Zwischen Terror und Ordnungszerfall

Desinteressierte Großmächte und alte Rivalitäten: Der Megatrend im heutigen Nahen und Mittleren Osten ist der Zerfall der regionalen Ordnung. Eine Analyse von Volker Perthes

Von Volker Perthes

Niemand kann heute voraussehen, wie der Nahe und Mittlere Osten in fünf oder zehn Jahren aussehen werden. Bestenfalls können wir Trends identifizieren, die heute wirken und somit auch den Rahmen für die nähere Zukunft bestimmen – selbst dann, wenn diese sich früher oder später verändern oder wenn sie gebrochen werden.

Der Megatrend im heutigen Nahen und Mittleren Osten ist der Zerfall der regionalen Ordnung – ohne dass jemand da ist, der sie wieder zusammenbauen würde: Die internationalen Großmächte dieser Tage bereiten eben kein neues "Sykes-Picot" vor – ein von außen definiertes System von Staaten und Grenzen, wie es Mark Sykes, ein britischer, und François Georges-Picot, ein französischer Diplomat 1916 unter sich aushandelten. Und die regionalen Akteure scheinen weder bereit noch in der Lage zu sein, eine Art nahöstlichen Wiener Kongress zusammenzurufen, um sich über ihre eigenen Ordnungsvorstellungen zu verständigen.

Der Raum zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf ist schon heute in vieler Hinsicht nicht mehr der Nahe Osten, wie wir ihn kennen – oder zu kennen glaubten. Das gilt für die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Herrschaftseliten, für die innere Verfasstheit der Staaten, nicht zuletzt aber für die Kräfteverhältnisse zwischen den Mächten innerhalb der Region. Fünf geopolitische Trends scheinen dabei besonders relevant zu sein:

Abkehr statt Intervention

Erstens: Internationale Spieler versuchen, sich herauszuhalten. Die Vereinigten Staaten, die EU und ihre Mitgliedstaaten, Russland, China und andere werden weiterhin wesentliche Interessen in der Region zu wahren suchen, werden Partner unterstützen oder ertüchtigen, und wo möglich, Konflikte zwischen und mit regionalen Parteien zu lösen versuchen. Aber – und dies zeigt selbst die US-geführte "Koalition" gegen den sogenannten Islamischen Staat in ihrer Begrenzung auf Luftschläge, Ausrüstungshilfe und Training – sie haben weder Interesse noch Intention, Strukturveränderungen in den Ländern der Region selbst auf den Weg zu bringen oder gar politische Ergebnisse zu bestimmen. In dieser Hinsicht haben die USA aus dem Irak, EU-Europäer und Russen aus Afghanistan gelernt.

 Übergabe der Sicherheitsverantwortung in Südwest-Afghanistan an afghanische Truppeneinheiten in Camp Bastion-Leatherneck; Foto: picture-alliance/dpa/MOD/Sergeant Obi Igbo
Abzug auf Raten: Der Kampfeinsatz der Nato-Truppe Isaf endete zum Jahreswechsel nach 13 Jahren. Er wurde abgelöst durch eine Beratungs- und Ausbildungsmission namens "Resolute Support" (Entschlossene Unterstützung), für die nur noch 12.000 ausländische Soldaten am Hindukusch bleiben sollen, unter ihnen knapp 9.000 Amerikaner und bis zu 850 Deutsche.

Zweitens: Machtbalancen verschieben sich, haltbare Allianzen bleiben aus. So sind Syrien und der Irak erstmals gleichzeitig keine aktiven Spieler mehr; die beiden Länder bilden heute vielmehr den Raum, in dem auch andere ihre politischen, ideologischen und konfessionellen Konflikte austragen. Ägypten ist mit sich selbst beschäftigt. Saudi-Arabien und Iran sind nicht die einzigen, aber die dominierenden Antagonisten in der Region geworden; beide haben sich bislang aber als unfähig oder unwillig erwiesen, zu Protagonisten eines regionalen Mächtekonzerts zu werden.

Ohne eine Verständigung zwischen Riad und Teheran ist aber keine regionale Entspannung und auch kein Ende des Krieges in Syrien abzusehen. Die meisten Staaten der Region betrachten den sogenannten Islamischen Staat als ernste Bedrohung. Selbst eine so massive Herausforderung trägt aber offenbar nicht dazu bei, Rivalitäten zwischen diesen Staaten zu überwinden. Im Nahen Osten ist der Feind meines Feindes oft weiterhin - mein Feind.

Von der Zweistaatenlösung zur Einstaatenrealität

Drittens: Der israelisch-palästinensische Konflikt verliert an Bedeutung für die Region, aber nicht für Israelis und Palästinenser. Palästina ist heute nicht mehr das Thema, mit dem sich die Menschen im Rest der Region mobilisieren lassen. Die Bürger der einzelnen Staaten gehen eher aus Protest gegen die eigene Regierung auf die Straße. Der israelisch-palästinensische Konflikt bleibt aber virulent, neue Gewaltausbrüche scheinen wahrscheinlicher zu sein als ein diplomatischer Durchbruch. Israels Stärke kann dabei eine trügerische Form der Selbstsicherheit fördern und dazu beitragen, dass auch der nächste amerikanische Vermittlungsversuch verpufft, Israel die vielleicht letzte Gelegenheit für eine Zweistaatenlösung verpasst und in eine Einstaatenrealität schlafwandelt.

Viertens: Bürgerkriege lassen sich nicht mehr eindämmen. In der arabischen Welt waren Bürgerkriege in den vergangenen Jahrzehnten weitestgehend innerhalb der Grenzen des jeweils betroffenen Staates geblieben –in Libanon, in Algerien, im Sudan, in Jemen oder im Irak. Das ist heute nicht mehr der Fall. Der Krieg in Syrien und der im Irak sind bereits über ihre Grenzen migriert; die gleiche Gefahr geht von den Bürgerkriegen in Libyen und Jemen aus. Gleichzeitig verlieren die Grenzen selbst an Relevanz, und die territorialen Konturen der nahöstlichen Staatenwelt verwischen zunehmend.

Karte Ausbreitung des IS im Irak und in Syrien; Quelle: DW
Ausweitung der Kampfzone: "Der IS ist nicht einfach eine weitere Terrororganisation, sondern muss, gerade wenn man ihn wirksam bekämpfen will, als ein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt verstanden werden: Es ist der Versuch, einen totalitären, expansiven Staat zu errichten, der keine Anerkennung durch die Staatengemeinschaft sucht, auch keinen Antrag auf Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen stellen wird, sondern die regionale und die internationale Ordnung als solche ablehnt", schreibt Perthes.

Ein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt

Fünftens: Neue quasi-souveräne politisch-territoriale Einheiten entstehen. Das gilt nicht nur für die irakisch-kurdische Region, die die internationale Staatengemeinschaft in vieler Hinsicht schon wie einen Staat behandelt, oder für die kurdischen Kantone in Syrien, sondern auch für den sogenannten Islamischen Staat (IS).

Der IS ist nicht einfach eine weitere Terrororganisation, sondern muss, gerade wenn man ihn wirksam bekämpfen will, als ein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt verstanden werden: Es ist der Versuch, einen totalitären, expansiven Staat zu errichten, der – anders als die kurdische Regionalregierung in Erbil, die syrisch-kurdischen Kantone oder die palästinensische Autorität – keine Anerkennung durch die Staatengemeinschaft sucht, auch keinen Antrag auf Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen stellen wird, sondern die regionale und die internationale Ordnung als solche ablehnt.

Die US-geführte "Koalition" gegen den IS hat dessen Expansion zunächst gestoppt. Der IS wird aber eine militärische, politische und ideologische Herausforderung bleiben, solange keine glaubwürdigen, inklusiven Regierungen in Bagdad und Damaskus zustande kommen und solange es kein überzeugendes politisch-theologisches Alternativangebot aus Saudi-Arabien gibt.

Dessen wahhabitische Auslegung des Islam bildet weiterhin die ideologische Inspirationsquelle des IS und anderer Dschihadisten. Der IS wird auch solange gefördert, solange der Hegemonialkonflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran die konfessionelle Polarisierung in der Gesamtregion weiter anfeuert.

Nach dem Tod von König Abdullah regiert in Riad seit Januar dessen Bruder Salman. Prinzipiell bietet so ein Führungswechsel auch die Chance, neue Akzente in den Beziehungen zu den Nachbarn zu setzen. Wahrscheinlich ist allerdings, dass die neue Führung zunächst einmal von äußeren und – nicht zuletzt – inneren Rivalen getestet wird. Und dies ist in der Regel keine gute Grundlage für mutige ideologische oder außenpolitische Initiativen.

Volker Perthes

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