Richtung Bagdad!

Vor siebzig Jahren verband ein Luxuszug das heutige Istanbul mit dem Orient. Deutsche Ingenieure schufen die berühmte Bahnlinie, die auch von Agatha Christie häufig genutzt wurde. Nun reiste Klaus Hillenbrand von Istanbul nach Aleppo.

Bagdadbahn; Foto: www.lernidee.de
Auch die Krimiautorin Agatha Christie reiste regelmäßig mit der Bagdad-Bahn

​​Im Haydarpasa, dem asiatischen Bahnhof von Istanbul, wartet jeden Donnerstag früh auf Gleis 7 der Toros-Express auf die Reisenden. Zwölf der dreizehn Wagen sind frisch gewaschen, ihr tiefes Blau glänzt in der Morgensonne. Sie sollen am nächsten Tag nach knapp 27-stündiger Fahrt im türkischen Gaziantep eintreffen.

Der dreizehnte und letzte Waggon mit der Nummer 6 hat kein Wasser gesehen und zeigt tiefe Rostspuren an seiner Außenhaut, die einmal weiß und blau gestrichen war. Es ist der einzige Kurswagen ins syrische Aleppo, wie das blecherne Schild neben der geöffneten Waggontür verrät, Ankunft laut Fahrplan am Freitag um 14.34 Uhr.

"Waggonbau Görlitz, 1983" steht unter dem Eingang. Der Schlafwagenschaffner bittet freundlich herein und hilft dabei, die zahlreichen Gepäckstücke zu verstauen. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt.

Zu den Zeiten, als Agatha Christie regelmäßig von London aus ihren Ehemann, den Archäologen Max Mallowan, besuchte, der in Syrien und im Irak Ausgrabungen leitete, bildete der Taurus-Express das letzte Glied einer luxuriösen Reise von Europa in den Orient.

Reisen war eine Investition in Zeit

Beginn war nach Überquerung des Kanals Paris, wo der eigentliche Lauf des berühmten Orient-Express begann, der nur die erste und zweite Wagenklasse führte und für den zusätzlich ein besonderer Zuschlag zu entrichten war.

Reisen, das bedeutete damals noch eine erhebliche Investition an Zeit - eine Vorstellung, die heute unendlich weit entfernt zu liegen scheint. Eine Stunde nach Paris, drei nach Rom, acht nach New York: Im Zeitalter des Düsenjets ist kein Ziel zu fern, wenn man es nach der investierten Fahrtdauer bemisst.

Längst geht es nicht mehr um die Reise, sondern ausschließlich ums Ankommen am Zielort. Der Transport ist nurmehr ein lästiges, aber kalkulierbares Mittel zum Zweck, dessen einzige Überraschung im immer engeren Sitzabstand im Flugzeug besteht.

Von Europa nach Asien mit der Fähre

Die Fahrt zum Bahnhof Haydarpasa auf der asiatischen Seite des Bosporus muss man heutzutage selbst organisieren. Im aufsteigenden Frühnebel verlässt die Fähre ihren Anlegeplatz unterhalb der Altstadt am Goldenen Horn. Zwanzig Minuten später, nach einer Fahrt durch das ruhige Wasser der Meerenge und vorbei an nur schemenhaft sichtbaren Schiffen, glänzt das monumentale Bahnhofsgebäude neben dem Hafen in der Sonne.

Agatha Christie nutzte bei ihrer ersten Fahrt in den Orient 1928 die Dienste des Reisebüros Thomas Cook und bereute es nicht: "Ich war froh, meinen Führer bei mir zu haben, denn auf dem Haydarpasa-Bahnhof ging es zu wie in einem Narrenhaus. Die Leute schrien und brüllten und gestikulierten, um die Aufmerksamkeit des Zollbeamten auf sich zu lenken."

Heutzutage ist der sorgfältig restaurierte Bahnhof fast menschenleer. Die türkische Staatsbahn ist gegenüber den schnelleren Bussen gewaltig ins Hintertreffen geraten.

Langsamer als der Bus

Der Bus benötigt für die Strecke nach Syrien nur zwanzig Stunden. Eisenbahnreisen auf Fernstrecken sind zum Anachronismus geworden. Doch wir wollen reisen und die Entfernung wieder einmal spüren. Es muss doch noch etwas geben zwischen A und B - selbst wenn das Reisen an sich auch in der Vergangenheit natürlich nie Selbstzweck war.

Es gibt ein Ziel: Aleppo, die tausende Jahre alte Handelsstadt zwischen Mittelmeer und Mesopotamien. Oder ist doch der Weg das Ziel - und dieser angerostete Waggon Nummer 6 als Heimat auf Zeit besser als jedes Orienthotel?

Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt, die Koffer sind provisorisch verstaut, doch langsam wird deutlich, dass dem Toros-Express ein wichtiger Waggon fehlt: Ein Speisewagen ist, entgegen allen Erwartungen, nirgends zu erblicken. Die wenigen Reisenden hasten zum Kiosk; Brot, Käse, Cracker, Kekse und Wasser müssen her. Dann, pünktlich um 8.55 Uhr, ein leichter Ruck, und der Zug verlässt Istanbul. Die Entschleunigung beginnt vielversprechend im Schneckentempo.

Zeugnis deutschen Expansionsdrangs

Es ist nicht nur eine Reise auf den Spuren der englischen Schriftstellerin Agatha Christie. Die Bahn selbst ist ein Zeugnis deutschen Kapitals und Expansionsdrangs. Haydarpasa, eingeweiht im Jahre 1909, erinnert mit seinen Türmchen nicht zufällig an wilhelminische Prachtbauten in Berlin. Anatolische und Bagdadbahn sind unter Leitung deutscher Fachleute errichtet worden, den Bahnhof baute die Firma Philipp Holzmann, für die Finanzierung sorgte die Deutsche Bank.

Der Kaiser zeigte besonderes Interesse am Bau, entsprach die Strecke doch seinem Streben nach dem "Platz an der Sonne", den er seinem Reich im Orient zu schaffen trachtete. Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen Bank von 1870 bis 1900, hatte dieses Engagement lange Zeit skeptisch beobachtet:

Die "obwaltenden politischen Verhältnisse" ließen es "nicht rätlich erscheinen, sich auf weitaussehende Unternehmungen einzulassen, selbst wenn mit Gewissheit auf eine Rentabilität gerechnet werden dürfte", schrieb er im Jahr 1887.

Dem Druck der Politik jedoch konnte und wollte die Bank nicht widersprechen, und die betrachtete eine deutsche Eisenbahn bis nach Bagdad als ein politisches Instrument zur Sicherung deutscher imperialistischer Interessen - gegen England und Frankreich, die im Orient die Strippen zogen. 1889 wurde die Anatolische Eisenbahngesellschaft gegründet, um den Bau voranzutreiben.

Der Toros-Express bummelt dahin. Bis Izmit haben sich die Verspätungen auf vernachlässigenswerte zwanzig Minuten summiert. Dort löst der junge Schaffner sein Versprechen ein und macht in dem fast leeren Wagen aus zwei Doppelabteilen ein großes Vierer-Apartment mit frisch bezogenem Doppelbett, Sitzbank und gleich zwei ausklappbaren Waschgelegenheiten.

Der Bau der Anatolischen Bahn begann 1889, und schon ein Jahr später konnte die erste Teilstrecke eröffnet werden. Der osmanische Sultan verpfändete dazu die Getreideeinnahmen ganzer Provinzen, die von der Strecke durchzogen wurden. Das sollte garantieren, dass die vertraglich festgelegte Mindesteinnahme auch dann floss, wenn es nicht genug Güterverkehr geben sollte und zu wenige Reisende die Züge nutzen sollten. Damit trug das nahezu bankrotte Osmanische Reich praktisch alle finanziellen Risiken für die Bahn in den Orient.

Deutsche Architektur in Anatolien

Unser Zug verlässt die Küste und durchfährt nun enge Täler und Schluchten mit üppiger Vegetation. Brücken und kurze Tunnel wechseln einander ab. Die freundliche Landschaft erinnert an europäische Mittelgebirge, dasselbe gilt für die vielen kleinen Bahnhöfe, an denen dieser "Express" genannte Bummelzug Station macht: Es ist unzweifelhaft deutsche Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, die hier in die Türkei versetzt worden ist.

Selbst die ziegelgedeckten, steinernen Aborte neben den Hauptgebäuden machen den Eindruck, als entstammten sie der schwäbischen Eisenbahn. Auch die Bahnbeamten an der Strecke waren in den Frühzeiten der Eisenbahn Deutsche. Heute stehen türkische Staatsbedienstete stramm, wenn der Zug in Arifiye, Pamukova oder Bayirköy hält.

In Eskisehir, wo die Strecke nach Ankara abzweigt, hat der Toros-Express schon fast eine Stunde Verspätung. Lange stehen wir im Bahnhof, die Lokomotive wird ausgewechselt.

Erster Luxuszuge Kleinasiens

Im Jahr 1928, als nicht Agatha Christies Kunstfigur Poirot, sondern die Schriftstellerin selbst zum ersten Mal in den Orient aufbrach, war der Taurus-Express noch gar nicht eingerichtet worden, und Christie musste mit Regionalzügen vorlieb nehmen.

Erst zwei Jahre später, 1930, wurde mit dem Taurus-Express der erste Luxuszug Kleinasiens auf die Schienen gestellt. Die abenteuerliche Strecke durch das gleichnamige Gebirge zwischen Konya und Adana war da erst seit zwölf Jahren fertig gestellt.

Finanzielle Schwierigkeiten und technische Probleme hatten den Bau der Bagdadbahn verzögert. "Keine Aborte im Zug", warnt der Baedeker noch 1914 vor einer Bereisung einer damals gerade fertig gestellten Teilstrecke.

Was wir heute als Entschleunigung verstehen, galt damals allerdings als unglaublicher Fortschritt. Statt Wochen auf Pferden zu verbringen, war eine Reise in wenigen Tagen möglich - auch wenn die Züge anfangs nur tagsüber unterwegs waren.

Auf bis zu 1.467 Meter windet sich die eingleisige Strecke durch Schluchten, Tunnel und über Viadukte hinauf und folgt dabei der uralten Handelsstraße nahe der Kilikischen Pforte, wo schon Alexander der Große, Griechen und Römer vorbeizogen und wo im Juni 1190 Kaiser Friedrich Barbarossa während des Kreuzzugs nach Palästina beim Baden den Tod fand.

Früh am Morgen durcheilt der Zug die weite Ebene von Adana. Orangenplantagen links und rechts, es wird rasch wärmer. Die Verspätung beträgt jetzt vier Stunden.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte nicht nur Kaiser Wilhelm ausgespielt, auch die hochfliegenden Pläne von einer deutschen Kontrolle des Orients waren beendet. Der türkische Teil der Bagdadbahn wurde 1928 Staatsbesitz Ankaras. 440 Millionen Schweizer Franken betrug der Preis, zahlbar in Raten bis zum Jahr 2002. Doch von 1944 an stellte die Türkei alle Zahlungen ein. Die Anatolische Eisenbahn-Gesellschaft blieb auf Kosten in Höhe von 35 Millionen Franken sitzen.

In acht Tagen von Berlin nach Bagdad

Der Südosten des Osmanischen Reichs kam nach Kriegsende unter die Kontrolle Großbritanniens (Irak, Palästina) bzw. Frankreichs (Syrien). Noch war das Flugzeug keine ernsthafte Konkurrenz. Die Compagnie Internationale des Wagons-Lits konnte also auf einen Erfolg für einen Luxuszug von Istanbul in den Orient hoffen.

"London-Bagdad in acht Tagen mit dem Simplon-Orient Express & dem Taurus-Express" warb 1931 ein Plakat der Gesellschaft, das zugleich "Sicherheit, Schnelligkeit, Wirtschaftlichkeit" versprach. Das war sensationell.

Der heutige Toros-Express durchfährt die fruchtbare Tiefebene von Adana, vorbei an Dörfern, Autobahnen und der Kreuzritterburg Toprak Kalesie, die auf einem Hügel thront.

Dem Schaffner ist der Kaffee ausgegangen, den Passagieren der Gesprächsstoff. Weiter geht es hinauf in das dicht bewaldete Amanusgebirge. Eine wunderschöne Landschaft für denjenigen, der jetzt noch schöne Landschaften sehen möchte. Langsam durchkriecht der Zug Tunnel um Tunnel. Es ist längst Mittag geworden, und eigentlich müssten wir jetzt schon kurz vor Aleppo in Syrien sein. Man kann es mit der Entschleunigung auch übertreiben, ist die übereinstimmende Meinung im Wagen Nummer 6.

Irgendwann hat der Zug das Gebirge überwunden und erreicht eine nahezu vegetationslose Hochebene und mit ihr endlich den Bahnhof von Fevzipasa. Hier trennen sich die Strecken für die vielen Wagen in Richtung Gaziantep und unseren einen angerosteten Waggon nach Syrien auf der alten Bagdadbahn. An diesen wird eine endlose Reihe Güterwagen angekoppelt, und weiter geht's ins nur wenige Kilometer entfernte Islahiye.

Streckenführung mit Lücken

Die durchgehende Bahnverbindung von Istanbul bis nach Bagdad wurde erst im Jahre 1940 fertig gestellt. Vier Tage dauerte die komplette Reise in den neuen, stählernen Schlafwagen. Kairo hingegen hat nie ein Zug aus Europa erreicht.

Im Zweiten Weltkrieg erbauten britische Truppen zwar die fehlende Verbindung zwischen dem libanesischen Beirut und Haifa in Palästina. Doch noch bevor die Gleise verlegt waren, sprengten Angehörige der jüdischen Haganah im Kampf für die Unabhängigkeit Israels einen Tunnel nahe der heutigen Grenze zum Libanon in die Luft.

Nach dem Krieg blieb die Grenze zwischen beiden Staaten hermetisch geschlossen - bis heute. Kein Bedarf für einen Luxuszug. Und auch der alte, luxuriöse Taurus-Express verschwand im Zweiten Weltkrieg für immer von den Schienen. Er fiel umstandslos der Beschleunigung des Reiseverkehrs durch das Flugzeug zum Opfer.

Ankunft in Aleppo

Türkische Soldaten, die im Gang unseres Schlafwagens stehen müssen, begleiten den Zug auf den letzten Kilometern bis zur syrischen Grenze. Der Express fährt nur noch im Schritttempo.

Dann tauchen in der kargen Steppenlandschaft Zäune und Wachtürme auf. Kurz darauf läuft der Toros-Express nach nunmehr 30-stündiger Fahrt im syrischen Maydan Ikbis ein. Wieder ein deutsches Bahnhofsgebäude mit schindelgedecktem Dach. Pässe werden eingesammelt. Die Fernreisenden sind privilegiert und dürfen im Zug sitzen bleiben.

Es dauert rund eine Stunde, bis der Zug wieder anruckt. Die Dunkelheit bricht herein. Das Schotterbett unter den alten Gleisen der Bagdadbahn ist fast verschwunden, und so schwankt der Toros-Express auf der kurvenreichen Strecke nach links und rechts wie ein Schiff bei schwerem Seegang. Richtung Aleppo.

Um halb sieben Uhr tauchen viele Lichter auf. Es ist 19.30 Uhr, als der Zug, inzwischen nur noch aus einem einzigen Wagen und dafür gleich zwei Lokomotiven bestehend, quietschend im Hauptbahnhof von Aleppo hält. 34 Stunden, 30 Minuten für fast 1.500 Kilometer, immerhin 30 Minuten weniger als im Jahre 1939.

Aber dafür hat es während der gesamten Reise nicht eine einzige Fahrkartenkontrolle gegeben.

Klaus Hillenbrand

© die tageszeitung 2005

Qantara.de

Dossier: Reisen durch Jahrhunderte und Kontinente
Abenteuerlust, Wissensdrang oder Exotik – all das können Gründe für eine Reise in ferne Länder sein. Schon immer brachen Frauen und Männer in den Orient oder nach Europa auf. Der eine fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt, der andere entdeckt seine Liebe zum Unbekannten.