Provokation und Gewalt

Was war Auslöser der neuen Spirale der Gewalt in Nahost? Liegt die Schuld hierfür allein bei der palästinensischen Hamas? Bettina Marx meldet in ihrem Kommentar Zweifel an und blickt auf die Vorgeschichte dieser Tage.

Von Bettina Marx

Fassungslos schaut die Welt auf die Ereignisse im Nahen Osten, auf diese neue Runde der Gewalt, die schon fast 200 Menschen den Tod gebracht und über 1.000 verletzt oder verstümmelt hat. Für europäische und amerikanische Politiker steht fest: die Hamas trägt die Schuld an der Eskalation. Sie hat durch den Raketenbeschuss israelischer Städte die Israelis so lange provoziert, bis denen nichts mehr übrig blieb, als zurückzuschlagen. Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vertritt diese Auffassung und verurteilt die Angriffe auf israelische Ortschaften.

Ursache der Gewalt ist nicht nur der Mord an den Teenagern

Doch ganz so einfach ist es nicht. Dem Ausbruch der Feindseligkeiten war eine ganze Kette von Ereignissen vorangegangen, die auch die israelische Regierung in keinem guten Licht dastehen lassen. Alles begann mit der Vereidigung der neu geschaffenen palästinensischen Einheitsregierung am 2. Juni. Sie sollte die jahrelange blutige Fehde zwischen Fatah und Hamas beenden und den palästinensischen Kampf um Selbstbestimmung stärken. Zu Israels Entsetzen signalisierten die USA und Europa ihre Bereitschaft, mit der aus Experten bestehenden Regierung zusammenzuarbeiten.

DW-Redakteurin und ARD-Korrespondentin Bettina Marx; Foto: DW
"Die Mehrheit der heutigen Bewohner des Gazastreifens ist unter 18 Jahre alt und hat die Hamas nicht gewählt. Trotzdem werden diese Menschen von Israel und der Welt zu einem Leben in Armut und Enge, in Not und Verzweiflung verurteilt", sagt Bettina Marx.

Als zehn Tage später in der Nähe von Hebron im besetzten Westjordanland drei jüdische Religionsschüler entführt wurden, sah Jerusalem seine Chance gekommen, die neue Regierung zu zerschlagen. Obwohl die israelischen Sicherheitskräfte von vornherein Anhaltspunkte dafür hatten, dass die Teenager unmittelbar nach ihrer Entführung getötet worden waren, verbreitete die Regierung die Version, die Jugendlichen seien noch am Leben und zu retten. Um sie zu finden, wurde eine großangelegte Suchaktion durchgeführt. Dabei wurden Hunderte von Hamas-Mitgliedern verhaftet, die Häuser der mutmaßlichen Attentäter zerstört und Razzien durchgeführt. Das Ziel war es, die Strukturen der Hamas im Westjordanland zu zerschlagen und damit die Regierung der nationalen Einheit zu torpedieren.

Israel bezog Gaza in die Vergeltung mit ein

Auch die Hamas im Gazastreifen wurde angegriffen. Am 29. Juni wurde ein Mitglied der Organisation durch einen Luftschlag getötet. Am nächsten Tag feuerte die Hamas Raketen auf Israel ab, die ersten seit der Waffenruhe von 2012. Damit war die Zeit der Ruhe an der Grenze zum Gazastreifen vorüber, die Gewalt eskalierte.

Doch selbst diese Kette der Ereignisse erzählt nicht die ganze Geschichte. Denn der Kern des Problems liegt in der Blockade des Gazastreifens: Fast zwei Millionen Palästinenser leben in diesem winzigen Gebiet am Mittelmeer, abgeriegelt von der Welt, ohne Aussicht auf eine menschenwürdige Zukunft. Die Mehrheit der heutigen Bewohner des Gazastreifens ist unter 18 Jahre alt und hat die Hamas nicht gewählt. Trotzdem werden diese Menschen von Israel und der Welt zu einem Leben in Armut und Enge, in Not und Verzweiflung verurteilt. Und solange das nicht geändert wird, kommt der Nahe Osten nicht zur Ruhe.

Bettina Marx

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Bettina Marx war langjährige Nahostkorrespondentin der ARD. 2009 erschien ihr Buch "Gaza. Land ohne Hoffnung" im Verlag Zweitausendundeins.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de