Heiko Heinisch zu: "Das christliche Europa" - Eine Fiktion

Wenn Herr Schreiner schreibt, dass "sich der Islam längst vom Osten ebenso wie vom Südosten her, auf dem Balkan, wieder nach Europa hinein auszubreiten begonnen [hatte] und dort auf Dauer präsent bleiben [sollte], in Mittel- und Osteuropa (Litauen, Polen, Belarus) nicht anders als auf dem Balkan", dann unterschlägt er, dass sich nicht eine Religion in diese Gebiete ausbreitete, sondern eine fremde, expansive und imperiale Macht diese Gebiete eroberte und dort als Eroberer herrschte. Das prägte über Jahrhunderte hinweg das Verhältnis des christlichen Teils Europas (je weiter östlich, umso mehr) zu den Osmanen und damit auch zum Islam.


Was die "jüdisch-christliche" Kultur betrifft, scheint bei den meisten, die diesen Begriff verwenden, Verwirrung zu bestehen, auch bei Professor Schreiner. Nina Scholz und ich schrieben dazu in unserem Buch "Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?": "Aufgrund seiner Entstehung in griechischem Umfeld wurde das frühe Christentum ebenso vom Naturrechtsgedanken der Stoa beeinflusst, wie es sich durch die Übernahme der jüdischen Bibel als Altes Testament in die Tradition der jüdischen Theologie stellte, diese universalisierte und für alle Menschen öffnete. Das sind die jüdisch-christlichen Wurzeln der abendländischen Kultur, die in jüngster Zeit im Zusammenhang mit dem Islam für äußerst kontroverse Diskussionen und Verwirrung gesorgt haben.

Mit "jüdisch-christlichen Tradition" ist nicht ein wie auch immer geartetes oder gar gutes Zusammenleben und -wirken von Juden und Christen im Laufe der Geschichte gemeint, sondern allein der Rückgriff der christlichen Theologie und in ihrer Folge der abendländischen Philosophie auf einen Fundus theologisch-philosophischer Ideen, die der jüdischen Geistesgeschichte entstammen. Eine dieser Ideen ist die Gottebenbildlichkeit: Ausgehend von der jüdischen Schöpfungsgeschichte, nach der Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf (Gen. 1,27), übertrug das Christentum die stoische Idee der Gleichheit in sein universalistisches monotheistisches Weltbild. Da alle Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen seien, komme ihnen ohne Unterschied die gleiche Würde zu." Kurz gesagt, es handelt sich um eine geistesgeschichtliche Tradition, die sich unabhängig von der Vertreibung und Ermordung von Juden im christlichen Umfeld durch die Übernahme der jüdischen Schriften zwangsläufig ergeben hat.

Heiko Heinisch