Kampf ums tägliche Brot

Sie schlafen auf Stroh, sind zu arm, um sich Schuhe zu leisten und ernähren sich nur von Brot: In "Hunger" beschreibt der ägyptische Romancier Muhammad al-Bissati den Armuts-Kosmos der kleinen Leute und ihr tägliches Ringen um Würde. Von Volker Kaminski

​​ In al-Bissatis Roman essen die armen Leute kaum etwas anderes als Brot. Selbst dieses Grundnahrungsmittel ist oft knapp und sie müssen tagelang hungern. Saghlul, ein junger Ehemann in einem ägyptischen Dorf, ist so arm, dass er sich zu seiner Hochzeit Schuhe borgen muss. Er ist es von klein auf gewohnt barfuß zu gehen, und als ihm seine Frau Sakina später neue "Schlappen" besorgt, hat er sie – ohne es zu merken – schon nach wenigen Tagen "irgendwo… vergessen".

Al-Bissati widmet sich in "Hunger" einem "erschreckend aktuellen" Problem, wie es in dem klugen und informativen Nachwort zum Roman heißt. Die "Hungerfrage" sei inzwischen nicht mehr nur in armen Ländern wie Ägypten brisant, sondern betreffe auch immer mehr "wohlhabende" Länder, in der die Zahl der Menschen wächst, "die arm – ohne Arbeit oder mit unzureichender Bezahlung – sind."

Obwohl der Hunger in Saghluls vierköpfiger Familie derart allgegenwärtig ist, dass die beiden Söhne manchmal Hungerkrämpfe leiden, wird darüber wenig geklagt. Die Situation mag schwierig sein, doch in Hoffnungslosigkeit versinken die Eheleute nicht. Vorübergehend findet Saghlul Arbeit als Kellner in einem Café, manchmal verdingt er sich als Stühleaufsteller in Kondolenzzelten, wo sich zu Begräbnissen Trauergäste einfinden.

Saghlul ist geschickt, und wenn er arbeiten will, findet er auch meist einen Job. Oft versinkt er jedoch in untätige Grübeleien, dann muss seine Familie hungern und nichts kann ihn aus seiner Apathie reißen. Die Verantwortung liegt dann allein in den Händen Sakinas, die all ihre Raffinesse aufbieten muss, um wieder an etwas Essbares zu gelangen.

Karge Sprache

Es sind diese elementaren Fragen des Überlebenskampfes, des täglichen Ringens um Würde, mit denen sich "Hunger" auf unverkrampfte, einfühlsame Weise beschäftigt. In einfacher, karger Sprache – passagenweise im Präsens, in weiten Teilen in wörtlicher Rede – wird das Leben der armen Bevölkerung auf dem Land dargestellt. Dabei gelingt es al-Bissati das Auf und Ab dieser Existenzen glaubhaft einzufangen.

Ägypterin trägt ein Tablett mit Brot während der Brotkrise im April 2008; Foto: AP
Im April 2008 erlebte Ägyptens arme Bevölkerung eine Ernährungskrise aufgrund einer Brotknappheit. Von dem billigen, staatlich subventionierten Grundnahrungsmittel hängt die Existenz von Millionen Menschen ab.

​​ Saghluls unsteter, doch gewinnender Charakter wirkt plastisch, man glaubt zu verstehen, woher sein Charme rührt, den nicht nur seine Frau verspürt, sondern auch – erstaunlicherweise – mancher reiche Dorfbewohner, von dem er vorübergehend als Diener eingestellt wird. Saghlul stellt sich Fragen nach Gott und der Welt, er belauscht Studenten bei ihren politischen Diskussionen und ist von ihrem Scharfsinn fasziniert.

Was zu der hohen Glaubwürdigkeit einer Figur wie der Saghluls beiträgt, ist das locker gestrickte Textgewebe, eine Erzählweise scheinbar ohne klare Zielvorgabe, was sich stellenweise wie ein Spiegelbild zu Saghluls Herumtreiberei ausnimmt, ein dauerndes Abschweifen, das aber doch immer wieder zurückfindet zum Ausgangspunkt.

Armuts-Kosmos der kleinen Leute

Dass Sakina realistischer und ehrgeiziger ist als ihr Mann, kommt der Familie zu Gute. Sie findet durch ihre Beharrlichkeit Arbeit in dem großen Haus gegenüber, das einem verwitweten alten Mann gehört. Sie erledigt seinen Haushalt, kocht, putzt und kauft ein.

Die Situation bessert sich, die vierköpfige Familie darf sogar in das Haus einziehen und in richtigen Betten schlafen und hat plötzlich ausreichend zu essen. Dieser Glückszustand ist jedoch nicht von Dauer und als der Eigentümer stirbt, endet diese Episode und die Familie muss wieder auf Stroh schlafen.

Es gibt viele interessante Episoden in dem schmalen Roman, die den Armuts-Kosmos der kleinen Leute widerspiegeln. So wird von Abduh, dem Bäckerangestellten, erzählt, der den Bedürftigen stets Backreste abgibt und Saghluls Sohn seine große Liebe zum Feuer gesteht. Die Flamme im Backofen sei seine Geliebte, mit deren Launen und Bedürfnissen er bestens vertraut sei und die ihm schon große Teile seines Körpers angesengt habe.

Ein gesamtgesellschaftliches Problem

Trotz seiner kritischen Erzählabsicht verzichtet al-Bissati auf jede moralische Anklage, und gerade dies macht seinen Roman so glaubwürdig. Er versteht es sich in die kleinen Leute hineinzuversetzen, er richtet den Blick auf ihre Gedanken, ihre Existenzprobleme und der stets drohenden sozialen Ächtung. Entstanden ist so ein höchst eigensinniges und originelles Gesellschaftsporträt "von unten".

Muhammad al-Bissati; Foto: &copy Lenos Verlag
Für sein gesamtes erzählerisches Werk wurde Muhammad al-Bissati im Jahr 2000 mit dem in Dubai verliehenen Sultan-Uwaiss-Preis, dem "arabischen Nobelpreis", ausgezeichnet.

​​Al-Bissati, geboren 1937 in Ägypten, ist ein in der arabischen Welt seit vielen Jahren bekannter Romanautor. Er hat mehrere große Preise erhalten. "Hunger" stand 2009 auf der Shortlist des arabischen Booker-Preises. In Frankreich sind bisher fünf Romane von ihm erschienen. Auf Deutsch erschien 2005 sein Roman "Häuser hinter den Bäumen" im Lenos Verlag.

Im Nachwort stellt der Übersetzer Hartmut Fähndrich "Hunger" in einen Zusammenhang mit bekannten Werken der Weltliteratur, die sich des gleichen Themas annahmen, beziehungsweise denselben Titel hatten, und weist darauf hin, inwiefern sich al-Bissatis Roman davon unterscheidet.

Al-Bissati gehe es um die Darstellung eines "gesamtgesellschaftlichen Problems", er habe "die Sehnsüchte der Menschen und ihre unerfüllten Wünsche" im Blick. Herausgekommen ist ein schlanker Roman mit packendem Sound.

Volker Kaminksi

© Qantara.de

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

"Hunger", Roman, Lenos Verlag, Basel, 2010

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