Grenzen im Kopf

Der Gazakrieg vom vergangenen Sommer hat im Westjordanland Erinnerungen an das Leben während und nach der Zweiten Intifada wachgerufen. Vor allem in Hebron befürchten viele Palästinenser, dass ihre ohnehin begrenzte Bewegungsfreiheit weiter eingeschränkt werden könnte. Eindrücke aus einer geteilten Stadt von Susanne Kaiser

Von Susanne Kaiser

Dichte Netze und Gitter überspannen die alte Al-Shallalah-Straße in Hebron, eine der Hauptschlagadern der größten Stadt im Westjordanland. In ihnen haben sich verfaulte Lebensmittel, kleinere und größere Haushaltsgegenstände, auch Ziegelsteine und allerlei andere Gegenstände verfangen.

Dieser Unrat ist die materielle Manifestation eines Konflikts, der die Stadt Hebron seit einem halben Jahrhundert entzweit – Palästinenser und Israelis, Muslime und Juden, Araber und Zionisten, Urbevölkerung und Neusiedler. Im Zentrum steht die Frage: Wer war zuerst da und wer beansprucht daher welche Gebiete?

Unten und oben

Die Netze bilden den einzigen Schutz arabischer Passanten vor den Wurfattacken nationalreligiöser, radikaler Siedler. Es sind rund 800 von ihnen, die inmitten der arabischen Altstadt Häuser und ganze Viertel besetzt haben und damit 160.000 Palästinenser in Atem halten. Manche haben ihre Wohnungen einfach auf die Dächer der arabischen Häuser gebaut.

Durch sie ist Hebron architektonisch nicht nur von vertikalen, sondern auch von horizontalen Grenzen durchzogen und in oben und unten geteilt. Sie prägen die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung – unabhängig davon, ob sich Israel gerade im Krieg befindet oder nicht.

Drahtgeflecht gegen Müll und Unrat militanter Siedler in der Al-Shallalah-Straße in Hebron; Foto: Susanne Kaiser
Palästinensische Häuser und Straßen als Zielscheibe für radikale Siedler: Aus den oberen Stockwerken der angrenzenden Siedlerhäuser in der Al-Shallalah-Straße werfen die Bewohner Müll, Steine und sonstigen Unrat in die Gassen der Altstadt. Der Unrat der Siedler wird nun von einem Drahtgeflecht notdürftig aufgehalten.

"Unten" ist Heba Tebakhi aufgewachsen und zur Schule gegangen. Die junge Frau stammt aus einer gutbürgerlichen palästinensischen Familie – der Vater ist Händler und auf den Import von Baumaschinen spezialisiert, die Mutter ist Hausfrau. In einer geteilten Stadt zu leben gehörte für Heba – wie für viele ihrer Generation – von frühester Kindheit an zum Alltag. Doch mit dem Jahr 2000 und dem Beginn der Zweiten Intifada hatte sich die Situation in Hebron für die arabischen Bewohner dramatisch verschlechtert.

Durch den Checkpoint zur Schule

Kontrollposten wurden eingerichtet und schränken seitdem die Bewegungsfreiheit der Palästinenser in der Stadt stark ein. Regelmäßig werden Ausgangssperren verhängt. Zum Schutz der rund 85 jüdischen Familien im historischen Stadtzentrum sind auf den Dächern auch israelische Soldaten postiert.

Außerdem sind bestimmte Viertel, unter anderem die Hauptstraße Al-Shuhada, einst ein lebendiger Markt, für Araber gar nicht mehr zugänglich. Nur ein paar palästinensische Kinder, deren Schule sich hier befindet, dürfen nach eingehender Kontrolle den Checkpoint passieren. Mit strengen Minen und Maschinengewehren im Anschlag treten die Soldaten den Schülern entgegen. Ansonsten ist die Straße das verwaiste Territorium der wenigen militanten israelischen Siedler.

Doch nicht nur im historischen Zentrum Hebrons bestimmen Grenzen und Checkpoints den Alltag der Menschen, auch die Peripherie ist davon gezeichnet. "Vor allem während der Zweiten Intifada gab es viele Grenzen im Westjordanland. Kam man durch einen Checkpoint nicht durch, ging man zum nächsten", fasst Heba lakonisch zusammen, was sie über viele Jahre hinweg erdulden musste, um ihre Familie zu sehen. Das war während ihrer Studienzeit in Bethlehem, vier Jahre nach dem Beginn der Zweiten Intifada.

Die aus Hebron stammende Heba Tebakhi in Berlin; Foto: Susanne Kaiser
Angst und Unsicherheit als ständige Begleiter: „Palästina ist wie ein Gefängnis“, sagt Heba Tebakhi. „Besonders klar geworden ist mir das in Berlin. Von Rudow nach Spandau ist es viel weiter als von Jerusalem nach Ramallah. Trotzdem braucht man nur 40 Minuten und nicht Stunden."

Obwohl Bethlehem nur eine gute halbe Stunde Autofahrt von ihrer Heimatstadt entfernt liegt, musste die junge Frau nach Bethlehem ziehen. Denn auf den etwa 30 Kilometern zwischen Hebron und Bethlehem befinden sich derzeit allein drei feste Kontrollpunkte, ganz abgesehen von den mobilen Checkpoints auf der Strecke.

Die Grenzen im Kopf wird man nie wieder los

Heba ist sich daher nie ganz sicher, ob sie für ihren Weg nach Hause die üblichen drei Stunden Fahrtzeit benötigt, viel länger unterwegs sein oder gar nicht ankommen wird, denn bei jeder Erhöhung der Sicherheitsstufe wird die Grenze kurzerhand geschlossen. Seit vier Jahren lässt sie an fast jedem Wochenende die zahllosen demütigenden Grenzkontrollen über sich ergehen: Pass vorzeigen, sich abtasten lassen, strafende Blicke und beleidigende Worte.

Noch heute bekommt Haba ständig Albträume von diesem Prozedere an den Grenzen und Checkpoints: das Warten an den Kontrollpunkten, die Schikanen der Soldaten, die Angst und Unsicherheit, die auf jedem Weg ihre ständigen Begleiter waren. Wie viele aus ihrer Generation hat sich Heba nach ihrem Studium entschlossen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Obwohl sie seit fünf Jahren in Berlin lebt, wird sie die Grenzen in ihrem Kopf nicht los.

In jede schöne Kindheitserinnerung an Familienausflüge drängen sich unwillkürlich Bilder von bewaffneten Soldaten, die den Vater abführen und über Stunden nicht freilassen. Jede Empfindung nostalgischer Geborgenheit ist stets verbunden mit dem Gefühl der Angst und Beklemmung. "Palästina ist wie ein Gefängnis", sagt Heba. "Besonders klar geworden ist mir das in Berlin. Von Rudow nach Spandau ist es viel weiter als von Jerusalem nach Ramallah. Trotzdem braucht man nur 40 Minuten und nicht mehrere Stunden. 40 Minuten ohne Checkpoint – das bedeutet für mich Freiheit."

Susanne Kaiser

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