Die Mitte hält nicht mehr

Zum Auftritt der arabischen Welt an der Frankfurter Buchmesse werden immer wieder auch skeptische Stimmen laut. Der Schriftsteller Hassan Dawud wirft einen Blick auf den Status des Buches in der arabischen Gesellschaft.

Zum Auftritt der arabischen Welt an der Frankfurter Buchmesse werden seitens der Literaturschaffenden immer wieder auch skeptische Stimmen laut. Hassan Dawud, Schriftsteller und Feuilletonchef der libanesischen Tageszeitung "Al-Mustaqbal", wirft einen ernüchternden Blick auf den Status des Buches in der arabischen Gesellschaft.

Buchmesse in Kairo, Foto: AP
Buchmesse in Kairo

​​Zu Beginn der achtziger Jahre bat mich ein befreundeter Verleger, einige Manuskripte zu prüfen, die man an seinen Verlag geschickt hatte, und meine Meinung dazu abzugeben.

Obwohl der Verlag erst zwei, höchstens drei Jahre bestand, war es ein ganzer Haufen Manuskripte, die aus vielen arabischen Ländern nach Beirut geschickt worden waren; damit nicht genug, fügte mein Freund dem umfangreichen Verlagsprogramm noch Übersetzungen aus anderen Sprachen hinzu, darunter aus dem Japanischen, das meines Wissens vorher überhaupt noch nie ins Arabische übertragen worden war.

Er zeigte mir die handschriftlichen Aufstellungen der Bücher, die er in die verschiedenen arabischen Länder vertrieben hatte. Marokko: 500 Exemplare, Irak: 500 Exemplare, Sudan: 200 Exemplare, Jordanien - und so weiter. Die Gesamtauflage eines einzelnen Buches betrug 3.000 Exemplare.

Zentrum Beirut

Beirut war damals das Zentrum des arabischen Verlagswesens, und in diesen Jahren betrugen die Einkünfte Libanons aus dem Verlagsbereich mehr als die aus dem Apfelexport, der zu den wichtigsten Einnahmequellen des Landes zählte.

Die libanesischen Zeitungen, zu jenem Zeitpunkt in politische und ideologische Kämpfe verstrickt, massen der Buchkultur eine hohe Bedeutung zu. Sogar privat verlegte Literaturmagazine erschienen, wenn auch viele nur wenige Nummern durchhielten.

In diesen Jahren schien Libanon endgültig die Vorreiterrolle auf dem arabischen Buchmarkt von Ägypten übernommen zu haben. Ägypten begnügte sich seitdem damit, die Bücher seiner eigenen Autoren zu verlegen, denn der libanesische, irakische oder syrische Leser akzeptierte die ägyptischen Ausgaben nicht mehr, wohl nicht zuletzt wegen der schlechten Druckqualität.

Beirut war zum Zentrum des arabischen Verlagswesens geworden. Vielleicht lag der Grund dafür darin, dass Beirut zu jener Zeit die offenste arabische Hauptstadt war, die Stadt, die man am leichtesten erreichen konnte, und die Stadt mit der grössten Pressefreiheit - ein Anziehungspunkt für Akademiker aus der gesamten arabischen Welt.

Dezentralisierung

Viele dieser Vorzüge hat Libanon während des Bürgerkrieges verloren; warum sollte es also weiterhin oder erneut die Hauptstadt des arabischen Buches sein?

Inzwischen hörte man immer mehr andere Verlagsnamen. Einige von ihnen stammten aus Ländern, bei denen wir uns erst an den Gedanken gewöhnen mussten, dass sie Bücher produzieren und mit der Zeit eine Konkurrenz auf diesem Markt darstellen könnten.

In Marokko entstand ein Verlag, dessen Publikationen anfangs bis nach Beirut gelangten, getreu der Tradition, dass ein arabisches Buch für die gesamte arabische Welt gedruckt wird. Doch schon bald ging die Verbreitung dieser Bücher zurück, man erhielt sie nur noch auf Konferenzen, auf denen man sich mit anderen Schriftstellern austauschte.

Auch in Syrien wurden private Verlagsunternehmen gegründet, nachdem lange Jahre das syrische Kulturministerium und der syrische Schriftstellerverband die einzigen Verleger gewesen waren; doch gelangten diese Bücher nur anlässlich von Buchmessen in andere arabische Länder. Ebenso entstanden auf Zypern Verlage (die allerdings, kaum eröffnet, schon wieder schlossen).

Der "arabische Buchmarkt" verschwand

All das war ein Hinweis auf intensive verlegerische Aktivitäten, die jedoch allmählich ihr Zentrum verloren oder darauf verzichteten. Es gab keinen "arabischen Buchmarkt" mehr, wie er früher existiert hatte; das Zentrum des arabischen Verlagswesens war nicht in eine andere Stadt gewandert, so wie es sich einmal von Kairo nach Beirut verlagert hatte.

Und diejenigen Länder, die früher aus diesen Zentren importiert hatten und nun keinerlei eigene Verlage gründeten, wie der Irak und der Sudan, konnten es sich nicht mehr leisten, importierte Bücher zu kaufen, da die Bevölkerung mittlerweile zu arm war.

Diese Entwicklung war mehr oder weniger offensichtlich begleitet von nationalistischen Strömungen, denen man einst skeptisch gegenübergestanden hatte; alle hatten genug von den katastrophalen materiellen und moralischen Verlusten durch die verschiedenen "panarabischen" Konfrontationen, von leeren Behauptungen und dem Hirngespinst von einem am Ende möglichen Sieg.

Was die Kultur angeht, so scheint die Errichtung eines neuen intellektuellen arabischen Zentrums nicht in Sichtweite. Die meisten Bücher, die in lächerlichen Auflagen in Beirut gedruckt wurden, lagerten dort für viele Jahre in den Magazinen.

Verlorene Lesekultur

"Hier liest niemand", sagen uns die Kinder unserer nach Europa ausgewanderten Verwandten, wenn sie Libanon besuchen. Wir sehen niemanden lesen, sagen sie, und im Gegenzug vernehmen wir, dass in Europa die Menschen in der U-Bahn, in den Bussen oder in den Parks lesen.

Eine private pädagogische Institution führte vor drei Jahren in Libanon eine Umfrage unter Studenten der geisteswissenschaftlichen Fakultät durch und stellte fest, dass der grösste Teil der Studierenden keinerlei Bücher ausserhalb des Lehrplans las, und zwar in den gesamten drei Jahren des Studiums.

Studenten in den sechziger Jahren gehörten verschiedenen dogmatischen und politischen Gruppierungen an, bei denen man, wenn man dazugehören wollte, Bücher lesen musste. Damit ist es vorbei - die Kultur ist kein lebendiges Bedürfnis mehr, ebenso wie politische Gruppierungen beispielsweise nicht mehr auf der Basis eines bestimmten kulturellen Standpunkts entstehen.

Kultur gibt es im Fernsehen

Man macht das Satellitenfernsehen verantwortlich für das mangelnde Interesse an Kultur. Dort könne man alles sehen, inklusive Kultur, heisst es.

Was das bedeutet, erklärte uns ein befreundeter Dichter, der auf dem jordanischen Kulturfestival in Djarash gewesen war. Das Festival bestand vorab aus der Darbietung der Sängerin Nancy Agram, deren Fama sich nicht zuletzt leichtgeschürzten Auftritten verdankt und deren Lieder alle Jordanier auswendig können. Die Dichter dagegen blieben dort Fremde.

Es gibt kein zwingendes Bedürfnis mehr nach Büchern. Ein arabisches Buch aus einem bestimmten Land verlässt dieses Land praktisch nicht mehr und wandert jenseits seiner Grenzen bestenfalls durch die Hände einiger Intellektueller.

Ich weiss nicht, ob es heute noch möglich wäre, dass eine neue künstlerische oder kulturelle Strömung eine solche Wirkung auf die arabische Kultur hätte, wie das zum Beispiel einst bei der irakischen Lyrik der Fall war, die Mitte der vierziger Jahre die arabische Poesie erneuerte. Wahrscheinlich kann man das gar nicht und von niemandem mehr erwarten.

Der Kanon der Intoleranz

Doch es gibt Leser, denen wir bisher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt haben, ebenso wenig wie sie uns in irgendeiner Form beachtet hätten. Einer von ihnen ist Qais Ibrahim, irakischer Kurde und Mitglied der Gruppierung Ansar al- Islam, der festgenommen wurde, als er im Irak ein Selbstmordattentat verüben wollte.

Obwohl er nun im Gefängnis sitzt, ist der junge Mann in keiner Weise von dem abgerückt, was er einem Reporter der Zeitung "Al-Hayat" gesagt hat: dass nämlich Wahlen im Irak die gesamte Bevölkerung zu einem Ziel für Selbstmordattentate machen würden. Denn demokratische Wahlen bedeuteten, dass ein ketzerisches Volk selbst seine ketzerischen Vertreter wähle, und solche Abtrünnigkeit von Gott müsse mit dem Tod geahndet werden.

Was die Lektüre dieses jungen Mannes angeht, so scheint es, als nehme diese mittlerweile in der arabischen Welt eine führende Rolle ein. In reinem Hocharabisch, völlig frei von umgangssprachlichen Elementen, gibt Qais Ibrahim zu Protokoll:

Ein anderer Lesestoff

"Wir haben die Predigten des Scheichs Amin az-Zawahiri, des Scheichs Abd al-Munim Abd al-Halim (Abu Bashir) und des Scheichs Abu Qutada in London gelesen, ebenso die Gelehrten der Jamaa Islamiya in Ägypten; und ich kenne einige Abhandlungen der 'Bewaffneten Gruppe für Verkündigung des Islam und Kampf' unter der Führung von Hassan Hattab und Raschid Abu Turab in Algerien, ebenso Schriften der 'Armee von Aden' in Jemen und einiger Vereinigungen in Jordanien wie auch der 'Gruppe des kämpfenden Vortrupps' in Syrien."

Es handelt sich hier um eine gemeinsame Kultur aller arabischen Länder, wobei Ibrahim wohl vergessen hat, noch die nichtarabischen wie Pakistan, Afghanistan oder Indonesien hinzuzufügen. Hier ist die arabische Welt wieder vereinigt; und vielleicht erstreckt sie sich sogar noch weiter als damals, als es noch die Literatur war, die die Araber vereinte.

Über diese Literatur und ihre Autoren wissen wir, die alte Garde der Leser, so gut wie nichts, obwohl sie doch neben uns existiert. Ebenso wenig, wie ihre Vertreter und Leser etwas über uns wissen oder wissen wollen oder uns mitteilen wollen, was sie wissen.

Es geht hier nicht nur um Bücher. Unsere Musik gelangt ebenso wenig zu ihnen, sie hassen sie und halten sie für ketzerisch; deshalb haben sie eigene Lieder, ein eigenes Kino. Sie sind die neuen Dogmatiker in unseren Ländern, die nur eine einzige Überzeugung dulden können.

Hassan Dawud

Aus dem Arabischen von Michaela Kleinhaus

© Neue Zürcher Zeitung, 8. September 2004