Die Wüstenkönigin

Sie war Archäologin, Agentin und Schlüsselfigur im Orient des Ersten Weltkriegs: Gertrude Bell. Über die mächtige britische Exzentrikerin, die den Irak erfand. Von Iris Mostegel

Von Iris Mostegel

Die Offizierin lächelte, als an diesem Tag des Jahres 1921 einundzwanzig Salutschüsse über dem Himmel Bagdads erhallten. "Lang lebe der König!" rief der Festredner. Araber, Juden und Christen im Palasthof applaudierten, und als der neue Herrscher die Offizierin in der vorderen Reihe erblickte, salutierte sie leicht.

Gertrude Bell war zufrieden. Die Krönung ihres Schützlings Faisal I. zum König des Irak war gleichzeitig die Krönung ihres Lebenswerks. "Aber auf eines kannst du dich verlassen", hatte sie davor ihrem Vater geschrieben, "ich werde mich nie mehr darauf einlassen, Könige zu machen; es ist eine zu große Strapaze."

Es waren historische Zeiten in diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, wo nach Zerfall des Osmanischen Reiches die Landkarte des Nahen Ostens neu gezeichnet wurde. Das siegreiche England und Frankreich teilten sich gemäß des Sykes-Picot Abkommens (1916) die arabische Konkursmasse des Osmanischen Reiches untereinander auf und schufen aus deren Provinzen neue Staaten. Und so wurden die osmanischen Vilayets Bagdad, Basra und Mosul zu einem zusammenhängenden Gebilde vereint, einem Gebilde, das ab 1921 Königreich Irak hieß und Gertrude Bell mit aus der Taufe gehoben hatte: Sie zog den Großteil seiner Grenzen und wählte dessen Herrscher.

Wüstentochter und Mutter der Gläubigen

Ungekrönte Königin des Irak. Wüstentochter. Mutter der Gläubigen. Das waren einige ihrer Beinamen und in diesem Jahr 1921 stand sie am Zenith ihrer Macht. Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Die Geschichte der Gertrude Bell und damit auch die Geschichte des Irak begann mit einem Tanzkleid.

London 1889. Bell ist 21 Jahre alt und auf der Suche nach einem Ehemann. Das Geschichte-Studium in Oxford hat die Tochter einer reichen Industriellenfamilie mit Auszeichnung abgeschlossen, jetzt tanzt sie sich durch Londons Ballsaison, dem Heiratsmarkt für die betuchte Jugend.

Undatierte Aufnahme von Faisal I. (1883-1933), der 1921 mit britischer Hilfe zum König von Irak gewählt wurde; Foto: dpa
Gertrude Bells Favorit und Schützling: Die Krönung Faisal I. zum König des Irak war die Krönung ihres Lebenswerks. Faisal I. (1883-1933) wurde 1921 mit britischer Hilfe zum König gewählt.

Als sie aber nach drei Jahren noch immer niemanden gefunden hat, beginnt sie zu reisen und ungewöhnlichen Beschäftigungen nachzugehen, etwa als Alpinistin in der Schweiz (die 2.633 Meter hohe Gertrudspitze im Berner Oberland trägt ihren Namen).

Doch noch mehr fesselt sie die Wüste. Bei einer Reise nach Persien hatte Bell bereits 1892 ihre Leidenschaft für den Orient entdeckt. Sie beginnt Arabisch zu lernen, studiert Archäologie, unternimmt ihre erste Forschungsexpedition durch die Wüste Syriens.

Das britische Empire in Bedrängnis

Fasziniert von der fremden Welt taucht die polyglotte Rothaarige mit ihren acht Sprachen immer tiefer in sie ein; über Jahre hinweg. Bis sie an einem Novembertag 1915 ein Telegramm erhält – das britische Empire braucht sie. Es ist der Erste Weltkrieg.

England steht im Kampf gegen das mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündete Osmanische Reich unter Druck. Zuerst die Niederlage 1915 in Gallipoli und wenig später eine weitere in Kut al-Amara haben die Briten in Bedrängnis gebracht. Nun soll ein bereits länger in geheimdiplomatischen Gängen herumschwirrender Plan die Wende bringen: Man will die arabischen Stämme als Verbündete gewinnen und sie zu einer Revolte gegen die Türken anstiften. Doch dazu benötigt man entscheidende Informationen:

Welche Stämme sind den Engländern wohlgesonnen? Wer die potenziellen Querulanten? Nur eine Handvoll Engländer hat die Antworten und Bell gehört zu ihnen. Tausende Meilen war sie auf Kamelen durch die Wüsten Arabiens gereist, hatte mit Beduinensheikhs Brot und Salz als Zeichen der Freundschaft geteilt, stets ihren politischen Meinungen gelauscht.

Mehr Araberin als Britin

"Sie ist zwar nur eine Frau", meinte einmal ein Stammesfürst, "aber eine mächtige und eine tapfere." Die Einheimischen vertrauten der Exotin mit den grünen Augen, sahen in ihr mehr Araberin als Britin.

Am Morgen des 3. März 1916 läuft ein britischer Truppentransporter im Hafen von Basra in Südmesopotamien ein. Eine Frau steigt auf den Kai, mit der einen Hand hält sie ihren langen Rock, mit der anderen den Hut. Es ist Gertrude Bell. Nach einem kurzen Einsatz für das Geheimdienstbüro in Kairo, war "die bemerkenswert kluge Frau mit dem Gehirn eines Mannes" vom Vizekönig der britischen Kronkolonie Indien nach Basra abkommandiert worden.

Britische Delegation in Kairo zu Besuch bei den Pyramiden in Gizeh am 20. März 1921. u.a. Clementine Churchill, Winston Churchill, Gertrude Bell und T.E. Lawrence; Foto: © Liddell Hart Center for Military Archives, King's College, London
Architekten für eine Neuordnung der arabischen Welt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs: Britische Delegation in Kairo zu Besuch bei den Pyramiden in Gizeh am 20. März 1921 - u.a. Clementine Churchill, Winston Churchill, Gertrude Bell und T.E. Lawrence

Sie macht sich umgehend an die Arbeit: zeichnet Karten, die der Armee den Vormarsch nach Bagdad weisen sollen, erarbeitet Profile der Beduinenstämme und spielt ihre Beziehungen zu deren Führern aus, um sie von einer Allianz mit England zu überzeugen.

Major Miss Bell

Auf einmal ist Bells Wissen also überaus gefragt, ihr steiler Aufstieg hat begonnen: Zunächst als erster weiblicher Geheimdienstoffizier des britischen Militärs ("Major Miss Bell"), wo sie vor allem wegen ihrer Kenntnisse der Region und ihrer Position als Vertraute von arabischen Wüstensheikhs gebraucht wird. Und danach, ab 1917, als Orientsekretärin, wo sie das politische Gerüst des künftigen Staats Irak mitentwerfen wird. Denn neben ihrem Fachwissen ist es ihre politische Scharfsinnigkeit, die in London für Aufsehen sorgt; wo andere nur das Detail sehen, sieht sie (oft) das große Ganze.

Nur: Gertrude Bell hat ein Problem. Sie irritiert. Vor allem die Generäle vor Ort. Viele fühlen sich von ihrem Intellekt und dem Selbstbewusstsein in die Ecke gedrängt, etwa wenn sie einen Offizier vor versammelter Runde mit "Du kleiner Wichtel!" herunterputzt. Retourkutschen folgen. Ein Kollege spricht von "grenzenloser Selbstgefälligkeit", der Diplomat Mark Sykes, britischer Hauptverhandler des Sykes-Picot Abkommen, beschimpfte sie bereits Jahre davor als einen "doof herumschnatternden, eingebildeten Windbeutel".

Doch zur Eskalation führten Bells politische Ansichten: Sie hatte sich zu einer glühenden Verfechterin arabischer Selbstbestimmung entwickelt, dies zu einer Zeit, in der ihre britischen Kollegen die Einheimischen noch immer oft abfällig als Frocks ("Kittel") bezeichneten.

Ein moderner Irak als Vorbild für ganz Arabien

Man beginnt gegen Bell zu intrigieren, schließt sie aus, hält sie kurz. Doch sie würde sich für ihre "Überzeugungen ans Kreuz schlagen lassen", ja noch mehr: Längst haben ihre Visionen vom künftigen Irak Konturen angenommen. Einen toleranten, modernen Vorzeigestaat will sie schaffen, einen, der als Vorbild für ganz Arabien dient - wenngleich unter der Anleitung Englands, sprich: ihr selbst. Denn wiewohl sie stets für arabische Sache agierte, letztendlich blieb sie Britin, die den Interessen ihrer Heimat diente und in Mesopotamien hieß das Interesse (vor allem) Öl.

Ein Mörsergeschütz in dem von britischen und französischen Truppen besetzten Fort Seddil-Bahr im türkischen Gallipoli, aufgenommen 1915, Foto: picture-alliance/bildarchiv
Das britische Empire in Bedrängnis: Im Ersten Weltkrieg steht England im Kampf gegen das mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündete Osmanische Reich unter Druck. Zuerst die Niederlage 1915 in Gallipoli und wenig später eine weitere in Kut al-Amara haben die Briten in Bedrängnis gebracht.

Und dennoch: Trotz der Querelen in ihrer Arbeit, blüht Bell in Bagdad auf – dort, wo sie seit 1917 lebt: Sie liebt die Ausritte mit dem Pferd, die Picknicke unter Dattelpalmen mit ihrem Vertrauten, dem Obst- und Gemüsebauer Hadschi Nadschi, die stundenlangen Unterhaltungen mit Bazarhändlern, von denen sie bei vielen Zigaretten und süßem Tee die neuesten Gerüchte des Landes erfährt, aber sie liebt auch ihe Rolle als einflussreiche Gastgeberin der P.S.A.s, den "Pleasant Sunday Afternoon(s)"-Gartenpartys in ihrem Haus, wo sie mit den Mächtigen des Landes politische Entwicklungen erörtert und damit beeindruckt, wie sie in der einen Minute komplexe Stammesfehden analysiert, um in der nächsten über aktuelle Modetänze aus England zu parlieren, oder darüber aus wievielen Knoten pro Zoll der perfekte Perserteppich geknüpft zu sein hat. Ihre zwei unglücklichen Beziehungen aus längst vergangenen Zeiten, an denen sie einst fast zerbrochen wäre, scheint sie zu vergessen.

"Lang lebe die arabische Regierung!"

Dann zog der Herbst 1920 über Bagdad und auf einmal geht alles ganz schnell. Ausgelöst durch einen Aufstand der Iraker beschließt die britische Mandatsmacht, das Land in die längst versprochene Selbstverwaltung überzuführen. "Lang lebe die arabische Regierung! Sie wird es noch immer 1.000 Mal besser machen als wir", jubiliert die erfreute Bell. Eine einheimische Regierung wurde gebildet, der Premier ernannt, das Wahlrecht entwickelt.

Nur noch ein Herrscher fehlte. Für Bell freilich längst klar, wer "die absolut erste Wahl" - Faisal, der 36-jährige Sohn des Scherifen von Mekka und Anführer der arabischen Revolte gegen die Türken. In ihren Augen war er der Fähigste, das fragile Land mit seinen Schiiten, Sunniten, Kurden, Christen und Juden zusammenzuhalten. Und Bell setzte sich durch: Zuerst auf der Kairo-Konferenz 1921 bei Kolonialsekretär Churchill, dann in mehrmonatiger Überzeugungsarbeit bei den Irakern selbst. Ein Referendum bestätigte Faisal mit 96 Prozent. Die Vorbereitungen für die Krönungszeremonie begannen.

Bell war erschöpft, aber zufrieden, glaubte, das Beste für den Irak getan zu haben, nicht ahnend, dass sie in all den Jahren mit Entscheidungen und Mitentscheidungen bereits den Samen für blutige Konflikte der Jetzt-Zeit gesät hatte. Etwa die von Beginn an bewusst institutionalisierte politische Marginalisierung der Schiiten zugunsten der Sunniten, oder die (ölreiche) Provinz Mosul mit ihren Kurden in den Irak zu integrieren.

Schwindender Einfluss

Am 23. August 1921 um sechs Uhr morgens ruft ein Festredner "Lang lebe der König!", 21 Salutschüsse ertönen über Bagdad, die Kapelle spielt "God Save the King". Noch fehlt dem Staat seine Hymne, und auch die endgültigen Grenzen. Es wird eine von Bells letzten großen Aufgaben sein, die sie mit den Worten "Ich habe einen nutzbringenden Morgen im Büro verbracht, die südliche Wüstengrenze des Irak zu ziehen" abschließt. Doch dann schwindet ihr Einfluss, immer seltener wird sie gebraucht. Und irgendwann ist ihre Zeit vorbei.

Bell vereinsamt, wird schwermütig. Ihre wiederaufgenommene Arbeit als Archäologin – ein schaler Ersatz für die einstige Macht. Als 54-Jährige verliebte sich die grauhaarige Major Miss Bell ein drittes und letztes Mal; aber scheitert erneut.

Am Abend des 11. Juli 1926 bittet Bell das Dienstmädchen, sie am nächsten Morgen um sechs Uhr zu wecken. Bell geht zu Bett. Und wacht nicht mehr auf. Auf ihrem Nachttisch ein Fläschchen Schlaftabletten, sie hatte eine Zusatzdosis genommen. Absichtlich? Das wurde nie geklärt. Zwei Tage vor ihrem 58. Geburtstag war sie für immer eingeschlafen und ruht bis heute dort, wo sie es sich gewünscht hatte: in irakischem Boden. Einem Land, für das sie so Großes vorgehabt hatte.

Iris Mostegel

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