Keimzellen der Demokratie

In Syrien existiert zwar keine landesweite Demokratiebewegung, allerdings gibt es lokale Initiativen, die dem Krieg trotzen, die Zivilgesellschaft stärken und damit den Boden für eine freie pluralistische Ordnung bereiten. Von Kristin Helberg

Von Kristin Helberg

Drei Jahre ist die syrische Revolution nun alt, und keiner spricht mehr von ihr. Stattdessen reden wir von Krieg – Bürgerkrieg, Stellvertreterkrieg, Krieg gegen den Terror. Syrien scheint nur noch aus Dschihadisten, Islamisten, Flüchtlingen und zivilen Opfern zu bestehen. Wir lesen von Al-Qaida-Terroristen und deutschen Salafisten, von Vertriebenen, Verwundeten und verhungernden Kindern.

Wo sind die Hunderttausenden Demonstranten geblieben, die im Sommer 2011 auf den Straßen von Hama, Deir Al-Zor und Homs nach Freiheit und Würde riefen? Was ist aus den Aktivisten geworden, die Plakate malten, Wackelvideos filmten und in Sprechchören die Einheit des syrischen Volkes beschworen?

Sie sind verschwunden, könnte man meinen, tot, vertrieben, besiegt oder zumindest bedeutungslos. Tatsächlich sind viele Revolutionäre der ersten Generation nicht mehr am Leben – so nennen die Syrer jene, die als erste ihre Angst überwanden und andere mobilisierten. Sie führten Demonstrationen an, verteilten Blumen an Soldaten, gaben Interviews und schufen mit den Koordinations- und Basiskomitees die Strukturen des friedlichen Widerstandes.

Die Revolution verschleißt ihre Kinder

Demonstration gegen Assad-Regime in Zabadani; Foto: AP
Keimzellen des zivilen Engagements: Obwohl Syriens friedliche Protestbewegung nicht kohärent ist und auch kein Zentrum aufweist, ist ihr Widerstand in zahlreichen syrischen Kleinstädten dennoch ungebrochen.

Inzwischen ist die dritte Aktivistengeneration am Werk. Das bedeutet, die Revolution verschleißt ihre Kinder in einem erschreckenden Tempo. Es bedeutet aber auch, dass sich Dutzende Komitees jedes Jahr neu erfinden, dass immer wieder Leute hinzukommen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und für ihre Vision eines demokratischen, freien Syriens ihr Leben zu riskieren.

In Erbin, einem Vorort von Damaskus, betreiben Aktivisten einen Kulturtreff mit kleiner Bibliothek und Internetzugang, in dem Workshops, Englischunterricht und Medientrainings stattfinden, in dem sich aber auch die örtlichen Apotheker versammeln, um den Medikamenten-Nachschub zu organisieren. In Zabadani und einigen anderen Städten geben Aktivisten eigene Zeitungen heraus.

In der südlichen Provinz Daraa werden verwaiste Schulen wieder in Betrieb genommen und Lehrpläne umgeschrieben, im abgeriegelten Palästinensercamp Yarmouk musizieren und singen Aktivisten gegen die Blockade und den Hunger an, in Atareb bei Aleppo übermalen sie extremistische Parolen an Häuserwänden und im Damaszener Vorort Douma dokumentieren sie die Menschenrechtsverletzungen aller Kriegsparteien.

Wer wissen will, was Syriens Aktivistenszene denkt und fühlt, kann dies auf den bunten englischsprachigen Plakaten von Kafranbel nachlesen – jener staubigen Ortschaft südlich von Idlib, in denen Aktivisten allwöchentlich schonungslos und scharfsinnig die internationale Syrienpolitik kommentieren.

Aufkeimendes politisches Bewusstsein

 Kinder demonstrieren gegen das Assad-Regime in Zabadani; Foto: Reuters
Kreativer Widerstand: "Was auf den ersten Blick als Schwäche erscheinen mag – das Fehlen einer einheitlichen Demokratiebewegung – könnte langfristig von Vorteil sein. Denn für den Aufbau eines Rechtsstaates in einem ethnisch wie konfessionell so vielfältigem Land wie Syrien braucht es überall kritische, selbstbewusste und tolerante Bürger", schreibt Helberg.

Nach wie vor hat jeder Freitag in Syrien ein Motto und noch immer wird demonstriert. Mal sind es Dutzende, mal Hunderte, die trotz Hunger und Durst, Kälte oder Hitze gegen das Regime oder gegen die Extremistengruppe Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL) auf die Straße gehen. Diese Proteste sind zahlenmäßig unbedeutend, aber sie zeigen, dass vielerorts in Syrien politisches Bewusstsein und kritisches Denken Wurzeln geschlagen haben.

Eine nationale Demokratiebewegung wird daraus in Kriegszeiten nicht erwachsen, was wir in Syrien sehen, sind vielmehr Keimzellen des zivilen Engagements. Da Syriens Revolution von Anfang an eine dezentrale, föderale Bewegung war, finden sich diese Keimzellen vor allem in der Provinz und in den Randbezirken der großen Städte. Sie bestehen aus vielen kleinen, örtlich begrenzten Initiativen, die zwar nicht das Regime in Damaskus stürzen können, dafür aber den Boden für eine pluralistische Zukunft des Landes bereiten. Für den Alltag der Menschen sind diese Projekte wichtiger als das, was die Nationale Koalition in Genf verhandelt oder der Weltsicherheitsrat in New York erörtert.

Umso tragischer, dass die zivilen Kräfte in Syrien neben dem Assad-Regime inzwischen zwei weitere Feinde haben. Die humanitäre Not der Menschen zwingt sie, ihre Energie auf das Schmuggeln von Lebensmitteln und die Versorgung von Kranken und Verletzten zu verwenden. Und die Schreckensherrschaft von ISIL in Teilen des Nordostens zwingt sie, unterzutauchen oder das Land vorübergehend zu verlassen.

Im Visier der Extremisten

So ist es zum Beispiel den Aktivisten von Manbij ergangen, einer Stadt nordöstlich von Aleppo, in der es einen Revolutionsrat, eine freie Handelskammer und mehrere Zeitungen gab. Die gleichen Leute, die dort ein Zentrum für Zivilgesellschaft aufbauten und zwei Kulturfestivals organisierten, stehen seit der Machtübernahme durch ISIL im Januar 2014 auf deren Fahndungsliste. Da ihnen die Extremisten auf Facebook mit Enthauptung drohen, sind sie geflohen.

Zuvor hatten sich die Bewohner von Manbij mit den unterschiedlichsten Rebelleneinheiten arrangiert. Auch mit den Kämpfern der Islamischen Front, einem landesweiten Zusammenschluss lokal verwurzelter Islamistengruppen, erzählt Jamil, ein syrischer Regisseur. Er hat mit seinem satirischen Fingerpuppentheater "Top Goon" an beiden Festivals teilgenommen und war zuletzt im Dezember 2013 in Manbij. Der Gemeinschaftssinn unter den Bewohnern, der Hunger nach Kunst, die Lust zur politischen Diskussion und die Toleranz im Alltag seien damals noch spürbar gewesen, sagt Jamil.

Selbst ihn als Drusen und – noch schlimmer – als Säkularen hätten die konservativen Islamisten der Stadt ins Herz geschlossen, erzählt er und erinnert sich an den Abschied eines ziemlich langbärtigen Kämpfers. "Du glaubst zwar nicht an Gott, aber ich mag dich trotzdem." Jetzt befürchtet der Regisseur, dass das zivile Engagement und die tolerante Grundstimmung in Manbij den brutalen Methoden von ISIL zum Opfer fallen.

Willkürlich herrschende Gotteskrieger, dauerhafter Raketenbeschuss und systematisches Aushungern – wer in einem solchen Klima über Menschenrechte debattiert, Seminare zur Traumabewältigung abhält und Kriegsverbrechen dokumentiert, lässt sich auch in Friedenszeiten nicht mehr bevormunden.

Schon jetzt ist das politische Bewusstsein in Orten wie Kafranbel, Manbij und Erbin ausgeprägter als im Zentrum von Damaskus. Im Gegensatz zu Ländern wie Ägypten entsteht in Syrien freies Denken gerade nicht in der Hauptstadt.

Was auf den ersten Blick als Schwäche erscheinen mag – das Fehlen einer einheitlichen Demokratiebewegung – könnte langfristig von Vorteil sein. Denn für den Aufbau eines Rechtsstaates in einem ethnisch wie konfessionell so vielfältigem Land wie Syrien braucht es überall kritische, selbstbewusste und tolerante Bürger.

Kristin Helberg

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Die Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2009 als freie Korrespondentin in Damaskus. Ihr Buch "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land" erschien 2014 im Herder Verlag.