Marokko im Bann der "spirituellen Sicherheit"

Ein marokkanisches Gericht verbat jüngst den Verkauf des Buchs "Sahīh al-Bukhārī...The End of a Legend" von Rachid Aylal, der in seinem Werk die berühmte Hadithsammlung kritisch unter die Lupe nimmt. Mit seinem Werk sorgt er für einen Aufschrei in der marokkanischen Öffentlichkeit. Von Safaa Shibli

Von Safaa Shibli

Das kürzlich von einem Gericht in Marrakesch verkündete Urteil verweist u. a. darauf, dass der zuständige Stadtgouverneur Teile des Buchs von Rachid Aylal aus dem Jahr 2017 als Bedrohung der "spirituellen Sicherheit" der Bürger betrachte, da der Inhalt den gängigen religiösen Normen widerspreche.

Das Urteil ist das jüngste in einer Reihe von Verboten in der marokkanischen Kunst- und Kulturszene. So wurden vor einiger Zeit auch die Bilder aus dem Zyklus "Kama Sutra" der Künstlerin Khadija Tanana aus dem "Tetouan Centre of Modern Art" entfernt. Auch dieses Vorgehen löste unter marokkanischen Intellektuellen große Empörung aus. "Kama Sutra" umfasst illustrierte Sexualstellungen, inspiriert durch das bekannte arabische Ehehandbuch aus dem frühen 15. Jahrhundert "Der duftende Garten" von Muḥammad an-Nafzāwī.

Rachid Aylal ist seit Veröffentlichung seines Buchs über Al-Bukhārī zur Zielscheibe massiver Drohungen geworden. Einige Drohungen erfolgten in aller Öffentlichkeit. Der Inhalt des Buchs wurde zudem von bestimmten Kritikern verhöhnt. Auch berichtete der Schriftsteller, dass seine Signierstunde in Marrakesch auf Anordnung des Stadtgouverneurs abgesagt worden sei.

Mostafa bin Hamza, der Leiter des "Baath Islamic Institute for Sharia Studies", bezog gegen das Buch Stellung und bezeichnete den Autor als "ignorant". Er lobte zudem eine Geldprämie für jeden aus, der eine positive Forschungsarbeit zu Al-Bukhārī vorlegt und damit Aylals Werk widerlegt, das den prominenten Scheich seiner heiligen Aura beraube.

Fake-News, Diffamierungen, Todesdrohungen

"Schon vor der Veröffentlichung des Buchs erhielt ich tagtäglich Dutzende von Todesdrohungen in Telefonnachrichten anonymer Anrufer und von Fake-Accounts auf Facebook", berichtet Aylal. "Ich verstehe nicht, warum diese Leute denken, der Islam werde nur von einer Person vertreten."

Der marokkanische Journalist und Autor Rachid Aylal; Foto: Rachid Aylal
Rachid Ayal: "Es gibt Leute, die versuchen, die Freiheit in Marokko zu unterdrücken. Doch das wird nicht funktionieren. Denn Marokko hat seinen Weg vor langer Zeit gewählt und da gibt es kein Zurück.... vor allem nicht dank der Verfassung von 2011, die als der entscheidende Sieg der Marokkaner gilt."

Nach dem Verbot des Buchs blieb Aylal keine andere Wahl, als das Werk unter strengster Geheimhaltung über Vertraute an interessierte Käufer auszuliefern. Diese wiederum verstecken ihre Exemplare des Werks, um eine Beschlagnahmung zu vermeiden. Eine Sisyphus-Arbeit, berichtet Aylal.

"Das Buch soll an Käufer ausgeliefert werden, wann und wo immer diese es wollen – auch nach dem Verbot und gegen alle Widerstände", sagte Aylal, der die Zahl seiner geheimen Vertriebspartner mittlerweile weiter steigern konnte.

Zu dem Urteil erklärte Aylal: "Wenn allein im Sahīh al-Bukhārī der einzig wahre Islam gesehen wird, dann hat der Prophet – Friede sei mit ihm – die Botschaft zu seinen Lebzeiten nicht vollständig verkündet. Nach dieser Logik mussten die Muslime weitere 200 Jahre nach dem Tod des Propheten ohne die vollständige Fassung des Islam leben, bis endlich Al-Bukhārī erschien, um die Botschaft zu vollenden".

Auch betonte Ayal: "Es gibt Leute, die versuchen, die Freiheit in Marokko zu unterdrücken. Doch das wird nicht funktionieren. Denn Marokko hat seinen Weg vor langer Zeit gewählt und da gibt es kein Zurück.... vor allem nicht dank der Verfassung von 2011, die als der entscheidende Sieg der Marokkaner gilt."

Unterdrückung oder "spirituelle Sicherheit"?

Für den Politologen Marwan bin Fares stellt "spirituelle Sicherheit" keinen wissenschaftlichen Begriff dar, sondern eine Vorstellung, die den religiösen und politischen Interessen des Staates dient. "Die Definition von 'spiritueller Sicherheit' in Marokko ist zweideutig", so Marwan bin Fares. "Der Begriff wird im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in Abgrenzung zu religiösen Minderheiten wie Schiiten, Kharidschiten und Christen verwendet. "Außerdem wird er von Institutionen wie dem Ministerium für Stiftungen und islamische Angelegenheiten, der 'Mohammadia League of Scholars' sowie offiziellen Institutionen benutzt, die dem Staat nahe stehen und die Gedanken und Ansichten der Behörden übernehmen."

Indes glaubt der berbische Schriftsteller Ahmed Assid, dass sich "spirituelle Sicherheit" nicht auf die Sicherheit aller Marokkaner bezieht, sondern nur auf einige von ihnen: die sunnitischen Muslime.

Anfang des Ṣaḥīḥ al-Buchārī in der Ausgabe Bulaq (1893–94) mit Randvermerken von Al-Yunini; Foto: wikipedia
„Das größte Unrecht besteht darin, dass diese Hadithsammlung den Muslimen das Buch Allahs nimmt und es durch eine Doktrin und ein Nachschlagewerk für Glauben und Anbetung ersetzt“, so Aylal. "Letztendlich gelangen wir so zu einer anderen Religion, die auf einer Hadithsammlung beruht und abgesehen von Formalismen nichts mehr mit dem Koran zu tun hat."

Der sunnitische Islam sei die offizielle Staatsreligion, die durch den Begriff der geistigen Sicherheit geschützt werde, während man gleichzeitig andere muslimische Glaubensrichtungen sowie andere Religionen und Ethnien verfolgt. Assid zufolge verstößt dies gegen die Glaubensfreiheit, unter anderem auch gegen die von der Verfassung garantierten Freiheiten.

"Mythologische Legenden"

In der Einleitung des 283 Seiten starken Buches, das beim Verlagshaus "Dar Al-Watan" erschienen ist, werden viele aus dem Sahīh al-Bukhārī zitierte Legenden und Geschichten als "mythologisch" bezeichnet, da sie noch nicht einmal von den frommen Altvorderen einhellig gestützt wurden.

Das Buch besteht aus fünf Kapiteln, die sich u. a. mit Fragestellungen zu kontroversen Themen auseinandersetzen. "Mein Buch behandelt das religiöse Erbe und den wahren Stellenwert von Al-Bukhārī", erklärt Aylal. "Der Prophet hat die Dokumentation der Hadithe durch die Erzählung von Al-Darimi, dem Scheich von Al-Bukhārī, verboten. Der Prophet sagte: "Schreibe nichts über mich, außer dem, was im Koran steht, und wer etwas über mich geschrieben hat, soll es auslöschen". Sogar Umar bin Khattab verbrannte eine Schreibtafel, die dem heiligen Propheten zugeschriebene Sprüche trug."

"Warum erschien die Dokumentation der Sunna erst etwa 100 Jahre nach dem Tod des Propheten, Friede sei mit ihm, obwohl diese in der Scharia angeblich so wichtig ist, wie salafistische Scheichs und andere behaupten?", so Aylal.

Die Salafisten betrachten seiner Einschätzung nach die Sunna nicht als detaillierte Auslegung des Korans, sondern als doktrinäre Quelle, die wichtiger sei als das heilige Buch der Muslime. Theoretisch gesehen sei sie die zweite Quelle für die Scharia nach dem Koran, doch praktisch diene sie den Salafisten als wichtigste Quelle der Scharia, während der Koran lediglich als komplementäres Werk wahrgenommen werde.

"Haben wir es unmittelbar mit den Worten des Propheten zu tun oder mit den Auslegungen Dritter zu dem, was der Prophet sagte?", so Ayal. Der Schriftsteller kann sich nur wundern und verweist darauf, dass die mentalen und intellektuellen Fähigkeiten jedes Erzählers unterschiedlich waren.

Nichts mehr mit dem Koran zu tun

"Das größte Unrecht besteht darin, dass diese Hadithsammlung den Muslimen das Buch Allahs nimmt und es durch eine Doktrin und ein Nachschlagewerk für Glauben und Anbetung ersetzt", so Aylal. "Letztendlich gelangen wir so zu einer anderen Religion, die auf einer Hadithsammlung beruht und abgesehen von Formalismen nichts mehr mit dem Koran zu tun hat."

Aylal versucht in seinem Buch, die Hadithe neu zu definieren, indem er betont, dass die islamische Lehre auf dem beruhen sollte, was Allah gesagt hat, und nicht darauf, was der Prophet gesagt hat. Es bezieht sich hier konkret auf Verse des Korans: "Dies sind die Zeichen Allahs; wir verkünden sie dir in Wahrheit. An welche Zeichen wollen sie denn glauben, nachdem sie Allahs Zeichen ablehnten?"

Und: "Allah - es gibt keine Gottheit außer Ihm. Er wird euch ganz gewiss zum Tag der Auferstehung versammeln, an dem es keinen Zweifel gibt. Und wer ist wahrhaftiger als Allah in der Aussage?"

Der Schriftsteller betont, dass der Sahīh al-Bukhārī als das zuverlässigste Hadithbuch gilt und sich auf Erzähler aus sechs verschiedenen Generationen stützt. Scheich Muslim kannte die meisten davon nicht. Angenommen, er war ehrlich, wie konnte er die Glaubwürdigkeit der anderen fünf Erzähler überprüfen, die er ja nie persönlich getroffen hat, fragt sich Aylal.

Warum Al-Bukhārī?

Nach eigenen Angaben forscht Aylal zu Al-Bukhārī, weil ihm daran gelegen ist, "das religiöse Erbe zu hinterfragen, das wir von unseren Eltern und Großeltern übernommen haben".

Marokkos salafistische Anführer Hassan Kettani (l.), Omar Hadouchi und Abou Hafs; Foto: DW
Der engstirnige Blick: Nach Ansicht des Autors Rachid Aylal betrachten die Salafisten die Sunna nicht als detaillierte Auslegung des Korans, sondern als doktrinäre Quelle, die wichtiger sei als das heilige Buch der Muslime. Theoretisch gesehen sei sie die zweite Quelle für die Scharia nach dem Koran, doch praktisch diene sie den Salafisten als wichtigste Quelle der Scharia, während der Koran lediglich als komplementäres Werk wahrgenommen werde.

Er glaubt, dass der Sahīh al-Bukhārī das Ergebnis von Mythen und Träumen ist, denen Al-Bukhārī seit seiner Kindheit verhaftet war. Al-Bukhārī verlor sein Augenlicht wohl schon in jungen Jahren. Seiner Mutter soll im Traum Stammvater Abraham erschienen sein, der ihr sagte: "Zum Dank für dein Weinen und Beten hat Allah deinem Sohn sein Augenlicht zurückgegeben". 

Nach Ansicht Aylals ist Al-Bukhārīs Biographie weitgehend von seinem sakralen Status und von seinem Buch inspiriert. So zitiert Aylal einige Hadithe, die er für Fälschungen hält - darunter einen, der besagt, der Prophet habe versucht, Selbstmord zu begehen.

Hierzu verweist er auf einen anderen Hadith aus der Überlieferung von Abū Huraira, einem Gefährten des Propheten Mohammed, wonach der Prophet seine Anhänger beschimpfte. Der zitierte Hadith lautet:  "O Allah, mein Gott, möge es keinen Gläubigen, den ich beschimpft habe, am Tage der Auferstehung geben, ohne dass dies ihn Dir näher bringen möge."

Das Buch erklärt auch, dass im Gegensatz zu dem, was Allah dem Propheten laut Sure 93 (Ad-Duhā) sagte: "Und Er fand dich in Not und machte dich reich", ein von Aisha (eine der zehn Frauen Mohammeds) überlieferter und von Al-Bukhārī zitierter Hadith lautet: "Als der Gesandte Allahs starb, war sein Harnisch bei einem Juden verwahrt, als Pfand für dreißig Maß Gerste".

"Wir müssen um unsere fragilen Freiheiten bangen"

Die Künstlerin Khadija Tanana ist über das Verbot des Buchs erschüttert, zumal es sich an die Zensur ihrer eigenen Arbeiten zu "Kama Sutra" anschloss. "Alles, was in Marokko geschieht, ist auf die Düsterheit zurückzuführen, die das Ergebnis einer strengen Erziehung auf der Basis fehlerhafter religiöser Überzeugungen ist", sagt sie. "Wir erleben einen regelrechten Rückschlag und müssen um unsere fragilen Freiheiten bangen, die von der politischen Führung bekämpft werden.

Auszüge aus "Kama Sutra" der Künstlerin Khadija Tanana; Foto: www.ansamed.info
Kama Sutra in den Händen der Fatima auf dem Index der Zensoren: Vor einiger Zeit wurden auch Bilder der Künstlerin Khadija Tanana aus dem „Tetouan Centre of Modern Art“ entfernt – ein Vorgehen, das unter marokkanischen Intellektuellen große Empörung auslöste. "Kama Sutra" umfasst illustrierte Sexualstellungen.

"Laut Tanana ist der Begriff der "spirituellen Sicherheit" eine Erfindung der marokkanischen Regierung aus Furcht vor Islamisten. "Wie kann sich eine Gesellschaft entwickeln, wenn Münder geknebelt und Hände gefesselt werden?", fragt sie.

Der marokkanische Schriftsteller und Intellektuelle Bouzid El-Ghali äußert sich ähnlich: "Es ist merkwürdig, dass ein solches Verbot von einer Regierung verhängt wird, der Minister angehören, die einst an der Spitze der Freiheitsverfechter standen, so beispielsweise der Minister für Menschenrechte … Heute sind sie repressiver als diejenigen, die sie einst in die Flucht geschlagen haben ... Meinungsfreiheit lässt sich nicht erreichen, indem man Bücher verbietet – ungeachtet ihres Inhalts."

Der Schriftsteller und Romanautor Shakib Arig glaubt allerdings, dass der Staat dem Schriftsteller mit dem Verbot sogar einen Dienst erweist. Er selbst sieht dies nicht als Rückschlag. "Man hätte Marokko als intellektuelle Führungsmacht der arabischen Welt sehen können, wenn die wahhabitischen Sektierer die Kulturszene nicht durcheinander gebracht hätten."

Die marokkanische Menschenrechtsvereinigung missbilligte das Verbot des Buchs, da es Marokko in die Zeit der Inquisition zurückversetze. Der Menschenrechtsaktivist Tarek Saoud glaubt, das Verbot habe die Tabus verstärkt und freie Schriftsteller und Denker weiter eingeschränkt. Er kritisierte zudem den Staat, weil dieser den Bedrohungen nicht nachgehe, denen Aylal ausgesetzt ist.

Auch der Menschenrechtsaktivist Rachid Antid verweist darauf, dass Bücher, die den Terrorismus befürworten, in allen Buchhandlungen ausliegen – darunter einige von Ibn Taimīya, dem geistigen Vater des modernen Islamismus. "Der Kampf gegen die Aufklärung wird auch von Staatsbediensteten und nicht allein von extremistischen Organisationen und Parteien geführt", sagte er.

Safaa Shibli

© Raseef 22

Aus dem Englischen von Peter Lammers