Indonesien: Gleichberechtigung der Geschlechter?

Lily Zakiyah Munir aus Indonesien vertritt die Auffassung, nicht der Koran sei es, der Frauen in islamischen Ländern den gleichen sozialen Status vorenthalte, sondern die sozialen Normen patriarchalisch geprägter Kulturen.

Lily Zakiyah Munir, Vorsitzende des "Center for Pesantren and Democracy Studies" (Zentrum für islamische Religionsschulen und Demokratische Studien) in Indonesien, vertritt die Auffassung, dass es nicht der Koran sei, der Frauen in islamischen Ländern den gleichen sozialen Status vorenthalte, sondern die sozialen Normen patriarchalisch geprägter Kulturen.

Lily Zakiyah Munir, Foto: Programa de Estudios de Género y Sociedad de la Universidad Academia de Humanismo Cristiano
Lily Zakiyah Munir

​​Im Rahmen von Konferenzen über Frauenfragen wird hinsichtlich der Gleichheit der Geschlechter und der Frauenrechte immer wieder die Religion, insbesondere der Islam, als Ursache für die Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen genannt, so als ob der Islam an sich die Durchsetzung von Frauenrechten behindere.

Definiert man den Islam als die Gesamtheit aller Einstellungen und Verhaltensweisen der meisten Muslime in muslimischen Gesellschaften, die - wie viele andere weltweit auch - patriarchalische Gesellschaften sind, so ist es richtig, dass der Islam Frauen diskriminiert, sie an der Ausübung ihrer Rechte behindert und ihre Freiheit beschneidet.

Nicht richtig ist diese Sichtweise allerdings, wenn man davon ausgeht, dass der Islam eine Sammlung von moralischen Lehren und Ritualen ist, die der gesamten Menschheit, also auch den Frauen, Segen bringen soll.

Es geht hier also um den Islam einerseits und die Muslime andererseits. Die beiden Phänomene sind nicht identisch, tatsächlich tut sich unter dem Aspekt der Geschlechterfrage zwischen beiden eine große Kluft auf.

Es ist daher wichtig, dass wir diese Kluft überwinden, indem wir die Öffentlichkeit und die Muslime im Besonderen über die Gleichheit von Frauen und Männern und über die Rechte, die der Islam den Frauen garantiert, aufklären.

Nach dem Koran sind Männer und Frauen gleich

Es gibt mindestens 30 Verse im Koran, die die Gleichheit von Frauen und Männern zum Ausdruck bringen und die sich auf die Rechte der Frauen unter verschiedenen Aspekten des Lebens beziehen.

Viele dieser frauenfreundlichen Koranverse finden sich auch im Hadith, der traditionell dem Propheten Muhammad zugeschrieben wird, was zeigt, dass die Lehren des Propheten Frauen eben nicht auf den zweiten Rang verweisen, sondern - im Gegenteil - ihre gleiche Stellung in der Gesellschaft begünstigen und unterstützen.

Zu diesen Lehren, um nur einige zu nennen, gehört zunächst einmal die Erschaffung der Menschheit: Im Gegensatz zum christlichen Dogma, das besagt, dass die Frau aus der Rippe eines Mannes bzw. der Mann als erster erschaffen wurde, was die Unterlegenheit der Frauen gegenüber den Männern andeutet, sagt uns der Koran, dass Frauen und Männer gemeinsam aus einer Seele ("nafs wahida") entstanden sind. Es gibt nicht einen Vers, der auf eine Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts hinweist.

Bei einer Sünde macht es darüber hinaus keinen Unterschied, ob eine Frau oder ein Mann sie begangen hat. Eine große Anzahl Koranverse garantiert Frauen und Männern ausdrücklich gleiche Behandlung und Bestrafung für gute und schlechte Taten.

Gleiche Rechte und Pflichten gelten für Frauen und Männer auch in Bezug auf Bildung. Der Koran gesteht ausdrücklich beiden Geschlechtern zu, nach Bildung zu streben. Dies geht aus dem Hadith deutlich hervor.

Gleiche Rechte und Pflichten gibt es außerdem in der Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten. Als Gottes Statthalter sind Frauen und Männer dazu verpflichtet, nach einem tugendhaften Leben zu streben sowie Sünden und schlechten Taten vorzubeugen (al-amr bi-l-ma'ruf wa 'n-nahi 'an al-munkar).

Keine Gleichheit in islamischen Gesellschaften

Wenn der Islam also klugerweise die Gleichheit beider Geschlechter und Frauenrechte in verschiedenen Aspekten des Lebens gewährt, warum ist dann der Status der Frau in muslimischen Gesellschaften nach wie vor so gering?

Wenn der Islam lehrt, dass Frauen und Männer dazu verpflichtet sind, nach einem tugendhaften Leben zu streben sowie Sünden und schlechten Taten vorzubeugen, warum leiden sie dann immer noch unter einer Trennung nach Geschlechtern, die den Frauen die Verantwortung im Haushalt aufbürdet, während Männer die Öffentlichkeit dominieren?

Warum ist soziale Gerechtigkeit für Männer leichter zu verwirklichen als für Frauen? Es gibt sicher noch viele ähnlich kritische Fragen zu stellen, wenn wir über Geschlechter- und Frauenfragen nachdenken.

Für die Kluft zwischen islamischer Lehre und ihrer Verankerung bei den Muslimen gibt es mehrere Gründe.

1. Solch liberale und emanzipatorische Botschaften des Korans sind nicht einfach zu verstehen, geschweige denn zu internalisieren und zu praktizieren, vor allem dann, wenn der Koranleser gegenüber der Geschlechterfrage infolge der patriarchalisch-ideologischen Hegemonie, die in unserer Kultur vorherrscht, in seinem Denken voreingenommen ist.

Die anthropologische Untersuchung eines Koranverses über weibliche Sexualität (Koran, al-Baqarah 187) zeigt, dass die Geschlechter– und die sexuelle Gleichheit, die hier befürwortet werden, von der Mehrheit der Muslime nicht in Betracht gezogen werden, da sie an ungleiche Geschlechterverhältnisse gewöhnt sind.

2. In den Printmedien, den elektronischen Medien und in religiösen Lernforen (majlis ta’lim) werden diese Frauenrechte durch Religionslehrer und Prediger kaum öffentlich gemacht. Die Hauptthemen der religiösen Erziehung und Lehre drehen sich in erster Linie um die Überlegenheit Gottes und die "Überlegenheit" des Mannes gegenüber der Frau, wodurch die bereits eingeschränkte Position der Frau verfestigt wird.

3. Die meisten Frauen, die im öffentlichen Leben islamischer Gesellschaften eine einflussreiche Rolle spielen, tun nichts dafür, die schwierige Position der Frauen ins Bewusstsein zu rufen. Einige unterstützen sogar die untergeordnete Rolle, die Frauen gegenüber ihren Ehemännern spielen (und lassen dabei die Ehemänner außer Acht). Sie vertreten die Auffassung, dass dies zu den Anforderungen einer frommen Muslima gehört.

Der Koran und die Gleichberechtigung der Geschlechter

Es wird Zeit, dass sich Muslime die Zeit nehmen, über diese Realitäten nachzudenken. Ist den Frauen Gerechtigkeit widerfahren? Werden ihnen die Rechte zugestanden, auf die sie Anspruch haben und die ihnen durch den Koran garantiert werden?

In patriarchalischen muslimischen Gesellschaften wird die Einstellung des Korans gegenüber der Gleichberechtigung der Geschlechter herausgefordert. Die Lösung des Problems liegt in einer erfolgreichen Erziehung muslimischer Männer und Frauen im Sinne des Korans und seinem Auftrag, Frauen und unterdrückte Gruppen zu befreien.

Versuche, Frauenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu verwirklichen, sollten verstärkt werden, um gerechte muslimische Gesellschaften gemäß der Weisheit des Korans zu ermöglichen.

Diese Aufforderung richtet sich hauptsächlich an die Männer, denn sie sind diejenigen, die die Macht besitzen, Freiheit neu zu deuten, neu aufzubauen und durchzusetzen.

Lily Zakiyah Munir

© Lily Zakiyah Munir

Aus dem Englischen von Helen Adjouri

Die Autorin gründete das "Center for Pesantren and Democracy Studies" ("Zentrum für islamische Religionsschulen und Demokratische Studien") und war sehr engagiert in Frauenorganisationen, die an die "Nahdlatul Ulama", der größten muslimischen Organisation in Indonesien, angebunden sind. Zurzeit gestaltet Lily Munir an der "School of Law at Emory University" in Atlanta Lernmodule über den Islam und die Menschenrechte, die in Pesantrens in Indonesien verwendet werden sollen.

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