Leugnung des Genozids an Armeniern bald Straftat?

In der französischen Nationalversammlung wurde mit Mehrheit ein neuer Gesetzentwurf angenommen, der die Verleugnung des Genozids an den Armeniern in der Türkei unter Strafe stellt. Bernhard Schmid mit Hintergründen

Applaus in der französischen Nationalversammlung nach Debatte um Gesetzesvorlage über Genozid an den Armeniern; Foto AP
Die Diskussion um die Gesetzesvorlage zum Genozid an den Armeniern in Frankreich steht im Schatten der Debatte um den möglichen EU-Beitritt der Türkei

​​106 Stimmen dafür, 19 dagegen, unzählige Abwesende unter den 577 Abgeordneten: Das war das Ergebnis der Abstimmung vom 12. Oktober 2006 in der französischen Nationalversammlung.

Die oppositionellen Sozialdemokraten hatten beantragt, per Gesetz die Leugnung des Völkermords an den Armeniern in der Türkei in den Jahren 1915 bis 1917 unter Strafe zu stellen.

Wenn der Gesetzestext verabschiedet wird, steht auf das Abstreiten des Völkermords in Frankreich dasselbe Strafmaß wie auf die Leugnung des Holocaust – bis zu ein Jahr Haft und 45.000 Euro Geldstrafe.

Genozid – historische Realität?

Frankreich hat durch die Verabschiedung eines Gesetzes am 29. Januar 2001 den Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg staatsoffiziell als historische Realität anerkannt. Zum Streit darum kam es jedoch letztlich infolge des anhaltenden Drucks durch türkische Nationalisten.

So demonstrierten im vergangenen März in Lyon rund 3000 türkische Einwanderer und Franzosen türkischer Herkunft, angeführt von rechtsextremen Kräften, gegen die Einweihung eines Denkmals in dieser Stadt zum Andenken an die Opfer des Massakers von 1915.

Dass es noch eines weiteren Gesetzes bedurfte, um aus dem Akt der expliziten Anerkennung des Genozids nun auch strafrechtliche Konsequenzen abzuleiten – dieser Gedanke blieb in Frankreich heftig umstritten. Die oppositionelle Sozialistische Partei beantragte ein solches im Frühjahr 2006.

EU-Politik als Leitmotiv

Aber Präsident Jacques Chirac und der ihm nahe stehende Parlamentspräsident Jean-Louis Debré waren dagegen. Denn Chirac tritt, im Gegensatz zu den anderen politischen Fraktionen, für einen Beitritt der Türkei zur EU ein; und er befürchtete hierbei Komplikationen.

Derjenige Teil der Sozialisten, der hinter dem Gesetzentwurf stand, ließ jedoch nicht locker. Der Stein kam unter anderem schließlich dadurch ins Rollen, dass sich nun auch ein Teil der politischen Rechten für die Vorlage zu erwärmen begann.

Am 24. Juli wandte sich der konservative französische Innenminister – und schärfste Rivale Chiracs –, Nicolas Sarkozy, mit einem Brief an den Koordinationsrat der armenischen Organisationen in Frankreich. Darin sprach sich Sarkozy für ein entsprechendes Gesetz aus.

Dass sich nun auch manche Konservative mit dem Vorhaben anzufreunden begannen, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass sie glauben, einer Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zusätzliche Steine in den Weg legen zu können. Nicolas Sarkozy hat sich wiederholt gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen.

Wahlkampf als Leitmotiv

Letztendlich stimmten sogar mehr Konservative als sozialistische Abgeordnete dem Gesetzentwurf aus den Reihen der Sozialisten zu.

49 Parlamentarier der konservativen Regierungspartei UMP und 40 der Sozialisten votierten für die Annahme des Entwurfs. Die übrigen Stimmen kamen von der christdemokratischen "Union pour la Démocratie Française" (UDF) und der kommunistischen Partei "Communiste Français" (PCF).

Türkische Demonstranten der linken Arbeiterpartei prottestieren in Istanbul gegen den neuen französischen Gesetzentwurf; Foto: AP
Trotz der Proteste in der Türkei versucht die Regierung in Ankara eher, die Wogen zu glätten, schreibt Bernhard Schmid

​​In französischen Tageszeitungen wie "Libération" wird gemutmaßt, das Votum, habe auch Züge eines wahltaktischen Manövers.

In Frankreich lebt die größte armenischstämmige Bevölkerungsgruppe im westlichen Ausland, da viele Armenier nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Schiffe bestiegen und in Marseille landeten.

Derzeit leben schätzungsweise 400.000 Armenier in Frankreich, vor allem im Raum Marseille, im Rhône-Tal und im Pariser Umland. Dagegen ist die Zahl der türkischen Einwanderer aus der Türkei wesentlich geringer.

Da sich vor allem die Abgeordneten aus den genannten Regionen besonders eifrig an der Abstimmung beteiligten, wollen manche Beobachter darin einen Zusammenhang mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr sehen.

Unmut am Bosporus

Trotz der Proteste in der Türkei versucht die Regierung in Ankara eher, die Wogen zu glätten. Sie hat erklärt, keine Wirtschaftssanktionen von staatlicher Seite verhängen zu wollen.

Ein Sprecher des Außenministeriums kündigte aber an, französische Konzerne könnten von Großaufträgen, wie dem Bau von Atomkraftwerken, ausgeschlossen werden.

Bei französischen Unternehmen, wie Renault, Peugeot, Thomson oder Alcatel, wurden am Tag nach dem Parlamentsvotum Krisensitzungen abgehalten. Aber die Wogen der Emotionen scheinen bei weitem nicht so hoch zu schlagen, wie anlässlich des Votums von 2001.

Möglicherweise droht bei all den mitschwingenden Kalkülen, die kritische Debatte und die Suche nach der historischen Wahrheit auf der Strecke zu bleiben.

Die linksliberalen französischen Zeitungen Libération und Le Monde zitierten auch die Stimmen von türkischen Intellektuellen und Historikern, die sich in der Türkei für die Anerkennung des Armeniergenozids, aber gegen das Gesetz in Frankreich einsetzen.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2006

Qantara.de

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