Bildung in der arabischen Welt

Es steht schlecht um Bildung und Forschung in den Staaten der arabischen Welt. Zu diesem Ergebnis kam der Bericht der Vereinten Nationen "über die menschliche Entwicklung in den arabischen Ländern". Von Reinhard Baumgarten

Es steht schlecht um Bildung und Forschung in den Staaten der arabischen Welt. Zu diesem Ergebnis kam der Bericht der Vereinten Nationen "über die menschliche Entwicklung in den arabischen Ländern". Zwischen Morgen- und Abendland klafft eine immer größer werdende Bildungslücke. Von Reinhard Baumgarten

Schulkinder in Bagdad, Foto: AP
Schulkinder in Bagdad

​​Schierer Mangel bestimmt vielerorts den Schulalltag in Ägypten, im Sudan, Marokko, dem Jemen und den meisten anderen arabischen Ländern. Die Defizite in Sachen Bildung und Erziehung in den arabischen Ländern sind groß, und sie werden wohl noch weiter zunehmen, sagt Nadir Fergani, federführender Autor der Studie "zur menschlichen Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten", die im vergangenen Herbst von der UN-Organisation für Entwicklung (United Nations Development Programme, UNDP) vorgelegt wurde.

Diese Defizite betreffen sowohl die Quantität als auch die Qualität der Bildungsangebote. Die arabischen Länder sind weit zurück, was die Wissensproduktion angeht. Gemessen an Patenten, an Forschungsarbeiten, an Erfindungen, technischen Innovationen oder Entwicklungen hinken die arabischen Staaten den entwickelten Ländern in Amerika, Europa und Asien weit hinterher, so Reema Huneidi vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.

Anstatt eigenes Wissen zu schaffen, stützten sich die Staaten der arabischen Welt stärker als die meisten Staaten anderer Weltregionen lediglich darauf, das Wissen anderer für sich zu nutzen. Die eigene Kreativität und Schaffenskraft komme dabei zu kurz.

Mittel zur Wissensvermittlung fehlen

Ägypten gebe pro Jahr und Schüler rund 170 Dollar aus, erklärt Hussein Baha'uddin. Dennoch, so der ägyptische Bildungsminister, könne sein Land vergleichsweise gute Ergebnisse vorweisen. Gerne nennen die Bildungspolitiker am Nil den ägyptischen Chemiker Ahmed Zuweil, der 1999 als erster und einziger Araber einen naturwissenschaftlichen Nobelpreis gewonnen hat.

Ganz zweifellos gibt es in der arabischen Welt jede Menge kluge Köpfe, unterstreicht Reema Huneidi. Aber das Talent und die Intelligenz von Wissenschaftlern und Forschern kämen ihren Heimatländern nur dann zugute, wenn das entsprechende Umfeld bestehe.

Für die wissenschaftliche Produktion bedürfe es der erforderlichen Mittel, es bedürfe institutioneller Unterstützung und politischer Verpflichtungen – das alles fehle, so Huneidi. "Du kannst die besten Wissenschaftler der Welt haben, aber das nützt nichts, wenn ihnen weder die nötigen Labors noch das Geld – mit einem Wort: die Mittel, um Wissen zu erzeugen, zur Verfügung stehen."

Es mangelt indes nicht allein am Geld. Wer Wissen schaffen will, der muss auch für das politische und gesellschaftliche Klima sorgen, in dem Wissen gedeihen kann. Neues Wissen ist nicht allein für Industrie und Technik von Belang. Neues Wissen lässt sich nicht nur in Euro und Cent bemessen, es lässt sich nicht immer gewinnbringend vermarkten.

Aber neues Wissen führt dazu, dass Gesellschaften sich weiter entwickeln und wandeln. Doch genau darin, meint Huneidi, besteht gegenwärtig eines der großen Hemmnisse der arabischen Länder, deren Regierungen mehrheitlich an den überkommenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen festhalten wollen.

Lieber auswendig lernen als denken

An den staatlichen Schulen der arabischen Länder wird konsequent Frontalunterricht erteilt: Der Lehrer präsentiert und erklärt, er formuliert Fragen und Antworten, er versorgt die Schüler mit dem, was sie lernen sollen. Wer nicht mitkommt, der bleibt auf der Strecke. Klassenstärken mit 50, 60, 70 oder mehr Schülern sind die Regel, nicht die Ausnahme.

Die Schüler agieren nicht, sie reagieren. Sie übernehmen das von den Lehrern angebotene Wissen eins zu eins. Und wer als Schüler nicht lernt, selbstständig zu arbeiten, der wird diese Kunst später an der Universität oder im Beruf kaum beherrschen.

Michael von Gagern, zuständig für die Einhaltung der Qualitätsstandards an der im Oktober vergangenen Jahres eröffneten "German University" in Kairo, hat festgestellt, dass sich ägyptische Studenten sehr stark an das halten, was im Buch steht und was der Professor sagt. "Am liebsten würden sie es auf Kassette aufnehmen, auswendig lernen und dann in der Prüfung wiedergeben."

Tatsächlich, so Naguib Sawiris, Absolvent der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo, finde an staatlichen Schulen keine Vermittlung von inhaltlichem Denken, Textanalyse und Textinterpretation statt. Es gehe, so der Chef der Orascom-Telecom Gruppe mit mehr als 10.000 Beschäftigten weltweit, um "reine Auswendiglernerei, nicht ums Denken".

Entstehung einer Zweiklassengesellschaft

Dieses Problem besteht in den meisten arabischen Ländern, nicht nur in Ägypten. Neben den staatlichen Institutionen haben sich längst private Schulen und Universitäten etabliert, deren Bildungsangebote von deutlich besserer Qualität sind.

Im Ergebnis führt das zu polarisierten Gesellschaften. Wer einer wohlhabenden Familie entstammt, wird seine Kinder auf die besten Schulen schicken – in der Regel also auf Privatschulen. Das wiederum eröffnet ihnen die Möglichkeit, die besten Universitäten der Welt zu besuchen. Wer der Mittel- oder der Unterschicht entstammt, wird seine Kinder aufgrund fehlender Geldmittel den staatlichen Schulen und Universitäten anvertrauen, die eine schlechtere Ausbildung bieten. "Auf diese Weise", so Huneidi, "kommt die soziale Mobilität zum Erliegen."

Wissen ist Macht – weiß nichts, macht nichts. Dieser Sponti-Spruch der sechziger Jahre trifft auf makabre Weise auf viele arabische Länder unserer Tage zu. Machtlosigkeit und die Unwissenheit der breiten Masse sind effektive Werkzeuge der Herrschenden, meint Nadir Fergani.

"Aufgrund ihrer autoritären Strukturen arbeiten die herrschenden Regime für die Interessen kleiner Cliquen. Sie kümmern sich nicht um die Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Sie stellen nicht genügend Mittel für Forschung, Entwicklung und Wissensschöpfung zur Verfügung. Als Richtschnur für ihre Entscheidungen dient ihnen das Prinzip: Nützt es mir und meiner Klientel oder nicht. Wenn du eine irrationale Regierung hast, die ihre Entscheidungen an den Interessen einer kleinen Elite ausrichtet, dann kannst du keine Bevölkerung mit einem hohen Bildungsniveau haben."

Wohl aber goldene Klobrillen wie einst Saddam Hussein, Satellitenstädte für die Reichen und Schönen wie in Ägypten, Luxuskarossen für die Herrschenden wie im Sudan. Die politischen Eliten in den arabischen Ländern, kritisiert der ägyptische Sozialwissenschaftler Saad Eddin Ibrahim, kämen ihrer Verantwortung gegenüber jenen nicht nach, die sie vertreten, repräsentieren und regieren sollen.

Trotz Fortschritt hohe Quote von Analphabeten

Beispiel Ägypten. Kein ägyptischer Präsident hat mehr Geld für Bildung ausgegeben als Husni Mubarak. Während seiner bald 23-jährigen Amtszeit hat sich der Bildungsetat Ägyptens vervielfacht. Stolz verweist die ägyptische Regierung auf ihre vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen das Analphabetentum, das aber bei einer Rate von rund 50 Prozent noch lange nicht besiegt ist. Stolz ist die Regierung auch auf die vielen neuen Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Wer aber setzt die Maßstäbe? In Ländern, wo der einfache Bürger keinerlei politische Mitsprache hat, wo die freie Meinungsäußerung oft als Verbrechen angesehen wird, sind jene das Maß aller Dinge, die das Sagen haben und die in keiner Weise gewillt sind, Macht und Kompetenzen abzugeben.

"Es gibt keine Rechenschaftspflicht", betont Huneidi. "Bildungsminister müssten Auskunft zu Bildungsfragen erteilen. Präsidenten, Premierminister – sie sollten befragt werden. Sie werden aber nicht befragt, weil die Leute gar nicht wissen, wo die Mängel liegen und wen sie fragen sollen. Und sie wissen es deswegen nicht, weil die Regierungen entscheiden, keine Informationen über die Qualität der Bildung zu sammeln geschweige denn zu veröffentlichen."

Fehlplanung und schamlose Bereicherung sind in den arabischen Ländern nur deshalb möglich, weil es keine ausreichende Kontrolle durch Parlamente gibt, keine Transparenz, keine Beteiligung des Volkes an der Macht und den Entscheidungsprozessen.

Reformen bleiben aus

Wer die arabische Bevölkerung aus der Bildungskatastrophe und der chronischen technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Rückständigkeit führen will, der muss mehr tun, als nur ein paar neue Schulen zu bauen, sagt Fergani.

Nötig seien umfassende soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Reformen in allen arabischen Ländern. Und genau darin, gibt der ägyptische Publizist Mohamed Sid Ahmed zu bedenken, besteht das Hauptproblem aller arabischen Länder: die Ablehnung grundlegender Reformen, die die Herrschenden möglicherweise von den Fleischtöpfen der Macht entfernen würden. Ausufernde Korruption und maßloser Nepotismus in den politischen Körperschaften verhinderten deren Reform.

Nassers Visionen

Kairo, Menshiet Nasser, ein Armenviertel. Hier leben an die 500.000 Menschen. Es ist eng und laut, die Luft ist schlecht, die Straßen sind größtenteils unbefestigt. Knapp zwei Drittel der bald 20 Millionen Einwohner des Molochs Kairo leben in solchen Gebieten, die alle eines gemeinsam haben: das Fehlen jeglicher staatlicher oder kommunaler Planung. Es mangelt an Schulen, Krankenhäusern, Frisch- und Abwassersystemen, Müllbeseitigung – kurz: an städtischer Infrastruktur.

Menshiet Nasser entstand in den sechziger Jahren. Landflüchtlinge folgten damals den Versprechungen Gamal Abdel Nassers. Sie glaubten an die von Nasser versprochene lichte Zukunft, sie gaben ihre Scholle in Oberägypten oder im Nildelta auf, um in der Hauptstadt ihr Glück zu machen.

Aber Nassers Visionen entpuppten sich als Luftschlösser. Der panarabische Sozialismus führte die Menschen in die Irre, er gaukelte nicht vorhandene Größe, Macht und Einfluss vor.

Nasser startete eine Bildungsoffensive, er öffnete die Universitäten für die breite Bevölkerung und garantierte jedem Hochschulabsolventen einen sicheren Arbeitsplatz im Staatsdienst. Nie gab es in Ägypten mehr Studenten als heute. Und nie, sagen Kritiker, war das Ausbildungsniveau derart bescheiden.

Nicht konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt

Die Bildungs- und Ausbildungsmisere der arabischen Länder schlägt sich längst negativ auf dem heimischen Arbeitsmarkt und dem Weltmarkt nieder. Ägyptische Produkte etwa verlieren stetig an Wettbewerbsfähigkeit. Das 70-Millionen-Volk exportiert heute Waren und Produkte im Wert von knapp 4,5 Milliarden Euro, während es für mehr als 15 Milliarden jährlich importiert.

Der Mangel an ausgebildeten Fachkräften erklärt, warum die Produktivität in den arabischen Ländern nach wie vor so niedrig ist und warum die Länder mit der weltweiten Konkurrenz nicht mithalten können, meint der Sozialwissenschaftler Saad Eddin Ibrahim. "Du brauchst Bildung, um deine Arbeiter zu qualifizieren, damit die Produktivität gesteigert wird, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein."

Alle arabischen Staaten mit ihren bald 300 Millionen Menschen erreichen zusammen ein Bruttosozialprodukt von rund 530 Milliarden Dollar. Die europäische Mittelmacht Spanien kommt bereits auf 590 Milliarden Dollar.

Arabische Politiker und Intellektuelle verweisen in Sachen technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit gerne auf die Vergangenheit, auf die Folgen des Kolonialismus, der Ausbeutung durch Osmanen und Europäer. Für Nadir Fergani ist diese Art von Ursachenforschung unzureichend und ein Beleg dafür, dass es an ehrlicher Selbstkritik mangelt.

Der Schein, sagt der Publizist Mohamed Sid Ahmed, sei stets wichtiger als das Sein. "Wir kümmern uns nicht um das Erreichen der Ergebnisse. Wir sind mehr damit beschäftigt, die Aufdeckung der Tatsache zu verhindern, dass wir die Ergebnisse nicht erreicht haben, als zu versuchen, die Ergebnisse tatsächlich zu erreichen. Das ist ein Charakteristikum unserer Politik: etwas zu verkaufen und ein bestimmtes Image aufrecht zu erhalten anstatt dafür zu sorgen, dass dieses Bild der Realität entspricht."

"Suchet Wissen"

Den arabischen Staaten stehen gewaltige Herausforderungen ins Haus. Die immer größer werdende Bildungslücke zu den entwickelten Industriestaaten stellt eine gewaltige Zeitbombe dar. In Ländern wie Ägypten, dem Jemen, Saudi-Arabien oder Algerien ist die Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gewachsen, allein in Saudi-Arabien von 3,2 Millionen im Jahre 1950 auf mittlerweile 22 Millionen. Drei Viertel der Einwohner sind jünger als 25.

Die größten Engpässe in Schul- und Berufsausbildung stehen dem wahhabitischen Königreich erst noch bevor. Die Regierenden in den arabischen Ländern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten als unfähig, unwillig oder machtlos erwiesen, die Voraussetzungen zur Entwicklung ihrer Völker zu schaffen.

Entwickelte Länder werden heute nicht mehr an ihrem Wohlstand gemessen, sondern eher daran, welchen Beitrag sie bei der Erzeugung neuen Wissens leisten, wie sie das Wissen der Menschheit bereichern. Und so zementiert die Wissenslücke die Rückständigkeit. Dabei sind dem Versuch, den Abstand zum industrialisierten Westen durch Wissenstransfer zu begegnen, kommerzielle Grenzen durch westliche Wirtschaftsinteressen gesetzt.

Die Zeichen stehen in weiten Teilen der arabischen Welt auf Rückbesinnung auf überkommene Traditionen. Leider, so Nadir Fergani, werden vor allem repressive Gepflogenheiten wieder belebt, nicht aber das für den einstigen kulturellen und politischen Aufstieg der islamischen Welt wichtige Streben nach Wissen. "Suchet Wissen", hat der Prophet Mohammed seinen Anhängern einst aufgetragen, "und sei es in China." China galt den Arabern im siebten Jahrhundert als das Ende der Welt.

Reinhard Baumgarten

© Zeitschrift für KulturAustausch 2/2004

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