Arabischer Frühling

Der ägyptische Schriftsteller Khaled Al-Khamissi, der mit seinem Roman "Im Taxi" die Revolution vom 25. Januar literarisch vorweggenommen hat, und der renommierte Autor und Literaturkritiker Stefan Weidner debattieren über die Revolution am Nil und die Auswirkungen auf andere arabische Staaten der Region.

Von Khaled Al-Khamissi und Stefan Weidner

Köln, 26. April 2011

Lieber Khaled Al-Khamissi,

Stefan Weidner

​​wie sehr ich mich über die Gelegenheit freue, Dir auf diesem Weg schreiben zu dürfen! Es gibt so viel zu erzählen, ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.

Vor allem anderen möchte ich Dir von der Begeisterung und Sympathie erzählen, mit der ich und viele meiner deutschen und arabischen Freunde die ägyptische Revolution verfolgt haben! Nicht zuletzt war Eure Revolution auch eine Revolution gegen unsere Vorurteile und unsere selbstgefällige Bequemlichkeit, das heißt gegen den Opportunismus des Westens im Umgang mit der arabischen Welt.

Eure Revolution war auch eine gegen die Lüge, dass die Araber an der Demokratie nicht interessiert seien, dass sie den Despotismus willig erdulden. Immer wieder waren nämlich solche Urteile in den Medien zu laut geworden; auch Leute, die man für klüger gehalten hatte, äußerten sie: Professoren, Historiker, angesehene Journalisten. Jetzt habt Ihr es Ihnen gezeigt! Bravo! Und ich glaube: wenn heute jemand die sogenannten westlichen Werte verteidigt, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, dann sind es die arabischen Völker, die sich gegen ihre vom Westen unterstützten oder zumindest allzu lange geduldeten Despoten erheben.

Mich würde daher sehr interessieren, welche Haltung, welches Engagement sich die arabischen Intellektuellen, ja auch die einfachen Menschen von uns im Westen erhoffen. Es ist ja objektiv gesehen wirklich schwierig, sich eine klare Meinung zu Ereignissen zu bilden, an denen man nicht direkt teil hat, und daraufhin schwerwiegende, viele Entscheidungen zu treffen.

Nehmen wir das Beispiel Libyen. Ich war, anders als die deutsche Regierung, von Anfang an für den Militäreinsatz in Libyen, für die Flugverbotszone und die Bekämpfung Gaddafis und seiner Milizen. Ich bin überzeugt, dass er keinen breiten Rückhalt in der Bevölkerung hat und dass es ein Segen für die Region wäre, wenn er verschwinden würde.

Aber dasselbe gilt natürlich auch für andere Diktatoren, gegen die sich Widerstand regt und die auf ihr Volk schießen, jetzt zum Beispiel in Syrien. Nur was sollen wir tun? Ich bin überzeugt: Um zu wissen, wo wir etwas tun müssen, wo es sinnvoll ist, einzugreifen oder nicht, müssen wir eng mit Euch zusammenarbeiten, uns austauschen, diskutieren. Ich glaube nicht mehr an einseitige Entscheidungen oder auch nur einseitige Meinungsbildung. Ich glaube auch nicht, dass einer ohne den anderen auskommen kann.

Und während ich das schreibe, heute, Dienstag, 26. April, sehe ich auf al-Jazeera die Nachrichten aus Deraa in Syrien, eine Stadt, die von syrischen Soldaten belagert wird wie von einer Kolonialmacht, wie von den Osmanen im Ersten Weltkrieg, als die arabische Armee von Emir Faisal Deraa von der türkischen Herrschaft befreite, eine Geschichte, die später auch Lawrence von Arabien erzählt hat. Aber es gibt jetzt keine vereinigte arabische Armee und auch keinen Lawrence (und besonders letzteres vielleicht gut so!).

Trotzdem kommt es mir vor, als ob sich viele arabische Regierungen gegenüber ihrem Volk wie eine Kolonialmacht benehmen (und die Unterstützung der meisten dieser Regierungen durch den Westen spricht für diese Vermutung). Eure Revolutionen sind eine Art zweiter, hoffentlich endgültiger Dekolonialisierung. Erst jetzt, glaube ich, zieht ihr wirklich einen Schlussstrich unter die Fremdherrschaft.

Doch ich will gar nicht nur über Politik reden. In Wahrheit rede ich viel lieber über Literatur: Was für ein verrückter Zufall, dass Dein Buch "Im Taxi" ausgerechnet in diesem Februar auf Deutsch erschienen ist! Es ist wirklich das Buch zur Revolution, auch wenn es schon vorher geschrieben wurde. Warum es das Buch zur Revolution ist? Weil jeder Deutsche, der wissen will, warum die Ägypter ihren Präsidenten-Diktator gestürzt haben, nur Dein Buch lesen muss, um alles zu verstehen. Man versteht dadurch mehr als durch alle Reportagen, Fernsehberichte, etc. Damit leistet dein Buch das Großartigste, was Literatur leisten kann, es erklärt uns die Welt, die Welt aus einer Perspektive, wie wir sie vorher nicht gekannt haben.

Etwas anderes, das mir daran gefällt, ist der "erweiterte" Begriff von Literatur. Das heißt, in Deinem Buch ist Literatur ist nicht nur einfach Fiktion – sondern sie ist zugleich Fiktion und Dokumentation. Und sie ist vielstimmig: Nicht nur der Autor spricht, sondern auch die Taxifahrer und andere. Die Mischung von beidem ist es, die das Buch so großartig macht. Ich meine aber auch, dass es ein großer Irrtum vieler Leser und besonders der Kritiker ist, wenn sie Dein Buch lesen, als ob es einfach nur Interviews mit Taxifahrern enthält.

Ich glaube, es enthält auch sehr viel von Dir und Deinen Gedanken. Ich könnte auch sagen: Von Deiner Weisheit, von Deinen politischen Einsichten, von Deiner Analyse. Ich habe das auch in meiner Besprechung deines Buchs in der "Süddeutschen Zeitung" vom 17. Februar geschrieben. Du wirst sie in der kommenden Nummer meiner Zeitschrift Fikrun wa Fann im Juni auf Arabisch nachlesen können.

Voller Neugier auf Deine Antwort grüßt Dich herzlichst nach Kairo!

Dein

Stefan Weidner

 

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Kairo, 8. Mai 2011

Lieber Stefan Weidner,

Khaled Al-Khamissi

​​viele Ägypter haben "den Westen" über Jahrzehnte als Feind betrachtet. Mit dem Westen meine ich die USA und die europäischen Kolonialstaaten wie England und Frankreich, aber man könnte auch Deutschland nennen, weil es so bedingungslos für Israel Partei ergreift. Diese Ablehnung ging einher mit einer noch tiefer verwurzelten Abneigung, nämlich dem Hass der Ägypter auf ihre Regierung. Seit der Niederlage im Junikrieg von 1967 begann eine Entfremdung der ägyptischen Bevölkerung vom politischen Projekt, und dieses Gefühl wuchs mit der Politik der wirtschaftlichen Öffnung, die Sadat 1974 begann.

Gleichzeitig begann die organisierte Plünderung der ägyptischen und der arabischen Ressourcen. Während das Volk in einem Tal der Dürre und Hitze zubrachte, lebten die Regierung und eine Bande von Geschäftsleuten in einem Tal des Wohlstandes, gekühlt von amerikanischen Klimaanlagen. Ich glaube, dass einer der Gründe für die feindliche Haltung dem Westen gegenüber aber auch der war, dass wir begriffen, dass der Westen sich selbst genügte und anderen hochmütig gegenübertrat und dabei vergaß, dass Geschichte etwas Zyklisches ist: Einmal schafft man Wissen und Kultur, ein anderes Mal konsumiert man beides.

Ich gebe dir Recht, lieber Stefan, dass es vor der Revolution ein Gefühl gab, dass wir von den USA besetzt sind und dass die ägyptische Regierung mit dieser Besatzung kollaboriert und deren finanzielle und strategische Interessen in der Region bedient, um dafür im Gegenzug Milliardenbeträge zu kassieren.

Dieses amerikanisch-europäisch-arabische Projekt zur umfassenden Plünderung und Zerstörung finanzierte und unterstützte zudem das Projekt eines weltweiten politischen Islam, während es das revolutionäre Projekt eines arabischen Säkularismus bekämpfte (seit Mitte der siebziger Jahre; aus Gründen, die auszuführen hier nicht der Ort ist). Dies war so intelligent geplant, dass die Angriffe gegen das säkulare arabische Projekt es schafften, dieses weitgehend zu untergraben. Das säkulare Kulturprojekt, von dem ich spreche, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Ägypten begonnen und ein knappes Jahrhundert überdauert.

Die Haltung Europas, die die Kleptokratien und damit auch die politische Islamisierung unterstützt hat, hat zu einer zwiespältigen Haltung vieler ägyptischer Intellektueller gegenüber Europa geführt. Einerseits begreifen wir, dass die Zukunft der Menschheit und der Erde davon abhängt, dass wir gegen Regime zusammenstehen, die sich zu Komplizen der Dummheit, der Kurzsichtigkeit und der Gier der multinationalen Konzerne machen. Andererseits sehen wir, dass diese Regime eine nie dagewesene Macht haben, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Berlusconi ist das beste Beispiel dafür, wie tief ein demokratisches System sinken kann.

Die arabischen Revolutionen, die wir heute erleben, ereignen sich nicht deshalb, weil das Maß voll ist, sondern weil unser kulturelles Projekt sich wieder erholt hat und der Staatsbürger in jedem Einzelnen wieder erwacht. Dies paart sich mit einem weltweiten Gefühl, dass die Erde durch ein und dasselbe koloniale Projekt bedroht ist. Nicht durch jenen Kolonialismus, der einst die Afrikaner versklavt und die Indianer vernichtet oder den "rückständigen" Völkern die katholische Religion aufgezwungen hat, sondern durch einen Kolonialismus, der die ganze Menschheit bedroht, indem er den Planeten zerstört, auf dem wir leben.

Was also müssen wir tun? Ich denke, wir sollten die Werte von Rationalität und Vernunft hochhalten, die Werte von Kultur und Wissenschaft, und dabei sollten wir auch beleuchten, welch billige "Kultur" – ebenso wie die Medien – daran beteiligt ist, die Reichen zu stützen. Dabei sollten wir sehr selbstkritisch sein.

Die arabischen Revolutionen haben die Möglichkeit eröffnet, wieder Freundschaft mit Europa und der ganzen Welt zu schließen. Wir können eine neue Seite der Menschheitsgeschichte aufschlagen und uns über die Phase der Bedrücktheit – der Ausblutung des Planeten und unser arabischer Ressourcen – erheben, indem wir den Sumpf der Vergangenheit verlassen und neues Terrain beschreiten.

Lieber Stefan Weidner, du schriebst in deinem Brief von denen, die die sogenannten westlichen Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verteidigen. Ich würde dich meinerseits gerne fragen: Sind Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie und Liberalismus deiner Ansicht nach westliche bzw. europäische Werte? Ist der Roman die europäische Form kreativen Schreibens? Was meinst du?

Ich glaube, dass dem nicht so ist. Es ist nämlich schwierig, eine Idee bis an ihren Anfang zurückzuverfolgen, oder die Geburtsstunde eines Prinzips zu benennen. Der Dialog zwischen Menschen begann bereits in Urzeiten. Wie kann ich von Solidarität sprechen, ohne zuweilen in das alte Ägypten, zu Konfuzius oder das alte Babylon und andere frühe Zivilisationen zurückzublicken? Wie kann ich von der Form des Romans sprechen, ohne alle Prosatexte, die Menschen je geschrieben haben, zu betrachten? Wie können wir von Demokratie sprechen, ohne zu den Anfängen politischer Systeme, Gedanken und Prinzipien zurückzugehen, zu Philosophen, die schon vor tausenden von Jahren ihre Ideen äußerten?

Auch du warst vor einer Million Jahren zweifellos ein Afrikaner, auch du bist beeinflusst von Ideen der arabisch-islamischen Zivilisation, denn ohne sie wäre Europa unvorstellbar, und ohne die Griechen gäbe es die islamische Kultur nicht, und ohne die alten Ägypter hätte es die Griechen nicht gegeben. Ich war meinerseits vielleicht vor 400 Jahren Deutscher. Ich glaube, dass wir viele dieser Begrifflichkeiten neu überdenken müssen. Dazu gehört auch die Bezeichnung "Middle East/Naher Osten", die für mich bedeutungslos ist und für deren Abschaffung ich bin.

Nun zu deiner Frage an mich: Was erwarten wir Ägypter vom Westen? Meine Antwort ist ganz einfach: Wir erwarten eine echte Kooperation mit der ägyptischen Zivilgesellschaft, die für eine Verbreitung von Kultur steht. Genau das versuchen kollaborierende arabische Regime zu verhindern, die vor den Revolutionen zittern, weil diese ihr Bestehen gefährden. Sie geben riesige Beträge dafür aus, unsere einfachen Träume und die ägyptische Kultur zu zerstören und um vorgeschichtliche Ideen zu verbreiten. Wir werden unsererseits hier unserer Aufgabe nachkommen. Ich glaube wirklich, dass wir heute alle zusammenarbeiten müssen, um ein neues Kapitel zu beginnen.

In aller Sympathie,

Khaled al-Khamissi

 

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Istanbul, 19.5.2011

Lieber Khaled,

Stefan Weidner

​​herzlichen Dank für Deine ausführliche und vorbehaltlos offene Antwort auf meinen Brief, auf meine Fragen! Deine Post erreicht mich in Istanbul, wo ich mich die nächsten drei Wochen aufhalten werde. Ich versuche hier, ein altes Herzensprojekt von mir voranzutreiben, für das ich bis jetzt nie wirklich Zeit hatte: die türkische, vor allem die ältere türkische Dichtung dem deutschen Publikum in einer Übersetzung vorzustellen - also die Dichtung aus der osmanischen Zeit. Ich weiß nicht, ob Du die Türkei kennst. Sie ist ein sehr spannendes, aufregendes Land. Aber sie ist auch ein sehr zerrissenes Land. Oder vielleicht darf ich sagen: ein gebrochenes Land.

Ich schreibe diese Sätze und denke: Was für ein Unsinn! In Wahrheit ist nämlich jedes Land gebrochen, allen voran Deutschland, aber natürlich auch Frankreich, die USA, Russland - alle. Der Grund dafür ist in dem zu suchen, was Du auch in Deinem Brief andeutest: Es gibt im ursprünglichen Sinn keine "Länder", eine Nationen mehr. Der Grund liegt nicht nur, ja nicht einmal vor allem in der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Globalisierung, von der alle reden. Globalisierung ist nur ein Modebegriff.

Ich glaube, der eigentliche Grund liegt darin, dass der Begriff der Nation, der Nationalität, des (ethnisch, sprachlich und religiös homogenen) Volkes und Staates immer schon unsinnig war. Anders als die Idee von Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte war die Nationalitätsidee ja wirklich eine europäische, und zwar meines Erachtens eine der schrecklichsten europäischen Ideen. Diese Idee war etwa 200 Jahre lang sehr in Mode und hat, von Europa ausgehend, die Welt gezeichnet (in diesem Doppelsinn, den das Wort "zeichnen" im Deutschen haben kann: als Bild ("rasm") und als Verletzung). Viele unserer gegenwärtigen Konflikte beruhen auf den unsinnigen Grenzen, die die Kolonialmächte gezogen haben, zwischen Afghanistan und Pakistan zum Beispiel, zwischen Pakistan und Indien, in der arabischen Welt, auf dem Balkan, in Palästina.

Wir werden im 21. Jahrhundert lernen müssen, die Idee der Freiheit der Völker ohne Volk zu denken. Und die Idee der Demokratie ohne ein eng definiertes "Demos", das heißt ohne ein Volk, das ethnisch, sprachlich oder religiös definiert ist. Dass wir dies lernen müssen, heißt aber auch, zuzugestehen, dass es gar nicht so einfach ist, uns auf diese Weise neu zu denken. Wir sind es nicht gewohnt. Und wir haben vielleicht Angst vor dem, was danach kommt. Wenn die Intellektuellen überhaupt noch eine Aufgabe haben, die ihnen die Massenmedien nicht abnehmen, dann dies: dem Menschen einen geistigen Ort zu finden, ohne ihn auf Religion, Ethnie und Sprache zu beschränken.

Zurück also zu meinem Projekt mit der osmanischen Dichtung. Die osmanische Dichtung ist (wie übrigens die meiste bessere Literatur) in gewisser Hinsicht eine Dichtung, die dem Menschen einen geistigen Ort gibt, ohne ihn religiös, sprachlich oder ethnisch festzulegen. Die osmanische Sprache selbst ist ja (genauso wie viele andere Sprachen auch) nichts anderes gewesen als eine Synthese aus vielen anderen Sprachen, besonders des Arabischen, Persischen und Türkischen. Auch die türkische Sprache von heute, obwohl die türkischen Nationalisten das gern leugnen, hat noch sehr viele arabische und persische Elemente.

Gestern hat es hier stark geregnet, und urplötzlich standen an jeder Straßenecke die Regenschirmverkäufer. Und weißt Du, was sie gerufen haben? "Schamsiya, Schamsiya!" Nichts anderes also als das bis heute gängige arabische Wort für Regenschirm. Wobei, wie ich für unsere deutschen Leser erklären muss, daran besonders lustig ist, dass in diesem arabischen Wort für Regenschirm das Wort "Sonne" steckt, und ursprünglich wohl ein Sonnenschirm gemeint war.

Von all dem wissen die heutigen Türken nichts mehr, weil sie mit der Abschaffung des arabischen Alphabets 1928 von ihren kulturellen Wurzeln abgeschnitten worden sind. Stell Dir vor: Kaum ein Türke kann noch die Schrift lesen, in der alle klassischen Werke der türkisch-osmanischen Literatur geschrieben worden sind! Und mehr noch: Selbst wenn diese Werke heute in lateinischer Schrift neu gedruckt werden, kann sie trotzdem nur der Spezialist lesen, weil Atatürk eine Art sprachlichen Holocaust veranstaltet hat, indem der versuchte, alle möglichen arabischen und persischen Wörter durch vermeintlich original-türkische zu ersetzen. Das Wort "Schamsiya" beweist, dass es ihm nicht gelungen ist. Es ist ihm nur gelungen, dass die Türken vergessen haben, woher das Wort kommt und was es eigentlich heißt. Deswegen haben die Türken bis heute eine gebrochene nationale Identität, genauso wie wir Deutschen und wahrscheinlich auch die Ägypter. Und ich sage: Zum Glück ist das so!

Wenn Du oder unsere Leser mich aber jetzt fragen, was denn dieser alternative geistige Ort sei, den die osmanische Dichtung uns vermittelt, so kann ich eine klare Antwort darauf geben, obwohl es vielleicht etwas kitschig klingt: Die Liebe! Die Liebe, begriffen nicht allein als Zuneigung zu einem anderen Menschen, als Anbetung eines anderen Menschen - sondern die Liebe als Zustand, der eine Verehrung oder Anbetung des ganzes Seins, der ganzen diesseitigen und jenseitigen Existenz ermöglicht. Es handelt sich fast um einen religiösen Zustand, aber ein religiöser Zustand ohne konfessionelle Bindung, ohne Beschränkung auf eine bestimmte Religion, einen bestimmten Gott, einen bestimmten Ritus, ein Zustand also, der sehr nah ist an der Ekstase der Mystiker; ein Zustand aber auch, von dem ich, Mensch, selbst der nüchternste, wenigstens eine Ahnung hat.

Auf keinen Fall, lieber Khaled al-Khamissi, würde ich vor diesem Hintergrund die Literatur als national oder geographisch gebunden betrachten. James Joyce war Europäer und Tausendundeine Nacht wurde im Orient geschrieben. Aber was wäre James Joyce ohne die europäische Literatur vor ihm! Und was wäre die europäische Literatur vor ihm ohne "Tausendundeine Nacht"? Oder ohne Homer, der, nach dem engstirnigen heutigen Verständnis von Nation, gar kein Grieche, sondern ein Türke wäre! Und was wäre Homer ohne das alt-babylonische Epos von Gilgamesh? Wenn die Weltliteratur überhaupt einen Anfang hat, dann hat sie ihn, von heute aus gesehen, im Irak und im alten Ägypten!

Doch kurz noch einmal zurück zur Rolle der Intellektuellen. Müssen wir uns nicht mit unserer Machtlosigkeit arrangieren, angesichts der Entwicklungen, die du schilderst und die wir, als Leute des Worts, der Zeichen, der Symbole, gar nicht direkt beeinflussen können? Ich habe das Gefühl, dass wir geradezu gezwungen sind, unserer Zeit immer einen Schritt voraus zu sein (so wie du es mit deinem Buch warst).

In der Zeit selbst, in der Gegenwart, in der Aktualität, bekommen wir immer nur unsere eigene Machtlosigkeit zu spüren, mit dem Ergebnis, dass wir entweder frustriert werden oder uns radikalisieren. Die Literatur, oder die Kunst allgemein, ermöglicht einen Sprung aus der eigenen Zeit hinaus in ein anderes Bewusstsein. Ob dieses Bewusstsein ein vergangenes oder ein kommendes ist, das ist gleichgültig, weil sich im Vergangenen immer auch etwas findet, was sich für das Kommende fruchtbar machen lässt, wie in dem Beispiel von der osmanischen Dichtung.

Das alles heißt natürlich nicht, dass wir nichts tun und uns nicht für die Gegenwart engagieren sollten. Gerade gestern habe ich eine Petition für die Solidarität mit der syrischen Protestbewegung unterschrieben. Aber für die eigentliche, tiefere Bewusstseinsveränderung, werden wir, wie man im Deutschen so sagt, einen sehr 'langen Atem' brauchen.

Mit freundschaftlichen Grüßen aus einem immer noch verregneten, immer noch von "Schamsiya, Schamsiya" rufenden Verkäufern wimmelnden Istanbul.

Dein Stefan

 

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Kairo, 18.6.2011


Lieber Stefan Weidner,

Khaled Al-Khamissi

​​heute hätte ich einen Sonnenschirm wirklich nötig gehabt! Die Sonne Kairos hat sich selbst übertroffen; sie blies uns heißere Luft ins Gesicht, als das ein guter deutscher Fön könnte! Die Welt verwandelte sich in ein kleines Stück Fleisch, das mit der Energie eines Föns in Megawattstärke bestrahlt wird. Ich hielt Ausschau nach jemandem, der vielleicht auch "Schirme, Schirme" gerufen hätte, aber leider gibt es in Kairo keine Schirmverkäufer. Wir sind es gewohnt, hart zu uns selbst zu sein und auch das zu ertragen, was über unsere Kräfte geht und fragen dann noch: Bekommen wir noch mehr? Wir haben immer über uns selbst gescherzt, dass wir eine Sucht danach entwickelt hätten, uns selbst zu quälen, aber nachdem wir eine Revolution zustande gebracht und uns bewiesen haben, dass wir die, die uns quälen, zu stürzen imstande sind, hatten diese Witze aufgehört.

Mit Interesse habe ich von deiner Beschäftigung mit osmanischer Dichtung gelesen. Auch ich liebe Dichtung, sie ist mir tägliche Nahrung, und ihre Musik gibt meinem Leben den Rhythmus vor. Aber dieser Tage ist mir überhaupt nicht nach Poesie zumute. Ich bin fast nicht in der Lage, mir Musik anzuhören. Meine Seele ängstigt sich vor dem Geschrei um mich herum.

Demagogische Rhetorik dominiert im Moment alles andere in der ägyptischen Gesellschaft, obwohl ich überzeugt bin, dass die Errungenschaften unserer Revolution nicht rückgängig gemacht werden können und dass ein neues menschliches System aus all den Trümmern erstehen wird. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Demagogie und brennender Sonne? Müsste man darüber nachdenken? Selbst zum Nachdenken bin ich nicht in der Lage. Wir erleben jetzt einerseits etwas, was wir uns immer erhofft hatten: eine Massenkultur, eine Konsumkultur, die Teilhabe großer Teile der ägyptischen Gesellschaft am Bildungssystem.

Das ist wunderbar, aber wirklich lernen tun sie nicht. Dann erlebten wir das Aufkommen der Globalisierung, und den Aufstieg großer Teile der Unterschicht in die Mittelschicht, so dass eine populistische Kultur herrschte, als die Revolution der Informationstechnologie in der arabischen Welt zeitgleich mit einer Bevölkerungsexplosion stattfand.

Auch über "Freizeit" ist zu sprechen. Das Scheitern der Wirtschafts- und Sozialpolitik führte dazu, dass eine halbgebildete, halbländliche neue Generation sich im Schoß des Datenzeitalters wiederfand und aus allen Richtungen mit Bildern überschwemmt wurde. Da eine Arbeitsaufnahme im Ausland kaum noch möglich war und Arbeitsplätze in Ägypten selbst fast nicht vorhanden waren, widmeten sie sich dem einzigen, was ihnen zur Verfügung stand: dem Cyberspace, in dem man sich wenigstens ausdrücken konnte. Zum ersten Mal erlebten sie die Freiheit, schreiben zu können, was sie wollten, wenn auch aufgrund ihrer blutarmen Bildung mit unbeholfenen Worten. Keine Macht stellte sich ihnen hier entgegen. Interaktionen verlaufen im Zeitalter der Globalisierung horizontal, nicht vertikal.

Die ägyptische Revolution brach ohne Führung und ohne bestimmte Ideologie aus. Einer unserer Autoren formulierte es so: Es war eine Revolution, die unverfälscht eine postmoderne Welt zum Ausdruck brachte. Es gibt eine Bewegung, die vom Tod des Autoren spricht, und in ähnlicher Weise war die ägyptische Revolution eine Revolution, die ohne Führung auskam. Und weil die postmoderne Welt vorgefertigte Ideologien ablehnt, hatte die ägyptische Revolution auch keine bestimmte Ideologie und beschränkte sich auf allgemeine Forderungen, die dennoch Millionen von Menschen bewegten.

Ich komme zurück auf deine Frage nach der Rolle der Intellektuellen in der heutigen ägyptischen Gesellschaft. Sie spielen zweifellos eine entscheidende Rolle, aber ihre Stimme scheint mir unterzugehen. Ich zitiere Brecht, der sagte: "Morgen werden sie nicht sagen: Es war eine schwere Zeit, sondern sie werden fragen: Warum haben die Dichter geschwiegen?" Unsere Dichter haben nicht geschwiegen, aber sie befinden sich am Bildrand. Aber heißt das, dass sie unwichtig sind, oder wählen wir uns selbst bewusst den Rand, von wo aus wir den anderen die Laune verderben?

Die Schlacht um ein neues politisches System in Ägypten hat begonnen, und unser Angstgeschrei ist immer lauter zu hören als unsere Träume. Geschrei macht aber nicht weniger blind als eine gleißende Sonne. Wenn du also einen Sonnenschirm in Istanbul findest, dann schick ihn uns doch bitte. Vielleicht schützt er uns ein wenig vor Demagogie und Geschrei. Lügen, hässliche Pressekampagnen, die Armee und reaktionäre islamische Strömungen verbreiten einen Diskurs, dem es an jeder vernünftigen und rationalen Grundlage mangelt und der sich wie gewohnt mit glanzvollen, aber sinnlosen Parolen begnügt.

Dem gegenüber steht eine revolutionäre Kraft, der es an Reife fehlt und die sich der Lügenpresse, dem Militär und reaktionären islamischen und christlichen Strömungen anbiedert, weil sie glaubt, dadurch an Popularität zu gewinnen. Die echten Intellektuellen bewegen sich nur langsam. Wir brauchen eine neue Revolution - und ich brauche eine Poesie, die mir eine menschliche Zuflucht bietet.

Khaled al-Khamissi

Aus dem Arabischen von Günther Orth



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Köln, 25.6.2011

Lieber Khalid,

Stefan Weidner

​​ich würde Dir natürlich sehr gern meinen Regenschirm schicken, aber leider bin ich jetzt wieder in Köln, und hier regnet es Gießkannen; das heißt, ich brauche den Schirm genauso dringend wie du, nur für den umgekehrten Zweck. Wenn ich könnte, würde ich dir am liebsten die Regenwolken selbst rüberschicken, das würde Dir und mir mehr nützen als der beste Schirm. Aber Achtung: Vielleicht wisst Ihr es noch nicht, doch die Hitze in Eurem Land ist bares Geld wert! Wir, ja unsere ganze Wirtschaft, hat schon ein Auge auf Eure Sonne geworfen, und bald wird sie so begehrt sein wie das arabische Öl.

Du glaubst mir nicht? Der Beweis sind erstens die sonnenhungrigen Touristen, die wegen dem, worüber du klagst, in Euer Land kommen; und zweitens der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, der gegenwärtig sehr viel zu tun hat, weil er den Euro vor den Griechen retten muss, die damit zu verschwenderisch umgegangen sind und nun sparen müssen, aber gleichzeitig ihre Wirtschaft ankurbeln sollen.

Laut Schäuble bestünde nun die beste Möglichkeit, die Griechen zu retten, darin, ihnen ihre Sonne abzukaufen. Das wäre zudem ein Akt der inner-europäischen Solidarität. Denn natürlich ist die griechische Euro-Sonne viel teurer als die ägyptische Pfund-Sonne, besonders jetzt, wo Eure Wirtschaft ebenfalls darnieder liegt. Dennoch redet Schäuble nur von der griechischen Sonne – ein krasser Fall von Eurozentrismus!

Damit die Geschichte verständlich wird, muss ich Dir jetzt nur noch erklären, wofür wir die südlichen Sonnen brauchen. Habt Ihr es mitbekommen? Wir sind aus der Atomkraft "ausgestiegen" (bzw. werden es in den nächsten zehn Jahren tun)! Im deutschen Wortlaut klingt das, als wäre die Atomkraft ein Zug oder ein Taxi, aus dem man aussteigt, und das dann ohne uns weiterfährt. Ungefähr so ist es ja auch. Die Deutschen sind draußen, alle anderen fahren damit weiter. Deshalb brauchen wir demnächst mehr Energie als die anderen, und diese Energie soll aus der griechischen Sonne kommen.

Genial, nicht wahr? Die Deutschen retten die Griechen und damit den Euro und damit Europa insgesamt, weil sie aus der Atomkraft aussteigen. Fast könnte man denken, sie stiegen nur um Europas Willen aus der Atomkraft aus. Die Wahrheit ist aber: Sie steigen aus, a) weil sie Angst haben b), weil sie klug sind.

Ganz ohne Ironie kann ich sagen, dass die Deutschen das gut gemacht haben. Sie haben im reinsten Wortsinn vernünftig gehandelt. Sie haben die Lektionen aus Tschernobyl und Fukujima verstanden. Man kann darüber spotten, so wie ich es hier getan habe, aber es ist echte utopische Politik, keine Realpolitik, die qua definitionem immer etwas Kurzsichtiges hat.
Interessanterweise ist es aber auch eine populistische Politik. Atomkraft ist hierzulande unpopulär, so unpopulär, dass wir bereit sind, einen hohen Preis dafür zu zahlen, um sie abzuschaffen und durch andere Energieformen zu ersetzen.

Ich glaube, es handelt sich hier um einen der seltenen Fälle, wo der Populismus nicht primitiv ist, wo eine populistische Politik keinen raschen, vordergründigen Vorteil verspricht (vielmehr einen kurzfristigen Nachteil), sondern idealistisch ist, auf die Zukunft gerichtet und die kommenden Generationen im Blick hat statt die Mäuler der gefräßigen Gegenwart.
Vielleicht ist so eine Politik nur in einem sehr satten, sehr reichen Land wie Deutschland möglich. Aber dass es überhaupt möglich ist, Populismus und Vernunft zu vereinen, macht vielleicht doch auch Hoffnung für die zukünftige Entwicklung in Ägypten, welches, wenn ich Dich recht verstehe, gegenwärtig so sehr im Griff eines allzu billigen, allzu kurzsichtigen Populismus ist.

Lieber Khalid, Du hattest mich um ein Gedicht gebeten. Hier ist eins, ein ganz kurzes nur, dass aber tatsächlich etwas mit unserem Thema zu tun hat, der Energieversorgung. Unglaublich, aber wahr: ein bewegendes Gedicht über

Kohle

Zuerst begruben uns riesige Berge
Tausend Jahre
Hunderttausend Jahre waren wir kein Wort wert
Dann suchten sie unsere Wärme.

Das Gedicht stammt von Fazıl Hüsnü Dağlarca (1914 – 2008), dem Großmeister der modernen türkischen Lyrik (und die schöne deutsche Übersetzung stammt von Nevfel Cumart). Es ist so klein und es sagt so viel. Wir alle sind diese Kohle: Die vergessenen Dichter, die eines Tages wiederentdeckt werden. Die unterdrückten Völker, die sich irgendwann befreien. Die Intellektuellen, die jetzt keiner hören will oder die früher keiner hören wollte, als sie vor der Atomkraft gewarnt haben. Und jetzt werden ihre Gedanken auf einmal populär…

Wie auch immer es sich damit verhält, das Gedicht spendet Trost, es selbst ist die Kohle, von der es redet: Man kann sich an ihm wärmen, und ich hoffe es gefällt Dir selbst in Deinem gegenwärtigen Zustand, in dem Du eher eine Klimaanlage als zusätzliche Hitze gebrauchen könntest.

Damit sind wir wieder beim Anfang, dem Wetter. Es gäbe noch vieles, das ich Dir schreiben wollte, aber ich habe Angst, dass mich unsere Leserinnen und Leser für eine furchtbare Plaudertasche halten, und warte lieber auf Deine Antwort.

Herzlich

Dein Stefan

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Khaled Al-Khamissi, geboren 1962 in Kairo, studierte Politikwissenschaften an der Universität Kairo und der Sorbonne. Er arbeitet als Journalist für diverse ägyptische Zeitungen. In seinem Erfolgsroman "Im Taxi" lässt er Taxifahrer aus Kairo zu Wort kommen, die die politischen Missstände des Mubarak-Regimes anprangern.

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, studierte Germanistik, Philosophie und Islamwissenschaft u.a. in Göttingen, Berkeley und Damaskus. Er arbeitet als Autor, Übersetzer, Literaturkritiker und ist Chefredakteur der Zeitschrift Fikrun wa Fann (Hg. Goethe-Institut).

Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de