Das Eldorado der algerischen "Harragas"

"Harragas" heißen im maghrebinischen Wortschatz Menschen, die ohne Fahrkarte und Visum die Landesgrenzen passieren. Neu ist zwar nicht das Phänomen der illegalen Migration in Nordafrika, wohl aber das Ziel dieser Grenzgänger, wie Hamid Skif berichtet.

Viele Jahre lang zogen junge Algerier in dem Bestreben, nach Europa zu gelangen, Richtung Marokko, überschritten illegal die seit 1994 geschlossene Grenze und versuchten dann, in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla vorzudringen – wenn sie nicht als blinde Passagiere auf Schiffe gingen, die nach Europa fuhren.

Bedingungen einer Odyssee

Der "Königsweg" bestand für diejenigen von ihnen, die noch am meisten vom Glück begünstigt waren, darin, bei sehr gut bezahlten Vermittlern Gefälligkeitsvisa für Länder wie Bulgarien, Polen oder Tschechien zu kaufen, um dann unter Bedingungen einer Odyssee, den Weg nach Westeuropa zu suchen.

Die Verschärfung der Kontrollen an der algerisch-marokkanischen Grenze, zu der es nach den blutigen Ereignissen in Ceuta und Melilla im Herbst 2005 kam, hat Hunderte junger Leute veranlasst, ihr Glück zu versuchen, indem sie sich vom Westen Algeriens auf Bootsfahrt in Richtung Spanien begaben.

Seit einigen Monaten ist nun Sardinien das neue Ziel der Emigranten. Es vergeht kein Tag, ohne dass die Presse über deren Versuche berichtet, die zu Italien gehörende Insel zu erreichen, die nun durch Mund-zu-Mund-Propaganda zum neuen Eldorado der Harragas avanciert ist.

Aber wie viele Flüchtlinge scheitern, verglichen mit solchen, denen die Überfahrt gelingt? Es gibt keine Zahlen, die das Ausmaß eines Phänomens verdeutlichen, das immer mehr um sich greift.

Lebensgefährliche Überfahrt

Den Küstenwachen fällt es schwer, diesen Versuchen Einhalt zu gebieten, bei denen viele ihr Leben lassen. Täglich berichten Fischer und Handelsschiffsbesatzungen von Harragas, deren kleine Wasserfahrzeuge auf dem offenen Meer havariert sind.

So kommt es vor, dass als blinde Passagiere überführte Harragas an Bord eines Frachters von der Besatzung auf offener See ins Wasser geworfen werden. Dies geschah zum Beispiel vor einigen Jahren auf einem ukrainischen Frachtschiff, gegen dessen Kapitän und Matrosen ein internationaler Haftbefehl erlassen wurde, der jedoch nie vollstreckt wurde.

Flaschenpost als Schicksalsbotschaft

Auch kommt es vor, dass manche Flüchtlinge in Flaschen eingeschlossene Nachrichten ins Meer werfen, um auf ihr tragisches Schicksal aufmerksam zu machen, bevor sie in den Fluten versinken.

Im März dieses Jahres haben die algerischen Behörden ein Dutzend Ägypter verhaftet, die ebenfalls versuchten, vom Hafen Annaba aus Sardinien zu erreichen.

Die Angelegenheit hat das Vorhandensein eines neuen Netzwerks enthüllt, das infolge der Verstärkung der Kontrollen rund um die Abfahrtsorte an der libyschen und tunesischen Küste entstanden ist, von denen aus die aus Afrika und dem Nahen Osten stammenden Überfahrtswilligen die Insel Lampedusa oder das italienische Festland zu erreichen suchten.

In Algerien werden verhaftete Harragas von den Gerichten wegen versuchter illegaler Einwanderung verurteilt. In Tunesien bringt die bloße Tatsache, dass man geplant hat, auf diese Weise das Land zu verlassen, die Urheber des Vorhabens ins Gefängnis.

Unfähigkeit der nordafrikanischen Regierungen

Die Ausweitung des Phänomens zeigt, wie unfähig die Regierungen der Länder des Maghrebs sind, die Probleme zu lösen, vor denen ihre Jugend steht. Arbeitslosigkeit, mangelnde Qualifikation und die zu einem endemischen Übel gewordene Korruption treiben die jüngere Generation dazu, alles aufs Spiel zu setzen, um in die erträumten Länder zu gelangen. Neu ist, dass sich unter den Abenteurern auch Frauen sowie viele Mädchen befinden.

Man hätte annehmen können, dass Algerien, dessen Staatseinnahmen aufgrund des Anstiegs des Erdölpreises enorm zugenommen haben, imstande sei, diese Tragödie zu beenden. Aber nichts dergleichen ist bisher geschehen. Täglich wird das Gerede von der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungen durch die bittere Realität, mit der die desillusionierte konfrontiert wird, Lügen gestraft.

Ratloses Europa

Die Europäische Union, die angesichts des Ausmaßes des Phänomens rat- und hilflos ist, hat unlängst die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe von 450 Grenzwächtern beschlossen, die dem massiven Zustrom dieser unerwünschten Immigranten unter Kontrolle bringen soll.

Spanien hat vom Tod von rund sechstausend Personen berichtet, die 2006 bei dem Versuch, die spanische Küste zu erreichen, ihr Leben verloren haben.

Dieses Drama, das der italienische Außenminister Massimo D'Alema als "Tragödie des 21. Jahrhunderts" bezeichnet hat, ist seit einigen Jahren Thema von Romanen und Filmen, durch die Autoren und Cineasten die Öffentlichkeit zu sensibilisieren versuchen, während die Regierungen auf beiden Seiten des Mittelmeers sich bemühen, Einigkeit in Bezug auf ihre jeweiligen Verantwortlichkeiten zu erzielen.

Hamid Skif

© Qantara.de 2007

Aus dem Französischen von Heribert Becker

Qantara.de

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