fischverkäufers Mohsen Fikri, der in Al Hoceima getötet wurde. Er hatte sich geweigert, einem lokalen Beamten Bestechungsgelder zu zahlen. Als er versuchte, seinen beschlagnahmten Fang zu retten, befahl der Beamte dem Fahrer eines Müllwagens, ihn zu zerquetschen. Seitdem wehrt sich die regierungskritische Bewegung "Hirak El-Shaabi" gegen das, was sie huqra (Verachtung) und tahakoum (despotische Herrschaft) der regierenden Elite nennt.

Fernab der Rif-Region sitzt Nasser Zefzafi nun schon seit Monaten in Casablanca in Einzelhaft. Er und die anderen politischen Gefangenen hatten ihre Gerichtsverhandlungen boykottiert, da sie der Meinung waren, das Gericht werde von der Regierung beeinflusst. Daher wurden die Angeklagten nun in Abwesenheit verurteilt.

Proteste zur Freilassung Nasser Zefzafis in Casablanca; Foto: AP
Diffamiert, kriminalisiert, inhaftiert: Der Anführer der Protestbewegung "Hirak El-Shaabi", Nasser Zefzafi, wurde am 26. Juni zu einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt. Zahllose Demonstranten gingen daraufhin landesweit auf die Straßen, um gegen das drakonische Strafmaß zu protestieren. Sie forderten die sofortige Freilassung Zefzafis und anderer "Hirak"-Aktivisten.

"Die Strafe wurde verhängt, ohne dass die Gefangenen oder ihre Familien bei den Prozessen anwesend waren", sagt Soraya El-Kahlaoui. Sie ist Mitglied des Solidaritätskomitees für die "Hirak"-Gefangenen – eine Einrichtung, die in Casablanca mit den Familien politischer Gefangener arbeitet. El-Kahlaoui hat die Gerichtsverhandlungen gegen die angeklagten Aktivisten beobachtet. "Wir bereiten uns schon seit einem Jahr auf das Verfahren vor, aber als wir hörten, wie hoch das Strafmaß ausfiel, waren wir geschockt", berichtet sie.

Weiterhin erklärte El-Kahlaoui, Zefzafi und vier andere Gefangene hielten die Verhandlung zwar für unfair, würden das Verfahren aber weiterhin boykottieren und deshalb keinen Einspruch erheben. Die Gefangenen, die im Oukacha-Gefängnis in Casablanca sitzen, sind seit dem 29. Juni in Hungerstreik getreten, um gegen die Haftbedingungen und die Gefängnisbehörden zu protestieren.

Wütende Reaktionen im ganzen Land

Die drakonischen Strafen gegen die Dissidenten der "Hirak El-Shaabi" haben im ganzen Land wütende Reaktionen hervorgerufen. In Al Hoceima, wo als Antwort auf die regierungskritische Bewegung viele Polizisten und Soldaten stationiert sind, wurde ein Generalstreik ausgerufen. Aktivisten behaupten, seit dem Beginn der Bewegung seien fast 1.000 "Hirak"-Demonstranten verhaftet worden. Die "Hirak"-Aktivisten riefen auch zu einem umfassenden Boykott gegen Firmen auf, deren Eigentümer als regierungsnah gelten.

Die marokkanischen Sicherheitskräfte reagierten bislang auf die Proteste, indem sie die Gebiete weiträumig abriegelten. Zeitweise unterbrachen sie auch die Internetverbindungen, um Informationen über und von "Hirak"-Aktivisten zu blockieren. Auch wurden zahllose Nachrichtenmedien von den Behörden gezwungen, ihre Berichterstattung über die Protestbewegung einzuschränken.

Soraya El-Kahlaoui, Mitglied des Solidaritätskomitees für die "Hirak"-Gefangenen; Quelle: YouTube
Zweifelhafte Gerichtsverhandlungen unter Ausschluss der Angeklagten: „Die Strafe wurde verhängt, ohne dass die Gefangenen oder ihre Familien bei den Prozessen anwesend waren“, berichtet Soraya El-Kahlaoui, Mitglied des Solidaritätskomitees für die "Hirak"-Gefangenen.

Trotzdem wurde in ganz Marokko gegen die verhängten Strafen protestiert. In den Städten Casablanca, Rabat und Agadir gab es Demonstrationen, auf denen zur Solidarität mit den politischen Gefangenen aufgerufen wurde. Und auch in Amsterdam, Den Haag, Brüssel, Tunis, Paris, Madrid, Turin und Frankfurt fanden Kundgebungen statt. In den Sozialen Medien wurde Zefzafis Strafe von 20 Jahren mit der eines verurteilten Kinderschänders verglichen, der sogar nur für zwei Jahre ins Gefängnis musste.

Klima der Angst

"Der Staat hat auf die 'Hirak'-Demonstranten nicht nur mit Unterdrückung reagiert, sondern auch mit etwas, das ich als rassistische Propaganda gegen den Rif und seine Bewohner bezeichnen würde", meint El-Kahlaoui. "Und all dies richtet sich gegen eine pazifistische Bewegung, die lediglich grundsätzliche soziale Forderungen stellt. Wo ist da die Logik? Alle hier haben jetzt Angst – nicht nur vor Verhaftung, sondern auch vor dem politischen Klima, das der Staat verbreitet."

Dass die Rif-Region durch die Zentralregierung unterdrückt wird, ist nichts Neues. Historisch unterscheidet sich dieses Gebiet vom restlichen Marokko dadurch, dass es während der Kolonialzeit nicht französisch war, sondern unter spanischer Herrschaft stand. Damals, und auch noch nach der marokkanischen Unabhängigkeit, gab es dort häufig Aufstände.

Analysten und Regierungskritiker sagen, insbesondere in der Rif-Region gebe es für die Menschen kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System auszudrücken. Die Regierung wird durch König Mohammed VI. und seinen königlichen Exekutivrat dominiert – wo ehemalige Klassenkameraden des Königs aus dem Collège Royal in Rabat sitzen.

Marokkos König Mohammed VI. (m.) gemeinsam mit seinem Sohn Prinz Moulay Hassan (l.) und seinem Bruder Prinz Moulay Rachid in Rabat; Foto: Getty Images/AFP/F. Senna
Über allem thront der Monarch: Analysten und Regierungskritiker sagen, insbesondere in der Rif-Region gebe es für die Menschen kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System auszudrücken. Die Regierung wird durch König Mohammed VI. und seinen königlichen Exekutivrat dominiert – wo ehemalige Klassenkameraden des Königs aus dem Collège Royal in Rabat sitzen.

Laut Issandr El-Amrani, dem Leiter der "International Crisis Group" für Nordafrika in Rabat, hält die Mehrheit der marokkanischen Öffentlichkeit die Gefängnisstrafen gegen Zefzafi und die anderen Regierungskritiker für zu hart: "Viele denken, die Demonstranten hätten dies nicht verdient. Manche halten die Strafen auch für gefährlich und sind der Meinung, sie würden nur zu neuen Protesten und weiterer Gewalt führen."

Bis jetzt haben die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen im Rif noch keine nennenswerten Reaktionen in der Mitte und im Süden des Landes ausgelöst, aber die Art, wie die Dissidenten von der Regierung behandelt werden, löst Angst vor weiteren Unruhen aus. Einige Beobachter hoffen, dass Zefzafi und die anderen Demonstranten an einem der Feiertage im Sommer vom König begnadigt werden. Dies könnte die Spannungen lindern.

Ob es nun dazu kommt oder nicht: Auf jeden Fall ist die Behandlung der Rif-Demonstranten für El-Amrani ein Beweis dafür, dass die politische Unterdrückung in Marokko stärker wird: "Von den Ereignissen im Rif über die Verurteilung von Journalisten bis hin zu Angriffen auf die Zivilgesellschaft – insgesamt sieht es so aus, dass die Freiheit immer mehr eingeschränkt wird."

Tom Stevenson

© Qantara.de 2018

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff